Neue Frauen hat das Land
Caroline Wahl gibt mit ihrem Romanerstling „22 Bahnen“ zu großen Hoffnungen Anlass
Von Günter Helmes
Wat dem Eeenen sin Uhl, is den Annern sin Nachtigall! Das gilt wohl auch für Literatur. Warum auch sollte es anders sein?
„… hat mich ziemlich irritiert, weiß nicht genau, was ich davon halten soll“, ließ mich ein literarisch versierter Freund im letzten Telefonat unter Hinweis beispielsweise auf die immer mal wieder drastisch-saloppe Erzählsprache wissen, als er auf das in diesem Jahr erschienene Romandebut 22 Bahnen der 1995 in der Anna Seghers-Stadt Mainz geborenen Caroline Wahl zu sprechen kam. Und er schloss mit der Bitte, dann im für Mitte Dezember anvisierten nächsten Telefonat doch einmal zu sagen, was ich als „Mann vom Fach“ denn von diesem Roman – „Ist das überhaupt ein Roman?“ – halte. Der habe es ja – das steigere seine Irritation – immerhin zum Spiegel-Bestseller gebracht und der Autorin den Ulla-Hahn-Autorenpreis, den Grimmelshausen-Förderpreis und jüngst den Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag eingetragen.
„Im Vorgriff auf unser nächstes Telefonat, lieber K…“, mailte ich dem Freund dann einige Tage später, „heute schon einmal so viel: Caroline Wahls 22 Bahnen hat mich, um einmal übergriffig Jugendjargon zu verwenden, schlicht und ergreifend geflasht. In objektivierenden, weil das Buch in den Fokus rückenden Worten: Die nicht einmal dreißig Jahre alte Autorin verfügt über ein ungewöhnliches Erzähltalent.
Das lässt sich an Mancherlei ablesen. Zu nennen ist da zum einen die durchdachte, geschickt mit Leitmotiven (u. a. Schwimmbeckengrund, Meer, Musik, Literatur) operierende und Vergangenheit und Gegenwart sowie äußeres und inneres Geschehen miteinander verwebende Komposition. Dann sind die immersionsstarke, um Situationskomik wie -tragik nicht verlegene ‚slow-motion‘-Dramaturgie und die ebenso variantenreiche wie situations- und stimmungsadäquate, im Präsens gehaltene Erzählsprache hervorzuheben. Überzeugen können auch die Figurenanlagen und Handlungsstränge des Romans, denn darum handelt es sich bei diesem Erzähltext zweifellos, um einen mit viel Dialog à la Fontane obendrein!
All das läuft auf ein hohes Maß an Plastizität und Authentizität, an Illusions- und Bannkraft und an ästhetischem Vergnügen hinaus. Dazu dann noch der Reichtum und die Feinfühligkeit ihrer Wahrnehmungen sowie die Souveränität ihres wägenden, beinahe abgeklärten und doch teilnahmsvollen Blicks auf Figuren und deren Tun und Lassen – nein, ich bin wirklich sehr beeindruckt. Aber mehr noch: Es ist der Autorin tatsächlich gelungen, streckenweise zumindest, mich sogar regelrecht mitzunehmen, dergestalt, dass ich Distanz zu einigen Figuren verlor und angerührt an deren Schicksal Anteil nahm. Ob das nun für oder gegen das Buch oder mich als Leser und Kritiker spricht, will ich dahingestellt sein lassen.
Dir zum Trost aber doch zwei, drei Kritikpunkte: Der Figur Ida werden zuweilen Worte in den Mund gelegt und Beobachtungen und Urteile zugesprochen, die ich für eine Zehnjährige nicht für ganz glaubwürdig halte, auch wenn es ihrer sich nicht zuletzt durch schonungslose, kritische Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber auszeichnenden, Ida gegenüber im wie außer Haus die Mutterrolle einnehmenden Halbschwester Tilda zuweilen so vorkommt, als sei Ida ein ‚Genie‘. Bei ‚ein paar Mädchen aus meiner ehemaligen Stufe‘ zu Romanbeginn, zum zweiten, kann es sich anderen Angaben zufolge nicht mehr um ‚Teenager‘ handeln. Schließlich: Mit Blick auf Figurenanlagen ist bei der Autorin zudem eine leichte Schwarz-Weiß-Tendenz auszumachen, mit Blick auf das Figurenensemble neigt sie mehr zum Gegensatz als zum Unterschied. Die eine oder andere charakterliche Mittellage hätte ihren Text noch realistischer gemacht. Andererseits: Sind Mittellagen das Metier junger Leute? Zum Glück nicht, könnte man sagen.“
Soviel zur (Vor-)Geschichte meiner Lektüre von 22 Bahnen und zu mehr oder minder abstrakt bleibenden Urteilen über Fähigkeiten der Autorin sowie die ästhetischen Qualitäten dieses Romans und deren Bewirken. Aber worum geht es in diesem aus drei Teilen bestehenden Ich-Roman eigentlich konkret, wann und wo spielt er und von wem und wovon handelt er? Schließlich: Welchem Genre ist der Roman eigentlich zuzurechnen? Dazu ein Sprung in den Roman hinein an eine Stelle gut fünfzehn Seiten vor Romanschluss, von der aus sich Antworten auf die aufgeworfenen Fragen entwickeln lassen:
Das sollte hier nie eine Liebesgeschichte werden. Das sollte wenn, dann Idas und meine, vor allem Idas Heldinnengeschichte werden, in der sich Ida von Mama befreit. Aber andererseits: Was ist ein Heldenepos ohne Liebe? […] Hauptsache, es wird keine tragische Liebesgeschichte. Dafür habe ich keine Kapazitäten. Vielleicht wäre es doch am besten, wenn er morgen oder übermorgen einfach verschwinden würde, dann kann ich mich wieder auf das Wesentliche konzentrieren.
Um das Pferd von hinten aufzuzäumen: Richtig, der in der Gegenwart spielende, sich der aktuellen erzählten Zeit nach über etliche Sommerwochen erstreckende Roman ist „Liebesgeschichte“ und „Heldinnengeschichte“ in einem. Er ist aber zugleich auch – bei dem „[v]ielleicht“ besser verschwindenden „er“ geht es um einen aus Russland stammenden Endzwanziger namens Viktor Wolkow – eine Heldengeschichte der ganz eigenen Art. Darüber hinaus hat der Roman dank zahlreicher weiterer jugendlicher Nebenfiguren unterschiedlichen Kalibers und deren Lebensvollzug jetzt und zu ein gutes halbes Jahrzehnt zurückliegenden Schulzeiten auch Anteil an Coming-of-Age-Literatur und, im zeitgemäßen Gewand, selbst am empfindsamen Roman des 18. sowie am bürgerlichen Trauerspiel und am naturalistischen Roman des 19. Jahrhunderts. In thematischer Hinsicht sollte schließlich nicht übersehen werden, dass der Roman ebenfalls von einer asymmetrischen, zerbröckelnden Freundschaft handelt, derjenigen zwischen der in desolaten Verhältnissen aufgewachsenen Tilda nämlich und Marlene, einer verwöhnten, zusehends kapriziös-ignoranten und hip in Berlin lebenden Tochter aus wohlbestalltem, „intakte[m] Elternhaus“.
Die „Liebesgeschichte“: Sie spielt sich zwischen dem bereits genannten, ursprünglich einmal im tabuierten (und eine Erzählsequenz abgebenden) „Russenturm“ im Industriegebiet wohnenden Viktor und jener ca. 24jährigen, ebenso fleißigen wie strebsamen Tilda ab. Zwischen zwei jungen Menschen, die aus sehr unterschiedlichen, doch im Effekt ähnlichen Gründen eigentlich überhaupt keine Zeit und vor allem keinen Sinn für Liebe haben und haben können.
Bei Tilda – sie heißt mit Nachnamen profan Schmitt und ist die autodiegetische, akut erlebende Erzählerin des Romans – handelt es sich um eine hochbegabte Mathematikstudentin mit der für sie aus familiären Gründen paradoxerweise höchst problematischen Aussicht auf ein Promotionsstipendium im fernen Berlin. Tilda studiert in einer ungenannt bleibenden, ca. eine Straßenbahnstunde vom kleinstädtischen Wohnort entfernt liegenden Großstadt und kümmert sich – die jeweiligen Partner bzw. „unanständig[en]“ „Arschloch“-Väter sind abhanden gekommen – tagein tagaus um ihre über ein als erlitten und verpfuscht empfundenes Leben alkoholkrank gewordene, zwischen Lethargie, Selbstlügen und Zerstörungswut vegetierende und von ihr ebenso gehasste wie bemitleidete Mutter Andrea („stinkender Sack“, „tickende Zeitbombe“, „Scheißkuh“) sowie um ihre heiß geliebte, der „Monster“-Mutter in „Angst“ ausgelieferte Halbschwester Ida: „Ich lache laut, und Ida lächelt, weil sie sich freut, dass ich nicht mehr weine, dabei weine ich immer noch, aber ich lache auch laut, weil ich Ida habe und Ida mich hat.“ Wir haben es also auch mit einem Familienroman zu tun. Darüber hinaus muss sich Tilda, die sich vor ihrem hoch belasteten Alltag durch Rituale wie Bahnenschwimmen, Joggen und gelegentlichem tranceartigen Tanzen zu schützen versucht, als Kassiererin in einem Supermarkt ihr Auskommen verdienen: „Kinder haften für ihre Eltern, denke ich“, heißt es von ihr angesichts all ihrer Baustellen ganz zu Recht.
Von daher gehören Tilda, die sich „überall fremd“ fühlt, die aber dennoch „mit niemandem tauschen will“ und der nachvollziehbarer Weise die Welt von unbeschwert feiernden Gleichaltrigen oder die einer unmotivierten Kommilitonin immer fremder wird, nur die Minuten vor dem hinausgezögerten Einschlafen ganz alleine:
Solange der Wind nachts auf mich fällt, denke ich, kann ich mich tagsüber in den Krieg da draußen stürzen. Gegen meine Mutter, gegen ihre Launen, gegen diese Kleinstadt. Und für Ida.
Viktor seinerseits, ein frostig und hart wirkendes, beruflich sehr erfolgreiches und dazu attraktives „IT-Genie“, hat vor fünf Jahren seine gesamte Herkunftsfamilie durch einen Verkehrsunfall verloren. Nun ist er dabei, das von ihm gekaufte elterliche Haus aufzulösen – zum Schluss dann doch unter Tränen. Verkompliziert wird die Angelegenheit zwischen der verständlicher Weise häufig unbändige Wut und Hass (insbesondere auf die Mutter und deren ebenfalls alkoholkranken Lover, das „Arschloch“ Jan, manchmal aber auch auf sich selbst) empfindenden Tilda und dem zutiefst warmherzigen ‚Eisklotz‘ Viktor weiter dadurch, dass Tilda Viktors verunfalltem, mit Drogen handelnden Bruder Ivan sehr nahegestanden hat und sie befürchtet, mittelbar zum Unfall beigetragen zu haben. Kann es da verwundern, dass sich Tilda und Viktor – „Distanz“, „Angst“ und „Überforderung“ spielen eine große Rolle – nur sehr langsam aufeinander zubewegen (können), in einer Art herber, beklommen ausweichender Zärtlichkeit?! Verwundern kann eher, wie einfühlsam, zart und glaubwürdig zugleich die Autorin von diesem scheuen aufeinander Zugehen und dieser verhaltenen Zärtlichkeit erzählt. Hinter der toben freilich nur schwer zu zügelnde Gefühle: „Das muss aufhören. Ich bin nahezu besessen von ihm und ich weiß gar nicht, wieso“, heißt es anfangs und „Da [im Bauch] ist mindestens eine fette Libelle drin, die mit einer enormen Geschwindigkeit mein Inneres erkundet. Und wie sich das anfühlt, macht mir Angst“ dem Romanende zu.
Heldengeschichte und „Heldinnengeschichte“: Dass das, was Viktor Wolkow an Schicksal und Bewältigung aufgebürdet ist, einen Helden erfordert, braucht wohl nicht eigens begründet zu werden. Und auch bei Tilda, die begreiflicher Weise oft zugleich „traurig und glücklich“ ist, könnte man bei dem ihr auferlegten, dem von ihr zugleich aus freien Stücken angenommenen Pensum von einer wahren Heldin des Alltags sprechen, zumal dann, wenn man auch noch ihre Kindheit dazu nimmt. Die wird von ihr auszugsweise noch einmal albtraumhaft rekapituliert, als sie nach einem im Krankenhaus endenden Suizidversuch der Mutter zusammenbricht und tagelang mit hohem Fieber daniederliegt.
Aber ist Ida das Kind auch eine Heldin? Die Antwort lautet uneingeschränkt: Ja! Anfangs lebt Ida so abgekapselt von der Welt wie nur eben möglich. Ins Schwimmbad geht sie nur bei Regen. Unentwegtes Malen stellt für sie eine Möglichkeit dar, ihr mit hohem Traumatisierungspotential einhergehendes Leben zu ertragen, zu bewältigen. Das Gesicht einer Ratte, die sie gemalt hat, trägt Züge der eigenen Mutter. Eine zweite Überlebensstrategie besteht für Ida darin, im Wechselspiel mit Tilda Märchen zu erfinden. Dank Tildas unverdrossenen und einfallsreichen Erziehungs- und – mit Blick auf die Mutter – Emanzipationsbemühungen gelingt es Ida zusehends, selbstbewusster, selbstständiger, weltoffener und fröhlicher zu werden. Der Suizidversuch der Mutter wirkt dann geradezu katalytisch: „[E]twas Gewaltiges [scheint] mit Ida passiert zu sein.“ Auch wenn sie dabei „einen Kloß hinunterschluckt“ und ihre „Angst“ nicht verstecken kann, kann die halbwegs selbstsichere Ida Tilda schließlich doch darin bestärken, nach Berlin zu gehen, falls sie das Stipendium bekommt.
Und Tilda und Viktor? Dazu abschließend ein weiteres Zitat:
Die Libellen sind nicht meine Feinde. Sie sind zwar scheißunheimlich. Aber sie sind auch megakrass, und irgendwie ist es ja verrückt, dass diese Jäger ausgerechnet in mich hereingeflogen sind und dass sich alles so komisch und schön anfühlt. Ich kapituliere […] und sage: Ich will nicht, dass du fährst.
Fährt Viktor? Und falls ja: Wird er wiederkommen?
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