Der lange Abschied
Olga Martynova erkundet in „Gespräch über die Trauer“ die Dimensionen des Kummers
Von Thorsten Paprotny
Nach dem Tod ihres Ehemannes Oleg Jurjew im Jahr 2018 begann die in Sibirien geborene und seit 1991 in Deutschland lebende Schriftstellerin mit Notaten über ihre eigenen Erfahrungen im Umgang mit der Endlichkeit. Formen philosophischer Nachdenklichkeit und elaborierte Deutungsversuche bleiben ihr fremd. Olga Martynova spricht vom Schmerz, bemüht sich um Rationalität und schreibt über die eigene Sprachlosigkeit, die Unmöglichkeit, die sogenannten richtigen Worte über Trauer, Verlust und Trost zu finden. Eingebettet in diese Reflexionen sind Gedanken zur Geistes- und Zeitgeschichte. Immer wieder wird die eigene Ohnmacht sichtbar. Der Verlust des geliebten Partners lässt sich weder verarbeiten noch passend in Worte fassen:
Angesichts des Todes. Abwesenheit der Gegenwart. Gleichzeitiger Lauf der Vergangenheit und der Zukunft. Dazwischen ein Vakuumskorridor. Eine temporale Anomalie einer Grenzerfahrung. Vielleicht erlaubt diese Abwesenheit der Gegenwart, den unerträglichen Schmerz zu ertragen. Wozu nur? Später überfährt dich die Gegenwart wie eine Lokomotive.
Der Wucht dieses Aufpralls lassen sich nur schwerlich philosophische Lebensweisheiten und Sentenzen geistvoller Weltklugheit entgegensetzen. Martynova hört mit dem Tod ihres Mannes nicht auf, ihn zu lieben. Die „am meisten unerwiderte Liebe“ sei die „Liebe zu einem Gestorbenen“. Sie verwebt die Erinnerungen oft mit Reminiszenzen an den Mythos und die antike Dichtung, fügt Fantasiebilder über Orpheus und Platon ein und kehrt doch stets zurück zu Oleg, der gegangen ist, gehen muss und den sie noch immer nicht gehen lassen möchte:
Ich versuche, mir vorzustellen, was Oleg jetzt machen würde, wäre ich gestorben, nicht er. Wie er aufstehen würde, Tee trinken, seine Medizin nehmen, den Computer einschalten. Unbewusst warten, dass sich etwas ereignet, das eine Verbindung zu mir herstellen würde, eine E-Mail, eine SMS, ein Anruf, ein Hauch Wind.
Olga Martynova begibt sich unter Menschen, sammelt Erfahrung der Sprachlosigkeit jener, die verständnisvoll Anteil nehmen möchten. Eindeutig stellt sie fest: „Was mich von meiner Trauer ablenkt, ist störend.“ Erinnerungen stellen sich ein, an die lange Krankheit, aber auch an die Augenblicke, die sie mit Oleg noch intensiv erlebt hat und an die sie nun zurückdenkt:
Heute Morgen – eine Erinnerung an unsere Schiffsreise nach Amsterdam. Wir schauten nachts durch die Glaswand auf das langsame Wasser, die Wiesen mit den knietief im Nebel weidenden Kühen. Oleg, dem es nicht gut ging, wie so oft in den letzten Jahren, sprach mit zärtlicher Dankbarkeit über diese schemenhafte Schönheit der Welt.
Auf die Frage „Wie geht es dir?“ weiß kaum jemand gut zu antworten. Das gilt auch für Menschen, die nicht trauern. Diese schwierige Frage irritiert, und sie irritiert besonders, wenn Trauernde gefragt werden. Was soll darauf geantwortet werden? „Soll man die Wahrheit sagen?“ so fragt sich Martynova und antwortet: „Die braucht niemand.“ Danach schreibt sie: „Soll man lügen?“ Darauf antwortet sie nicht mehr. Es gibt in schwierigen Situationen auf gut gemeinte Fragen keine gute Antwort. Sie schreibt weiter: „Die Fragenden sind in keiner Weise schuld und folgen den zweifellos notwendigen Formalitäten. Wenn sich zwei Trauernde treffen, stellen sie sich gegenseitig diese Frage, wohl wissend, wie sinnlos das ist. In solchen Treffen zweier Trauernder liegt ein gewisser Slapstick.“ Es sei begreiflich und „ganz normal“, dass es trauernden Menschen schlecht gehe und auch, dass sie über Gefühle weder Auskunft geben möchten noch müssen. Die Trauer sei eine „Verbindung zu dem Gestorbenen“, die nichts von der „milden Eleganz der Friedhofsengel“ habe.
Philosophen wie Epikur und Wittgenstein, die Tröstliches über die Erfahrung des Todes zu sinnieren meinten, attestiert Olga Martynova Wirklichkeitsverlust und Herzlosigkeit. Der Tod gehe uns nichts an, weil wir den eigenen Tod nicht erleben würden, so führten beide aus, und nahmen eine hoffnungslos egoistische Perspektive ein:
Der Tod des Anderen geht uns sehr wohl an. Er wird erlebt. Er ist ein Ereignis des Lebens. Gegen die Angst kann man denken (außer der Momente einer unmittelbaren Gefahr). Gegen die Trauer nicht. Die ganze Philosophie, die uns sterben lehrt, ist unwirksam angesichts der Trauer. Alle Argumente würden stimmen. Aber die Wirklichkeit der Trauer siegt über alle Argumente.
Das gefällige Räsonnement so vieler Philosophen erscheint als ein Mangel an Sensibilität „vor dem Tod der Anderen“. Olga Martynova schreibt, die Trauer sei möglicherweise die „intimste Sache der Welt“. Das klingt zunächst staunenswert, denn nun könnte die Autorin gefragt werden, warum sie davon schreibt. Ganz auflösen lässt sich dieser leise Widerspruch nicht, denn über das, was so intim ist wie nichts anderes, muss niemand Auskunft geben. Doch wenn Olga Martynova von ihrem Mann, seinem Abschiednehmen von der Welt berichtet, so wird sie nicht indiskret oder auch enthüllend. Es scheint also, als könne sie nicht anders, als müsse sie über ihre Trauer schreiben: „Und nun spreche ich darüber, worüber man schweigen muss. Die Grenzen meiner Trauer sind die Grenzen meiner Welt.“ Bemerkenswert noch ist die Unterscheidung zwischen Trauer und Depression. Beides hätte nichts miteinander zu tun, träte auch nicht zugleich auf: „Entweder Trauer oder Depression. Mich ärgert die Depression, weil sie die Trauer stört, weil sie egoistisch ist.“ Darüber ließe sich nachdenken, auch diskutieren, vielleicht sogar philosophieren.
Olga Martynova hat ein tiefgründiges, sensibles und reich nuanciertes Buch über Trauer vorgelegt, das nachdenklich macht und in dem sie, trotz aller Grenzen, Worte für die Erfahrung des Todes von geliebten Menschen findet. Dieses Buch schenkt keinen Trost und auch keine Hoffnung. Es ist ein ernster, behutsamer, berührender und bedenkenswerter Bericht über Trauer – ein literarisches Gespräch, das jenseits aller konventionellen Trauergespräche liegt. Wer dieses Buch liest, wird mit der Frage „Wie geht es dir?“ künftig vorsichtiger umgehen.
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