Einkreisung eines problematischen Begriffs
Mit „Die Heimat“, dem neunten Band der Reihe, nähert sich Andreas Maiers literarisches Langzeitprojekt „Ortsumgehung“ langsam seinem Abschluss
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAn elf Bände hatte er einmal gedacht – und daran hält Andreas Maier offensichtlich fest. Was vor gut dreizehn Jahren mit Das Zimmer begann, hat nun mit Die Heimat seine neunte Wegmarke erreicht. Zwei verbleiben noch. Wahrscheinlich die schwierigsten. Aber ein Ende ist absehbar. Was dann in den Bücherregalen von Maiers Leserinnen und Lesern stehen wird, ist ein ähnliches Mammut-Unterfangen wie das auf einen Band mehr angelegte Romanprojekt seines großen Vorbilds Peter Kurzeck (1943 – 2013) mit dem Titel Das alte Jahrhundert. Wer will, darf wohl in die elf Bände Maiers gegenüber den zwölf autobiographisch angelegten Romanen Kurzecks – von denen bis dato acht vorliegen – einen kleinen literarischen Kotau des Schülers vor seinem Lehrer hineininterpretieren, auch wenn das nicht unbedingt in der Absicht des Ersteren gelegen haben sollte.
In konzentrischen Kreisen hat sich Andreas Maier aus dem Zimmer seines geistig behinderten Onkels J., das dem Kind Ort des Schreckens bedeutete, dem Schriftsteller späterhin Schreibklause und Erinnerungsausgangspunkt in einem war, herausgearbeitet. Über Haus, Straße, Ort und Kreis landete er in Band 6 schließlich in der Frankfurter Universität und versicherte sich, ehe er in die Städte seines Lebens ausflog, noch einmal seiner Familie, die nun allerdings in einem Licht erschien, das vieles von dem, was er in den ersten Bänden erzählt hatte, Lügen strafte. Nun geht es nach den Städten aus dem Band von 2021 scheinbar wieder einen Schritt zurück – ins Nahe, Enge, Vertraute.
Aber was heißt „Heimat“ eigentlich für einen, für den der Grund und Boden, auf dem er inmitten seiner Familie aufwuchs, mit dem hinzugewonnenen Wissen, dass diese feste Basis seines Seins einst offenbar mit unrechten Mitteln erworben wurde, zunehmend fragwürdiger wurde. „Heimat ist ein schwarzer Begriff“, heißt es gleich zu Beginn des Romans. Und in einem Cicero-Artikel, der sich mit dem Heimat-Begriff auseinandersetzte, betonte Andreas Maier bereits vor dem Erscheinen seines Buchs: „Heimat ist eine gewaltige Schublade. Wer da hineingerät, hat verloren.“ Die Schlussfolgerung daraus war stringent: „Ich werde den Teufel tun, jemals den Begriff ‚Heimat‘ inhaltlich zu füllen.“ Was zunächst darauf hinzudeuten scheint, dass sich der in einem gewissen Sinne durchaus als „Heimatdichter“ fühlende Maier wohl nicht nur mit dem Begriff, sondern auch mit dem Buch, über das er diesen Begriff als Titel setzte, schwertat.
Sieht man sich den Text an, scheint freilich das Gegenteil der Fall. Denn indem er sich konsequent dem, was er die „Heimatlüge“ nennt, verweigert – „Heimatlüge: Herstellen eines nicht mehr existenten, vergangenen Zustands, als gäbe es ihn noch“, heißt es in dem erwähnten Cicero-Text –, gründet sein Roman auf einem Begriff von Heimat, in den alles integriert wurde, was einem naiven, die Widersprüche gern ausblendenden Umgang mit dem Gewesenen widerspricht.
Erneut kommt Maier auf den schon in seinem Roman Die Familie eine tragende Rolle spielenden Fakt zurück, dass das Friedberger Grundstück, auf dem er und seine beiden Geschwister ihre Kindheit verbrachten, widerrechtlich in den Besitz der Familie gekommen war. Ursprünglich nämlich war sein Besitzer einer jener jüdischen Mitbürger, über deren Schicksal nach dem Ende des Nazi-Regimes weiterhin Stillschweigen herrschte: „Wir sind die Kinder der Schweigekinder“, heißt es deshalb, einen Satz, der schon in Die Familie gefallen war, aufgreifend. Und Maier ergänzt:
In einem Land, das sich rund um die Uhr allumfassend und permanent mit dem Nationalsozialismus und Hitler und Stalingrad und Weiße Rose und Stauffenberg und Wannsee und Führerbunker bebildert, weiß zumindest in Friedberg in der Wetterau keiner, wo die Ausgetilgten in der Stadt waren, saßen, wohnten.
Diese Erkenntnis immer im Hintergrund, nähert sich der Roman in vier Teilen, die alle je ein Jahrzehnt zwischen den 1970er und den Nuller-Jahren im Fokus haben, und mit der festen Absicht, „sich nicht mit Heimatkitsch ins Gesicht [zu] lügen“, wie es in dem Cicero-Artikel heißt, der Vergangenheitsreproduktion aus der Sicht seines Erzählers. Steht in den frühen 1970er Jahren für diesen noch die Tatsache im Mittelpunkt, dass der Heimat-Begriff vor allem im Zusammenhang mit den „Heimatvertriebenen“ Verwendung findet, sich also eigentlich auf Fremde bezieht, „die zwar in unserer Stadt wohnten, aber nicht von dort stammten“, obwohl sie die gleiche Sprache sprachen und auch habituell nicht von den Bad Nauheimern und Friedbergern zu unterscheiden waren, nimmt das Andersartige gegen Ende des Jahrzehnts, in dem das Maiersche Erzähl-Ich die Grundschule in Bad Nauheim besucht, deutlich bedrohlichere Züge an. Es öffnen die ersten italienischen und türkischen Gaststätten – und was sich bisher in geschlossenen Räumen und Hinterhöfen abspielte, erobert sich mit den Zugezogenen nun eine neue Öffentlichkeit: die Straßen und Plätze.
Eine ganze Zeit lang schlägt den Neubürgern denn auch noch Furcht entgegen. Ob es sich nicht um feindliche Absichten handelt, mit denen sie „über die Alpen nach Deutschland gekommen waren“, ist für viele Einheimische keineswegs ausgemacht. Dass dagegen die US-amerikanische Fernsehserie Holocaust, die im Januar 1979 in einer synchronisierten Fassung von der ARD ausgestrahlt wurde, den Horror der eigenen Vergangenheit an vier Abenden in die deutschen Wohnzimmer trägt und daran erinnert, dass auch in der Wetterau einst Juden Tür an Tür mit ihren deutschen Mitbürgern lebten, lässt bei den Kindern Fragen aufkommen, über die Eltern, Großeltern und Lehrer lieber weiter schweigen würden.
Was letztlich dazu führt, dass sich die Heranwachsenden das Naziregime als ein dämonisches Reich des Bösen vorzustellen beginnen, dessen „größte metaphysische Unheilskraft“ von einem Mann ausging, der „schlimmer als der schwarze Mann“ war und mit einem „sagenumwobene[n] Buch“ die Saat des Teufels in die Welt brachte. Es nimmt deshalb nicht wunder, dass, wer solcherart aus der Vergangenheit einen Horrorfilm mit Märchenelementen destillierte, durchaus auch mit Wörtern wie „Gas, Gaskammer und Jude“ eine „Pausenhof-Erfolgsgeschichte“ zu machen imstande war.
Die 1980er dann entdämonisieren den „bösen Zauberer der Siebziger“. Er hat nun Dauerpräsenz in den Medien und entwickelt sich mit seinem „etwas wirren Blick“, den „unattraktive[n] ölige[n] Haaren“ und dem ständig sich hebenden rechten Arm zu einer „Spaßkarikatur“, die so wirkt, als würde sie Charlie Chaplins Anton Hynkel aus Der große Diktator (1940) kopieren und nicht umgekehrt. Wie anders es wirklich im Nazireich zuging, erfahren die geschockten Jugendlichen freilich spätestens, als ihnen im Gemeinschaftskundeunterricht der achten Klasse mit einem halbstündigen Dokumentarfilm die furchtbare Realität der Konzentrationslager vor Augen geführt wird.
Zwei Jahre später, inzwischen sechzehnjährig, ist man in Friedberg schon umfangen von einer „insgesamt linksutopischen Sozialatmosphäre“, verkehrt im Literaturcafé mit Exilanten aus aller Welt und versteht „Heimat“ als einen Begriff, der vor allem charakteristisch für die folkloristisch wirkenden diversen Vertriebenenverbände und deren Aktivitäten ist. Maiers Erzähl-Ich und seine Freunde wollen mit diesem „Unwort“ nichts zu tun haben. Mit Sympathien für die RAF – „die einzelnen RAF-Mitglieder [genossen] bei uns eher noch ein positives, mindestens widerständiges Ansehen, der Staat ein schlechtes“ – und der Auflehnung gegen Eltern und Lehrer, die die Contenance verloren und zu „Haßgeiferern“ wurden, fielen die Namen Baader, Meinhof oder Meins, bewegen sich die 1980er Jahre schließlich langsam auf jenen Punkt zu, an dem der erste himmelblaue Trabant in Friedberg auftaucht und Deutschland-Ost wie -West die Chance zu einem Neuanfang bekommen.
Doch auch das neue Deutschland der 1990er Jahre mit dem Heimat-Begriff in einen sinnstiftenden Zusammenhang zu bringen, fällt schwer. Denn über Jahre hinweg will aus dem wiedervereinigten Land kein großes Ganzes, das mit dem Wort „Heimat“ zu umfangen wäre, werden. Aus ersten Besuchen bei der ostdeutschen Verwandtschaft entwickelt sich die Einsicht: „Dieses Volk wird subversiv kämpfen gegen den vom Westen gekaperten Einheitsversuch. […] Langsam, blockierend und bewundernswert dröge.“ Doch vorerst hat man es in Sachsen, wo man die DDR-Verwandten auch zu Zeiten der deutschen Teilung gelegentlich besuchte, mit einem allgemeinen Abstieg zu tun, der die anfängliche Euphorie schnell ausbremst. Da sitzt Maiers Erzähler bereits an seinen ersten Büchern und schickt sich an, Schriftsteller zu werden.
Im hoffnungslosen Kampf um eine marode Brotschneidemaschine aus dem großelterlichen Haushalt – „Schon als Kind kam mir diese Maschine altmodisch vor.“ – symbolisiert sich im letzten Teil des Romans noch einmal der Umgang Maiers mit seiner und unser aller Vergangenheit. Nichts lässt sich wirklich ganz rekonstruieren, muss der sich um das formschöne Gerät Sorgende letzten Endes erkennen. Was bleibt, sind Erinnerungen, gebunden freilich immer an die Person des sich Erinnernden. Deshalb ist Andreas Maiers neunter Roman innerhalb seines Ortsumgehungs-Projektes vielleicht auch sein bisher subjektivster.
Dies wird zudem noch von dem Epilog des Buchs unterstrichen, in dem der Erzähler eine Begegnung mit ausländischen Bauarbeitern schildert, die mit der Fertigstellung der Umgehungsstraße um die Orte seiner Herkunft beschäftigt sind. Für sie, die Fremden, birgt die Gegend, in der sie „eine Zeitlang kaserniert“ ihr Brot verdienen, keinerlei Erinnerungspotential. Und er, der sich um Orientierung im einst Vertrauten müht, die alten Wege, auf denen er vor Jahrzehnten ging, aber nicht wiederfindet, läuft angesichts des ungewohnt Neuen erst einmal in die Irre. Für die Arbeiter stellt dieser hilflos über ihre Baustelle Stolpernde nur einen weiteren verrückten Einheimischen dar. Weder können sie ihn verstehen, noch ihm weiterhelfen. Dass er sein ganzes Leben lang „hier übers Feld gelaufen“ ist und das Vertrautsein mit diesem Stück Welt ihm nun fehlt, macht allein seine Tragik aus. Oder anders und noch einmal mit Andreas Maier ausgedrückt: „Heimat ist das, was ständig verloren geht.“
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