Lektüre in Zeiten des Krieges

Warum wir (wieder) „Nathan der Weise“ lesen müssen – Ein Manifest der Toleranz für Juden, Christen und Muslime

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler und Stefanie von WietersheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie von Wietersheim

Rätsel des Lebens. Wie, um Himmels willen, konnte es nur passieren, dass nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Israel ein grauenvoller Krieg tobt, in dem Kinder qualvoll sterben, Frauen massenhaft vergewaltigt werden, Männer unter Kugelfeuer verbluten, Babys verschleppt werden? Dass Mütter und Väter um ihre Kinder weinen, Studenten ihre Freunde begraben und in den nächsten Bunker laufen, um nicht bald selbst unter der Erde zu liegen? Wie konnte es zum wahr gewordenen Alptraum kommen, dass in Deutschland gewaltbereite Hamas-Anhänger dem jüdischen Volk die vollständige Vernichtung wünschen, Polizisten schwer verletzen? Angst und Schrecken verbreiten? Und das alles im Namen von Weltanschauung, Ideologie, Religion.

Social-Media-Kanäle mit einer Mischung aus Breaking News, Fake News und Hate News verschlimmern die Polarisierung der Gesellschaft so, dass sich jüdische Mitmenschen im Herbst 2023 auch auf deutschen Straßen nicht mehr sicher fühlen. Die jüdische Journalistin Mirna Funk sagte am 25. Oktober 2023 im Podcast mit dem Kriegsreporter Paul Ronzheimer, sie habe jedes Mal Angst, den Zündschlüssel ihres Autos umzudrehen, aus Bangen vor einer Bombe. Funk prangerte die fehlende Solidarität der deutschen Gesellschaft mit den am 7. September von der Hamas massenhaft und erbarmungslos abgeschlachteten Juden in Israel an. Die Reaktion auf diese offenbar von langer Hand geplante Terroraktion sei nicht mit der Solidarität mit den Amerikanern nach 9/11 zu vergleichen, da in vielen Schichten der Bevölkerung ein latenter Antisemitismus herrsche, der sich in einem „ja, aber!“ mit einer Schuldzuweisung an Israel im Umgang mit den Palästinensern zeige – gepaart mit unreflektierten Ideen zu Antikolonialismus und Apartheid. Auch viele Linke sähen im jüdischen Staat ein Feindbild.

Es war der Träger des diesjährigen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Salman Rushdie, der darauf hinwies, dass Mythologien, Sagen, Märchen und Erzählungen uns dabei helfen können, unseren eigenen Weg in der Welt zu finden. Vielleicht heute mehr denn je. Aus der gigantischen Vorratskammer solcher Geschichten scheint es uns an der Zeit, an eine dieser Geschichten zu erinnern. Vielleicht, ja hoffentlich kann sie dabei helfen, aus dem tobenden Wahnsinn des ewigen Kreislaufs von Verbrechen, Rache und Feindschaft auszubrechen. Auch wenn diese Geschichte von einem weißen Mann aus Deutschland erzählt wurde, der schon lange tot ist.

Schlag‘ nach bei Lessing!

Wir erlauben uns mit dieser Kolumne an das Ideendrama Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing zu erinnern, 1779 erstmals publiziert und vier Jahre später in Berlin uraufgeführt.

Bitte gähnen Sie nicht und verdammen nicht die Zeiten, in denen Sie in der weiterführenden Schule das gelbe Reclam-Heftchen in der Hand hielten. Es ist ein tolles Buch!

Der männliche Autor dieser Kolumne blättert durch sein eigenes Exemplar und stellt – die Unterstreichungen belegen es – fest, dass er in der eigenen Schulzeit offensichtlich die Rolle des Klosterbruders zugewiesen bekommen hatte. Und damit die einschlägigen Passagen vor der Klasse laut vorlesen musste. Der Klosterbruder, dieser namenlose Mann, kam dereinst als Reitknecht des Wolf von Filnek nach Palästina und steht als Laienbruder unter dem Schutz des Patriarchen von Jerusalem. Auf Seite 105, im 4. Aufzug, im 7. Auftritt fällt der Blick auf diese unterstrichene Passage:

Und ist denn nicht das ganze Christentum
Aufs Judentum gebaut? Es hat mich oft
Geärgert, hat mir Tränen g’nug gekostet,
Wenn Christen gar so sehr vergessen konnten,
Daß unser Herr ja selbst ein Jude war.

Wer bei dieser Passage nicht an die Debatten um die „Judensau“ in Köln, Regensburg und Wittenberg denkt, hat die vergangenen Jahrzehnte keine Nachrichten zur Kenntnis genommen.

Und wer nicht daran erinnert wird, dass die „Deutschen Christen“, diese rassistische, antisemitische und am Führerprinzip orientierte Strömung im deutschen Protestantismus, die diesen ab 1932 an die Ideologie des Nationalsozialismus anpassen wollte, vor allem auf die „Entjudung“ des Christentums hinarbeiteten und eben genau diesen Zusammenhang von Altem und Neuen Testament „vergessen“ machen wollten, ist ein historischer Banause.

Kurz erinnert: Die Weisheit der „Ringparabel“

Worum also geht es bei Nathan der Weise? Das in Versen verfasste Drama des Bibliothekars der Wolfenbütteler Bibliothek gilt als eines der zentralen Werke der deutschen Aufklärung. Lessing reagierte damit auf die religiöse Orthodoxie und Intoleranz seiner Zeit. Ort der Handlung ist Jerusalem während eines Waffenstillstands zur Zeit des Dritten Kreuzzugs (1189-1192) – eine Stadt, in der Christentum, Islam und Judentum ganz direkt aufeinandertreffen. So wie heute!

Der dramatische Höhepunkt des Stücks, in dem es um eine moral- und geschichtsphilosophische Botschaft, um die Aufforderung zu Toleranz und Humanität geht, ist die berühmte „Ringparabel“, die der reiche jüdische Kaufmann Nathan dem Sultan Saladin erzählt. Sie soll dessen hintergründige Frage beantworten, welche der drei Religionen die „wahre“ sei. Nathans Antwort ist die Forderung nach einem gleichberechtigten Nebeneinander aller dieser drei Religionen.

Wir überspringen die Details der Geschichte um den Juden Nathan, dessen Pflegetochter Recha, den jungen Tempelherrn Curd von Stauffen und den muslimischen Herrscher Jerusalems, Sultan Saladin. Uns geht es hier – wie auch Lessing – um die „Ringparabel“.

Die Geschichte von den drei Ringen gilt als ein Schlüsseltext der Aufklärung und als Manifest der Toleranz. Lessing borgte sie aus der dritten Erzählung des Ersten Tages von Giovanni Boccacios Decamerone. Bei Boccaccio wie bei Lessing geht es um einen Vater, der einen kostbaren Ring an denjenigen unter seinen Söhnen weitergibt, den er am meisten liebt und den er damit zum Erben einsetzt. Über Generationen ging das so, bis eines Tages ein Vater seine drei Söhne alle gleich liebt. Um keinen seiner geliebten Söhne unglücklich zu machen, lässt er ohne deren Wissen zwei weitere Ringe anfertigen, sodass der Vater schon selbst „kaum“ und die Söhne gar nicht mehr unterscheiden können, welcher Ring der ursprüngliche ist.

Nach dem Tode des Vaters ziehen die Söhne vor Gericht, um klären zu lassen, welcher von den drei Ringen „der echte“ sei. Der Richter aber ist außerstande, dies zu ermitteln. So erinnert er die drei Männer daran, dass der echte Ring die Eigenschaft habe, den Träger bei allen anderen Menschen beliebt zu machen. Wenn aber dieser Effekt bei keinem der drei eingetreten sei, dann könne das wohl nur heißen, dass der echte Ring verloren gegangen sei.

Der Richter gibt den Söhnen den Rat, jeder von ihnen solle fest daran glauben, dass sein Ring der echte sei. Ihr Vater habe alle drei gleich geliebt und es deshalb nicht ertragen können, einen von ihnen zu begünstigen und die beiden anderen zu kränken, so wie es die Tradition eigentlich erfordert hätte. Wenn einer der Ringe der echte sei, dann werde sich dies in der Zukunft an der ihm nachgesagten Wirkung zeigen. Jeder Ringträger solle sich also bemühen, diese Wirkung für sich herbeizuführen.

Judentum, Christentum, Islam: Keine ist die „wahre“ Religion

Schon Lessing wollte die Parabel dahingehend verstanden wissen, dass der Vater für den liebenden Gott steht, die drei Ringe für die drei abrahamitischen monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – stehen und die drei Söhne für deren Anhänger. Die zentrale Aussage der Ring-Parabel wäre demnach, dass der eine Gott die Menschen gleichermaßen liebt, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, da alle drei Religionen sein Werk und alle Menschen seine Kinder seien.

Entscheidend sei dabei nur, dass die Menschen sich nicht darauf versteifen, die „einzig wahre Religion“ zu „besitzen“, da sie das fanatisch und wenig liebenswert mache. Zwar sei es nur natürlich, dass jeder seine eigene Religion vorziehe – denn wer werde schon seinen Eltern vorwerfen, ihn zu einem „Irrglauben“ erzogen zu haben? Diese Bevorzugung dürfe jedoch nicht dazu verführen, den eigenen Glauben allen anderen gegenüber als allein selig machenden zu verstehen, da jede authentische Religion ihren Ursprung in Gott habe. Weil das Maß der Echtheit des ersten Ringes darin zu sehen sei, inwieweit er „beliebt vor Gott und Menschen“ mache, sei jeder Ring echt, der dies erfüllt. Und jeder Ring sei unecht, der dies nicht erfülle. Die Gültigkeit jeder Religion sei demnach darin zu sehen, in welchem Maß sie zukünftig in der Lage sei, Liebe zu stiften.

Die Frage, welcher Ring der echte sei, müsse deshalb zurückgestellt werden, da keine der drei Religionen die Menschen so veredele, wie es der Fall sein müsste, wenn der echte Ring, also die echte Religion nicht verloren gegangen wäre. Mit seiner Antwort weist Nathan letztlich Saladins Frage nach der „einzig wahren Religion“ zurück.

Geschichte schwerer Schuld: der Missions-Befehl des Christentums

In einer Zeit, in der das Verhältnis dieser drei Religionssysteme untereinander schwer gestört zu sein scheint, vor allem das Verhältnis zwischen Judentum und Islam, muss daran erinnert werden, dass es vor allem Christen waren, die über Jahrhunderte die Verhältnisse zwischen den drei Religionen massiv zerrütteten. Es war das Christentum, das die Angehörigen anderer Religionen „missioniert“ hat, mit der Bibel in der einen Hand und dem Schwert in der anderen Hand.

Lessings Nathan-Geschichte war auch seine Antwort auf die Folgen des sogenannten „Missionsbefehls“ des Jesus Christus. Er steht im Matthäus-Evangelium (Kapitel 28, Verse 18 bis 20):

Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Das Christentum, unabhängig von seinen unterschiedlichen Ausprägungen, folgt diesem Befehl in den zurückliegenden zwei Jahrtausenden, zumeist gefolgt im Schatten der kolonisierenden europäischen Mächte. Mit seinem Anspruch, die einzig „wahre“ Religion zu sein, und „alle Völker“ zu „missionieren“, trägt es eine große Schuld am unfriedlichen Zustand der Welt, wie er sich uns auch heute zeigt.

Wie steht es derzeit um das Verhältnis zwischen den drei Religionen, die sich alle auf Abraham beziehen? Für diese drei monotheistischen Religionen ist dieser „Urvater der Juden“ gleichermaßen bedeutend: Das Judentum versteht sich als seine Kinder, für das Christentum erfüllte Jesus Christus die Verheißungen des Abraham und für den Islam ist Abraham ein bedeutender Prophet, der allen Menschen den einzigen wahren Gott verkündete und zugleich Vorbild für Glaubenstreue und Gerechtigkeit ist. Warum also können diese drei „Söhne“ jenes Gottes, den Abraham ihnen prophezeite, nicht friedlich neben- und miteinander leben?

Christen und Juden: Die Gewissensfrage der Missionierung für die Kirchen

Für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) war es erst deren Magdeburger Synode im November 2016, in der ultimativ festgelegt wurde, dass es nicht mit dem christlichen Selbstverständnis vereinbar sei, Menschen jüdischen Glaubens zum Christentum „bekehren“ zu wollen. „Christen sind nicht berufen, Israel den Weg zu Gott zu weisen“. So steht es unmissverständlich in der damals verabschiedeten Erklärung. Jahrhunderte der „Judenmission“, bei der Christen versucht hatten, Juden davon zu überzeugen, dass auch sie sich zu Jesus Christus als Gottessohn und Gott bekehren sollten, sollten damit ein endgültiges Ende gefunden haben. Im Jubiläumsjahr der Reformation wurde somit der schuldenschweren Hetze Martin Luthers gegen Juden ein Ende gesetzt.

Der Widerspruch zwischen der bleibenden Erwählung Israels als „Volk Gottes“ und der christlichen Überzeugung, Christus allein sei der Weg zu Gott, jedoch blieb. Auch die Synode konnte ihn auf ihrer Tagung 2016 nicht auflösen: „Die Tatsache, dass Juden dieses Bekenntnis nicht teilen, stellen wir Gott anheim“, hieß es in der Magdeburger Kundgebung.

Für die Spitze der römisch-katholischen Kirche jedenfalls ist eine Preisgabe der Bekehrungsabsicht gegenüber Andersgläubigen bislang vollkommen ausgeschlossen. In ihrem unter Johannes Paul II. veröffentlichten und bis heute gültigen Katechismus hat sie formuliert, Gott wünsche, dass „die ganze Menschheit ihre Einheit in der Kirche wiederfinden soll“. Auftrag der Kirche sei es deshalb, „das Evangelium allen Menschen zu verkünden“. Und das meint nicht nur „Heiden“, sondern ebenso Juden wie Muslime.

Wer dabei jedoch ausschließlich an die durch die Amtskirche beauftragten Missionsorden denkt, sollte wenigstens auch an die „Reduktionen“ der Jesuitenmissionare ab Beginn des 17. Jahrhunderts in Lateinamerika denken, in Siedlungen, die für die indigene Bevölkerung geschaffen wurden. In ihnen sollte „das heilige Experiment“, die Verwirklichung der Idee von einer gerechten Gesellschaft gewagt werden. Durch das Verbot aus Rom wurde dieser großangelegte Versuch im Jahr 1767 abgebrochen und blieb bis heute eine Utopie.

Theologische Theorie: Dürfen Christen Muslime „missionieren“?

Angesichts der wachsenden Zahl von Muslimen in der deutschen Gesellschaft stellt sich nicht nur die Frage, ob Juden „missioniert“ werden sollen, sondern auch Muslime. Gefährdet der christliche Missionsbefehl immer noch den Frieden unter den Menschen?

Die Pfarrerin Barbara Rudolph, Oberkirchenrätin der Evangelischen Kirche im Rheinland, hatte bereits 2015 ihrer Landeskirche ein Positionspapier vorgelegt, demzufolge die Muslim-Mission grundsätzlich verworfen werden sollte. „Eine Begegnung mit Muslimen in Konversionsabsicht widerspricht dem Geist und Auftrag Jesu Christi und ist entschieden abzulehnen“, hieß es in dem Papier. Stattdessen müssten Christen und Muslime gemeinsam „eine Vision versöhnter Verschiedenheit schaffen“. Begründet wird dieses Postulat nicht rein theologisch, sondern vornehmlich gesellschaftspolitisch: Der Versuch, Muslime zu bekehren, „bedroht“ laut den Verfassern „den innergesellschaftlichen Frieden“. Und weiter: „In einer nicht konfliktfreien gesellschaftlichen Situation sollten Äußerungen der Kirchen dem friedlichen Zusammenleben aller dienen.“

Es ist nicht erkennbar, dass dieser Sonderweg der zweitgrößten evangelischen Landeskirche bislang mehrheitsfähig geworden ist. Viele in der EKD betrachten derartige Positionen weniger als zeitgemäße Pioniertat, sondern sehr viel mehr als gefährlichen Traditionsbruch und als Kniefall vor dem Islam. Immerhin gehöre der Anspruch auf Bekehrung Andersgläubiger traditionell zum Christentum und werde seit dem wohl berühmtesten Missionar der Christenheit, dem Apostel Paulus, als Auftrag Jesu Christi verstanden.

Der evangelikale Teil der Christenheit ist ohnehin für seine Missionsfreude bekannt, wenn man an die „Weltweite Evangelische Allianz“ (WEA), den internationalen Dachverband der Evangelikalen, denkt. Der hat schon in den 1990er-Jahren die rechtliche Gleichstellung verfassungstreuer Muslimverbände mit den Kirchen gefordert – zu einer Zeit, als das Thema in deutschen Amtskirchen noch ein Schattendasein fristete. Trotz ihres Engagements für Muslime betonen Vertreter der WEA in etlichen Schriften jedoch die Unterschiede zwischen beiden Religionen und kommen zu dem Schluss, man müsse sich entscheiden zwischen Jesus und Mohammed, zwischen Koran, Sunna und Neuem Testament. Wer beide Überlieferungen für gleich vorbildlich erkläre, der verdecke, wie sehr sie sich in zentralen dogmatischen und ethischen Fragen widersprechen. So bestreite der Koran die Gottessohnschaft Jesu, die im Neuen Testament verkündet wird. Während Jesus die Steinigung von verheirateten Ehebrechern verwarf, ordnete der Prophet Mohammed diese an, was bis heute in Gesellschaften, die sich an der Scharia orientieren, praktiziert wird.

Jedoch haben alle christlichen Kirchen in dieser Hinsicht bereits Fortschritte gemacht. 2011 einigten sich der Päpstliche Rat, die evangelikale WEA und der Ökumenische Rat der Kirchen auf einen missionarischen Verhaltenskodex. Dieser ächtet Überredungsversuche, psychischen Druck oder Bestechung kategorisch als widerchristlich.

Auf der anderen Seite: „Missionieren“ Juden und Muslime?

Das Judentum lehnt Missionierungen grundsätzlich ab. Juden werben bei Andersgläubigen nicht für einen Übertritt in ihre Religion. Im Gegensatz zum Christentum und zum Islam, die phasenweise aggressiv und blutig missionierten. Allenfalls gibt es eine innerjüdische Mission, bei der säkulare Juden von gläubigen Juden zu einem gottgefälligen Leben angehalten werden. „Jeder Mensch findet seinen Weg zum Heil, insofern er moralisch handelt“, erklärt Michel Bollag vom Zürcher Institut für Interreligiösen Dialog. Er folgert: „Das Judentum braucht keine Mission. Man muss nicht jüdisch sein, um ein guter Mensch zu sein und eine Beziehung zu Gott zu haben“.

Zudem gibt es nur einen einzigen „richtigen“ Weg, um Jude zu werden: Wer eine jüdische Mutter hat, ist Jude. Da hilft keine Mission. Allenfalls kompliziert wird dieser Grundsatz, wenn es zu einer interreligiösen Ehe kommt, bei der nur einer der Eheleute Jude ist. Die Hürden für eine Konversion zum Judentum sind hoch, sie dauern bis zu sechs Jahre der Unterweisung und Prüfung.

Der Islam hingegen kennt Konversionen. „Es gibt sie auch in vielen Berliner Gemeinden“, sagt Riem Spielhaus, Islamwissenschaftlerin an der Georg-August-Universität Göttingen. Die Übersetzung des arabischen Wortes „da‘wa“ mit „Mission“ – wörtlich „Einladung“ – sei aber problematisch. „Das Konzept ist anders als das christliche. Für viele heißt ‚da‘wa‘ einfach, als guter Muslim etwa in Deutschland zu leben und damit ein Beispiel zu geben, das einladend wirkt.“

Was so friedlich klingt, ist jedoch nur die eine Seite des Nicht-Missionierens des Islam. Das Hauptproblem des fanatischen Islamismus, das sich in den letzten Jahren bei Terrorattacken in westlichen Ländern gezeigt hat, ist der Gedanke an das Töten der „Ungläubigen“. Es war eben diese kriegerische Seite des Islam, an die der damalige Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Vorlesung im September 2006 erinnerte. Auch der vormalige Theologieprofessor Ratzinger erzählte eine Geschichte, indem er eine Aussage zur Rolle der Gewalt im Islam zitierte, die der byzantinische Kaiser Manuel II. Palaiologos (1350-1425) gegenüber einem persischen Gelehrten gemacht haben soll:

Ohne sich auf Einzelheiten wie die unterschiedliche Behandlung von ‚Schriftbesitzern‘ und ‚Ungläubigen‘ einzulassen, wendet er [der Kaiser] sich in erstaunlich schroffer, uns überraschend schroffer Form ganz einfach mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt überhaupt an seinen Gesprächspartner. Er sagt: ‚Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden, wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten‘. Der Kaiser begründet, nachdem er so zugeschlagen hat, dann eingehend, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. ‚Gott hat kein Gefallen am Blut‘, sagt er, ‚und nicht vernunftgemäß, nicht σὺν λόγω⁠a zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider‘. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung… Um eine vernünftige Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tod bedrohen kann.

In der damaligen Vorlesung des Papstes selbst war für einige seiner Zuhörer und der späteren Leser des Textes nicht deutlich genug erkennbar gewesen, ob der Vortragende nur zitierte oder sich mit den Aussagen identifizierte. Jedenfalls brach ein Sturm der Entrüstung über die angebliche „Hasspredigt“ aus. In einer nachgereichten schriftlichen Stellungnahme des Vatikans wurde das Bedauern des Heiligen Vaters formuliert, dass Abschnitte seiner Ansprache verletzend geklungen haben könnten und in einer Weise ausgelegt wurden, die den Absichten seiner Rede vollkommen zuwiderlaufe. Er habe in keiner Weise religiöse Empfindungen der Muslime verletzen wollen:

Im Hinblick auf das Urteil des byzantinischen Kaisers Manuel II. Palaiologos, das von ihm in der Vorlesung von Regensburg angeführt wurde, hatte und hat der Heilige Vater nicht die Absicht, es sich in irgendeiner Weise zu eigen zu machen, sondern er bediente sich dessen, um daraus in einem akademischen Kontext – wie sich bei der aufmerksamen Lektüre des ganzen Textes der Regensburger Rede zeigt – einige Reflexionen zum Verhältnis von Religion und Gewalt im Allgemeinen zu entwickeln. Diese Überlegungen mündeten in eine entschiedene Zurückweisung von religiösen Motivationen von Gewalt, woher auch immer sie kommen.

Das geistliche Oberhaupt Irans, Ayatollah Ali Khamenei, bezeichnete die Papstrede als das „letzte Glied eines Komplotts für einen Kreuzzug“. Dagegen zeigte sich der ehemalige iranische Staatspräsident Mohammed Khatami eher moderat und warnte vor einem übereilten Urteil. Khatami betonte, man solle erst den gesamten Text der Rede lesen, bevor man Aussagen über deren Inhalt machen könne. In einem im italienischen Privatfernsehen TG5 ausgestrahlten Video der radikalislamistischen Organisation Al-Quaida wurde jedenfalls eine Morddrohung gegen Papst Benedikt XVI. ausgesprochen. Dieser habe sich damit in eine Reihe mit George W. Bush und Tony Blair eingeordnet, hieß es, woraufhin die Sicherheitsvorkehrungen für das päpstliche Angelusgebet am 17. September 2006 verstärkt wurden.

Wer die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten, aber auch darüber hinaus die Reaktionen von Muslimen in der ganzen Welt sowohl gegen Juden wie gegen Christen betrachtet, kann nur zum Ergebnis kommen, dass wir noch sehr weit entfernt sind von jener Toleranz des gegenseitigen Respekts der drei Ringe, die der deutsche Aufklärer Lessing uns so eindringlich ans Herz legte. Es kann kein Zufall sein, dass er am 15. Februar 1781 in den Armen seines jüdischen Freundes Simson Alexander David starb. Und es war auch kein Zufall, dass braunschweigische Kirchenblätter sich über diese Tatsache empört äußerten.

Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Und beten jeden Abend um Frieden auf der Welt.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.