Faschistische Fantasien?
Populärliteratur und Film im 20. und 21. Jahrhundert
Von Tobias Hof
und Jan Süselbeck
Rechtspopulistische Ideologien wie der Faschismus versuchen auf verschiedene Weise, die Mehrheitsgesellschaft für ihre Weltanschauung zu gewinnen. Eine Strategie, die sich in den letzten Jahren insbesondere in den USA und in Europa etabliert hat, besteht darin, eine wissenschaftlich-kritische Auseinandersetzung mit ambivalenten und problematischen Botschaften in populären Fantasy- und Science-Fiction-Werken als „Cancel Culture“ zu diffamieren.
Die dadurch angestoßenen, erhitzt geführten Scheindebatten dienen vor allem dazu, im politisch-gesellschaftlichen Mainstream rechtsextreme Verschwörungsideologien über eine angebliche Verdrängung der „weißen, männlichen“ Kultur durch eine niemals näher definierte „woke“ Linke oder „linksgrün-versiffte Woke-Diktatur“ zu verankern. In dem Kontext taucht auch eine von der rechtsextremen Bewegung in den USA frei erfundene Unterwanderung der westlichen Zivilisation durch den sogenannten Cultural Marxism auf. Dieses Konstrukt ist allerdings keineswegs neu. Es geht auf das antisemitische, nationalsozialistische Verschwörungsnarrativ des „Kulturbolschewismus“ zurück und wird auch in deutschen Diskursen immer häufiger als Gespenst des „Kulturmarxismus“ wiederbelebt. In jüngster Zeit konnte man in Deutschland entsprechend verlaufende Debatten und diese damit einhergehende Rhetorik etwa anhand der Kontroversen um Karl Mays Winnetou und weltweit anhand der Aufregung über die Amazon-Primes-Serie The Lord of the Rings: The Rings of Power beobachtet werden – einer Fantasy-Serie, die auf J.R.R. Tolkiens bekanntem Romanen beruht.
In Sachen Karl May gelang es rechtsextremen Publikationsorganen wie der Zeitschrift Compact, die Kritik an überkommenen rassistischen Stereotypen in einer neuen Adaption des Winnetou-Stoffes in eine öffentliche Empörung über das „Canceln“ eines zentralen deutschen Kulturguts umzumünzen. Massenmedien wie die „Bild“-Zeitung multiplizierten dieses Narrativ, und PolitikerInnen aus unterschiedlichsten Parteien griffen es entrüstet auf. Im Fall der Serie The Rings of Power waren Teile der Tolkien-Fangemeinde verärgert darüber, dass die Serienmacher für die Darstellung von Elben, Zwergen und Hobbits mehr People of Colour engagierten, was gegen die originalen Werke Tolkiens verstoße. Die Welle der Wut war so enorm, dass Amazon-Prime gezwungen war, den Kommentarbereich für ein paar Tage abzuschalten.
Aber identifizieren sich rechtsextreme Kreise wirklich mit diesen Texten oder Filmen? Oder werden diese Kampagnen nur vorgeschoben, um durch die provozierte öffentliche Empörung eine größere Breitenwirkung für die Belange und die Weltanschauung der Rechten zu erzielen? Wenn Fantasy-Geschichten oder auch Science-Fiction-Stories von Rechtsextremen jedoch tatsächlich so geliebt werden, dass diese mit einem derartigen agitatorischen Aplomb auf deren werkgetreue Tradierung pochen zu müssen glauben, stellt sich die Frage nach dem Warum.
Von den skizzierten Phänomenen frappiert, fanden die Herausgeber dieses Themenschwerpunktes, dass es an der Zeit war, ein internationales ExpertInnen-Team zu versammeln, um der Sache näher auf den Grund zu gehen: Gibt es eine genuine faschistische oder rechtsextreme Rezeption von Klassikern des Science-Fiction- oder Fantasy-Genres in Geschichte und Gegenwart? Falls ja, welche Gründe gibt es dafür? Sind rechtsextreme Lesarten etwa bereits in Science-Fiction- oder Fantasy-Klassikern selbst angelegt? Sind diese tendenziösen rechten Interpretationen also nachvollziehbar und die gesamten Genres tendenziell ‚faschistisch‘? Oder handelt es sich um bewusste – oder unbewusste – Fehllesungen im Sinne des internationalen Rechtspopulismus – um pseudo-philologische Fake News und propagandistische Instrumentalisierungen mit effektiver Massenwirkung?
Spezifischer gefragt: Wie werden faschistische Ästhetik und Nazi-Figuren als massenkompatible Inbegriffe des Bösen in neueren Kino-Blockbustern generell eingesetzt und welche emotionalen Reaktionen provozieren sie beim Publikum? Erlauben sie womöglich – und zwar eventuell entgegen der ursprünglichen Intention der AutorInnen oder RegisseurInnen – eine Täter-Opfer-Umkehr und empathische Identifikationen mit Nazi-Figuren bei den LeserInnen oder ZuschauerInnen? Oder treten Nazis in der gegenwärtigen Populärkultur sogar zunehmend gar nicht mehr als solche auf, werden also zwar mittels entsprechender Attribute oberflächlich noch als Mitglieder des Täter-Kollektivs ausgewiesen, jedoch ansonsten von den historischen Tatsachen strikt entkoppelt und auf diesem Wege zu Identifikationsfiguren? Werden sie so zu puren Projektionsflächen, zu frei erfundenen Leidensfiguren, die angeblich auch ihr Päckchen zu tragen hatten und damit denen der Holocaust-Opfer bruchlos an die Seite gestellt, ja sogar direkt mit diesen gleichgesetzt werden? Was ließe sich darüber aus internationaler, komparatistischer und historiographischer Perspektive sagen?
Um sinnvolle Antworten auf diese Fragen zu finden, bedurfte es eines interdisziplinären Austausches von AkademikerInnen aus der Geschichtswissenschaft, der Politikerwissenschaft, der Filmwissenschaft und der Literaturwissenschaft. Auf Grundlage dieser Vorüberlegungen fand sich Anfang Oktober 2023 zur Jahreskonferenz der German Studies Association (GSA) in Montréal eine diverse internationale Gruppe von WissenschaftlerInnen aus den USA, aus Kanada und Deutschland zu einem dreitägigen Seminar zusammen. Dabei wurden berühmte Fantasy- und Science-Fiction-Texte und ihre Verfilmungen von den 1920er Jahren bis heute in Impulsreferaten vorgestellt und anschließend ausführlich diskutiert. Es wurde erörtert, ob, wie und warum sich ein rechtes Publikum solche populären Bücher und Filme zu eigen macht und ob diese Werke das Potenzial für eine faschistische Rezeption haben könnten.
Als ein erstes Ergebnis dieses interdisziplinären Austausches wurden nun einige der Referate in Kanada für den vorliegenden Schwerpunkt überarbeitet beziehungsweise thesenhaft ausformuliert. Tagungssprache in Montréal war Englisch, weswegen die meisten vorliegenden Beiträge für diese Ausgabe nicht eigens übersetzt wurden. Wir finden jedoch, dass es sich auch für ein deutschsprachiges Publikum lohnt, sie zu lesen. Die Artikel bieten neue Einblicke in die Ästhetik populärer Fantasy- und Science-Fiction-Werke und deren Rezeption seit dem frühen 20. Jahrhundert. Wir finden, dass angesichts der aktuellen Debatten eine solche Betrachtung der Populärkultur von entscheidender Bedeutung ist und würden uns über konstruktive LeserInnenbriefe oder andere Reaktionen freuen.
Gute Lektüre im entscheidenden Wahljahr 2024 wünschen
Tobias Hof und Jan Süselbeck