Der Körper als Kampfzone

Die beiden Lyrikerinnen Andra Schwarz und Iris Lilia Schmidt erkunden in ihren neuen Gedichtbänden den weiblichen Körper zwischen Versehrtheit und Ermächtigung

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vergleichende Gedichtbesprechungen sind eine zwiespältige Angelegenheit. Zum einen erlaubt ein unmittelbarer Vergleich zweier Lyrikbände einen kleinen Einblick in verschiedene oder eben gleiche Verfahrensweisen und im besten Fall können Tendenzen und Bezugsrahmen sichtbar werden, die vielleicht bei einer Einzelbetrachtung so nicht zu Tage getreten wären. Zum anderen wird aber auch einem Einzelband weitaus weniger Platz eingeräumt, als er vielleicht verdient hätte, wo doch gerade die Gattung Lyrik oft auf vergleichsweise wenig Raum sehr viel zu komprimieren versteht. Dass hier die aktuellen Gedichtbände, Tulpa von Andra Schwarz und Iris Lilia Schmidts An Lethes Ufer trotzdem mit- und gegeneinander gelesen werden, geschieht in der Hoffnung, im Vergleich neue Perspektiven zu eröffnen, ohne den Anspruch, dem Facettenreichtum und der Vielschichtigkeit der beiden Sammlungen hier gerecht werden zu können.

In Tulpa wandelt die Lyrikerin Andra Schwarz auf den Spuren von Ingeborg Bachmann und David Lynch und lotet Ausprägungen von Weiblichkeit zwischen Gewalt, Versehrtheit und Stärke aus, was sich auch in den anderen Zitatquellen des Bandes, Sylvia Plath sowie die südkoreanische Gegenwartslyrikerin Kim Hyesoon, andeutet. Schon im Paratext wird die intertextuelle Verankerung der versammelten Gedichte – Schwarz selbst nennt sie in der Nachbemerkung „Kapitel“ – klar: Der Titel Tulpa (ein Begriff ursprünglich aus dem Tibetischen Buddhismus, der in der Theosophie eine Arte Phantom bezeichnet, das durch Willenskraft erzeugt wird)  spielt bereits auf David Lynchs Twin Peaks an, in welchem Tulpas als eine Art Doppelgängerhüllen eine prominente Rolle spielen. Der andere große Bezugsrahmen, Ingeborg Bachmanns Malina, wird im den Gedichten vorangestellten Zitat eröffnet, wo bereits zentrale, immer wiederkehrende Motive der Sammlung wie Tiere, Traum und Tod angekündigt werden. Schnittpunkt der beiden Referenzen ist eine von der Figur des Vaters ausgehende, männliche Gewalt.

Zwei der Gedichte tragen direkte Zitate aus Twin Peaks als Titel und vor allem bei Three people had seen him, but not his body kann zunächst der Eindruck entstehen, es würden schlicht etliche Twin Peaks-Motive aneinandergereiht. Auf den zweiten Blick stellt man jedoch fest, dass die Gedichte sich die fremden Narrative der zitierten Künstlerinnen und Künstler insofern aneignen, als deren Wiedergabe über eine Sprache geschieht, die ein ganz eigenes Bild- und Wortmaterial entwickelt, vor allem, indem gewisse Wendungen wie Beschwörungsformeln stetig wiederholt werden. Einzelne Wörter oder Wortfolgen sind wie Pflöcke in die gesamte Sammlung eingeschlagen. Sie liefern Orientierung, markieren als Wegweiser, auf die man immer wieder aus unterschiedlichen Richtungen trifft, das Gelände. Sie stecken den Raum der Gedichte ab, zum Beispiel taucht der „Herrgottswinkel“ in einem Gedicht, in einem anderen variiert als „toter Winkel“ wieder auf, und auch etwa das Wort „Rappen“, das auffällt, weil es antiquiert wirkt, kommt in verschiedenen Gedichten vor.

Vieles spielt sich im Inneren ab, des lyrischen Ichs, ganz konkret in dessen Körper etwa in Limbus infantium, wo ein ungeborenes Kind als „höhlentier“ den Mutterleib bewohnt. Aber auch im Inneren der Texte selbst, sodass in diesen ausgesprochen düsteren, oft archaisch und mystisch anmutenden Gedichten ein eigner Sprachklang entwickelt wird, der sich über Rhythmus, Binnenreime oder ähnliche Lautfolgen vermittelt, etwa in The owls are not what they seem, wo es heißt: 

Das Linke [i.e. Auge], Sklave meiner Angst, rollt,
trollt sich, kommt mir abhanden, quillt
als Rattenschwanz aus meinem Mund,
halbiere ihn in Gedanken.

Fast meint man einen Film des Body-Horror-Genres als Gedicht vor sich zu haben.

Auch Tiere kehren immer wieder, als „Krafttiere“ oder Gefährten. Wölfe, Eulen, Spinnen, sogar eine dreiköpfige Hündin, Cerberus neu gedacht als Verkörperung des Innenlebens mit seinen – hier: ihren – drei Köpfen, als Ausprägungen von Angriff, Verteidigung und Angst:

Morgens steht sie vor der Tür, fletscht Zähne.
Das zweite Haupt treu ergeben, hält dagegen,
fürchtete sich das dritte, will Nähe, heult,

Aber so ganz geht das Bild nicht auf, auch das ein zentrales Merkmal von Tulpa: Die sprachlichen Bilder, die Metaphern und Symbole lassen sich selten widerspruchsfrei in eine Deutung überführen; es bleibt ein Rest, der sich sperrt. Sie entfalten ihre Wirkung, indem sie eine Atmosphäre der Angst und Bedrohung erzeugen, die sich rational nie ganz bannen lässt. Nicht nur die Zitate aus anderen Werken werden in einen neuen Kontext gesetzt, auch die eigenen sprachlichen Bilder stecken einen poetischen Kosmos ab, der durch Variation und Wiederholung fremd und vertraut, modern und gleichzeitig urtümlich wirkt.

Der Bezug auf die griechische Mythologie ist in Iris Lilia Schmidts Gedichtsammlung An Lethes Ufer schon im Titel offensichtlich. An den Ufern des Vergessens verortet Schmidt vor allem die Kindheit, und spätestens in Lethes Wasser wird klar, dass die mit der Kindheit verbundene Leichtigkeit, der Freiheitsdrang und die Freude im Erwachsenenalter irgendwann verloren gehen:

da aus des Lethes Wassern längst er trank,
so blaßt das Glück,
und wird ihm lau –
hört in der Seele auf zu sein

An Lethes Ufer kann vielleicht als ein Projekt gesehen werden, die Empfindungen der Kindheit vor dem Vergessen zu bewahren, nicht nur in den unter der Überschrift Kindsein zusammengefassten Gedichten, sondern fast im gesamten Band. Dabei wird Kindheit zwar oft als ein Sehnsuchtsort dargestellt, doch wird auch ein anderer, weniger naiver Blick nicht ausgeklammert. In Arkadien einst werden dem schäumenden „Sommer in / weiß und rosarot“ der Kindheit „die Triumphmärsche unserer / Großeltern“ an die Seite gestellt, „als heimlich / der Sommer sich bis an den Zaun / gewachsen durch den Stacheldraht / schlängelte wo Häftlinge pflückten / ausgehungertes Leben“. Kindheit ist bei Schmidt selten nur ein positiv besetzter Ort, sondern sie ist und war immer schon ein Ort der Angst, so unter anderem in der Gedichtgruppe Feuerspiegel, wo Schauermotive aus Märchen und Schlafliedern variiert werden. Gleich die ersten drei Gedichte warten mit einer Verfahrensweise auf, die sich in dem Band immer wieder findet, bei der Organisches transformiert, Objekte lebendig werden. Man kann sich an Motive aus aktuellen Horrorserien erinnert fühlen, wenn in Nordstadtrand der Verfall schon längst eingesetzt hat „und als Fadengeflecht der Pilz / sich die Häßlichkeit einwächst“ oder der Pendlerzug in Kleinstadtpendler konsequent als eine Art gefräßiges Tier beschrieben wird. Genauso mag man auch bei Schmidt an Body-Horror denken, wenn die Menschen in Passanten zu einer „amorphen Masse“, zu einem eigenen Organismus zu verschmelzen scheinen, wenn „aus Leibern / und Ellen, Knie und Hüften – / knicken und biegen die Genicke“. Dieses Imaginieren der Auflösung des Körpers findet sich auch unter eher positiven Vorzeichen in Sommerphantasie, wo der Körper zunächst in der Sommerhitze vielleicht noch im übertragenen Sinn zerrinnt, bis er im Verlauf des Gedichts tatsächlich zu der Wiese wird, auf der er liegt:

da beginnen die Flechten // die Kräuter

sich einzunisten unter deine Haut
(…) und dauert’s nicht lang da
metamorph dich einfügst in den Bewuchs
des Wiesengrundes –

In Feuer wird der Körper dagegen selbst verletzt, regelrecht geschunden, einer sich steigernden Autoaggression ausgesetzt, die gegen Ende mit „und stößt sich ein Messer in den Schoß / bis das Feuer in ihr lau geworden / daß sie seine Hände nicht mehr spürt“ ihren Höhepunkt erreicht.

Die beiden Themen Kindheit und Beschädigung des Körpers kulminieren in Saidas Schlaflied, das in die Gedichtgruppe Weltenklang eingeordnet ist, und insofern vor allem eine politische Dimension besitzt, als darin die Praxis des Mästens von Kindsbräuten in Mauretanien angeprangert wird.

Der Körper, zumal der weibliche, ist in beiden Sammlungen zentral, durchaus auch als ein Ort der Lust, aber und vor allem als einer des Schmerzes, dem Wunden zugefügt werden, der sich verändert, in dem es quillt und wuchert. In diesem thematischen Umfeld finden sich bei beiden Autorinnen auch einzelne Motive, etwa das des Feuers, bei Andra Schwarz in Form von „Fire walk with me“ als Lynch-Zitat, bei Schmidt wird eine Gedichtgruppe, wie erwähnt, als Feuerspiegel zusammengefasst, von denen eines Alp heißt, und auch bei Andra Schwarz findet sich ein Gedicht mit dem Titel Alb.

Gerade weil es zwischen beiden Autorinnen und ihren Gedichten so viel Gemeinsames gibt, auch wenn man dabei verkürzen muss, und manches unberücksichtigt bleibt, fällt auf: So ähnlich der Stoff zum Teil sein mag, so unterschiedlich sind doch die poetischen Verfahrensweisen.

Schmidt geht weitaus dezenter mit Zitaten um, konkrete Bezüge und Verweise etwa auf die Entwicklungspsychologin Jane Loevinger oder bereits im Titel von Spieglein, Spieglein auf das Märchen Schneewittchen, sind eher eine Seltenheit, während man in Tulpa an allen Ecken und Enden über Verweise und Zitate stolpert, was im Grunde in der Tradition von Popliteratur steht. Als Ganzes ist Schwarz‘ Sammlung vielleicht homogener, atmosphärisch dichter, die Texte verschränkter. Damit aber auch widerspenstiger.

Schmidts An Lethes Ufer ist der konventionellere Band, was zum einen an der Gesamtstruktur der Gedichtsammlung liegt, bei der zwar die Texte nach Themen gruppiert werden, und bestimmte zentrale Motive wie Kindheit oder der Körper in allen Gruppen vorkommen, jedes Gedicht aber als abgeschlossene Einheit gelesen werden kann, die in der Regel auf eine Schlusspointe ausgelegt ist, besonders gelungen gleich im ersten Gedicht Passanten. Gerade aber indem Tulpa und An Lethes Ufer so verschieden mit ähnlichen Stoffen umgehen, geben sie einen Eindruck von verschiedenen Ausprägungen eines weiblichen Blicks in der gegenwärtigen Lyrik.

Titelbild

Andra Schwarz: Tulpa. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2023.
80 Seiten , 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305208

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Iris Lilia Schmidt: An Lethes Ufer. Gedichte.
Edition Noack & Block, Berlin 2023.
94 Seiten , 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783868131666

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