Als Werte und Wissen Hand in Hand gingen

In „Tugendlehre und Wissensvermittlung“ stellt Christoph Schanze „Studien zum ‚Welschen Gast‘ Thomasins von Zerklære“ an

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während gegenwärtig darüber geklagt wird, dass die Werteorientierung der Gesellschaft eher im Abnehmen begriffen sei, dass unverhüllte Abneigung, ja unentwegter Hass aus entsprechenden Kommentaren vor allem in den sogenannten sozialen Medien zum Ausdruck gebracht werde, wird höchst selten die Frage nach einer moralbasierten Idee und Vermittlung von Wissen gestellt – dies gilt auch im Rahmen des Diskurses zu Wissen und Wissenschaft. Wissenserwerb und Wissensvermittlung haben – bereits in Schulen, definitiv dann aber in Hochschulen – grundsätzlich anwendungsorientiert zu erfolgen, um für den Arbeitsmarkt höchstmöglichen Nutzen zu generieren. Dementsprechend wird auch im Rahmen der Kritik an Bildungsvermittlung primär das Fehlen von digitalen Geräten und Medien und nicht etwa die tatsächlich bedenkliche Problematik kaum ausgeprägter ergebnisoffener Neugier und ethischer Indifferenz beklagt.

Wenn Anwendung und Auswirkung jedoch ohne ethische Nebenwirkung gedacht werden, bleibt dieses Feld den Mechanismen hemmungslosen Wachstums ausgesetzt, das heißt, der Aspekt des Unterlassens oder zumindest das Vernachlässigen der Vermittlung von ethischen Werten und deren Umsetzung im wirklichen Leben mag manches von den Phänomenen erklären, über die im Allgemeinen Fassungslosigkeit herrscht. Dass diese Gefahr keineswegs ein Phänomen der Gegenwart ist, dafür spricht die Vielzahl von Tugendlehren, die sich für das Mittelalter nachweisen lässt.

Die vorliegende Publikation Tugendlehre und Wissensvermittlung beruht auf der Dissertation des Verfassers, die im Sommer 2015 an der Justus-Liebig-Universität in Gießen abgeschlossen wurde, und sie ist einer faszinierenden Persönlichkeit des späten zwölften und frühen 13. Jahrhunderts gewidmet: dem italienischen Kleriker Thomasin von Zerklære, der 1216 eine umfangreiche Dichtung – wohlgemerkt auf Mittelhochdeutsch – beendete, der er den Namen Der Welsche Gast gab. Die Intention dieses Werkes ist auf die Erziehung zu Ethik und Moral ausgerichtet und trägt möglicherweise einen überzeitlichen Wirkaspekt in sich. Nun ist der Welsche Gast keine Neuentdeckung, es scheint jedoch sinnvoll, dass Christoph Schanze, der sich dem Werk gewidmet hat, hinsichtlich der Intention und Ausrichtung des Gastes einmal direkt zu Wort kommt. Thomasin von Zerklære hatte demnach hochgesteckte Ziele, „denn mit seinem Werk, einer moraldidaktisch ausgerichteten Lebens- und Wissenslehre, wollte er einem vorwiegend adelig-höfischen Publikum eine umfassende Erziehungshilfe an die Hand geben“.

Damit ist genau das zusammengefasst, worum es Thomasin in seinem Werk zu tun war: ein ethisches Metagebäude, das der Stabilisierung nicht nur des Individuums, sondern der Gesellschaft, wenn nicht des Weltganzen dienen sollte. Dieser gewissermaßen pädagogische Impetus ist, so der Autor, der neue Blickwinkel, unter dem der insgesamt doch bereits seit der frühen germanistischen Forschung recht gut erschlossene Welsche Gast betrachtet werden soll. Unterteilt ist das Ganze – einschließlich Einleitung und Fazit – in acht Kapitel samt Untereinheiten, denen neben einer knapp vierzig Seiten umfassenden Bibliographie und einem mehrfach verstichworteten Register 32 durchgängig farbig gehaltene Tafelseiten folgen.

In der Einführung werden zunächst „Autor und Werk“ vorgestellt, wobei der Umstand, dass Thomasin sich direkt vorstellt (Ich heiz Thomasin von Zerclære), von einem selbstbewussten Schreiber zeugt, der sich überdies „im Vergleich zu anderen hochmittelalterlichen volkssprachigen Dichtern als ungewöhnlich auskunftsfreudig erweist“. Neben weiteren biographischen Angaben zu dem hochgebildeten Kleriker werden die Umstände der Entstehung des Welschen Gastes, allgemeinere Rahmenbedingungen, aber auch das intendierte Publikum vorgestellt. Auf den folgenden Seiten steht der Illustrationszyklus zum Welschen Gast im Fokus, bevor weiter auf die Rezeptions- und Editionsgeschichte des Werks eingegangen wird.

Nach einem kurzen Blick auf die „Tendenzen der neueren Thomasin-Forschung“ stellt Christoph Schanze „Fragestellung, Thesen und Ziel“ seiner Arbeit vor. Diese „will einen Zugang zu Thomasins Welschem Gast eröffnen, der – anders als der Großteil der in den letzten Jahren erschienenen Forschungsbeiträge – zwar den Illustrationszyklus mit in den Blick nimmt, den Schwerpunkt aber auf Thomasins T  e  x  t legt, um dem Welschen Gast als Ganzem in seiner Eigenart gerecht zu werden“.

Dies erfolgt denn auch in dem mit „Wissen“ übertitelten folgenden Abschnitt, in dem Grundlegendes zu Wissen, Wissenschaft und der Vermittlung in beiden Feldern erörtert wird. Dabei wird zum einen an prominenter Stelle der Unterschied zwischen individuellem und kollektivem Wissen erörtert, bevor diese beiden Wissensaspekte durch einen Rückgriff auf ein an Edmund Husserl und Martin Heidegger angelehntes phänomenologisches Schichtenmodell erweitert werden. Wichtig ist hier Christoph Schanze, darauf zu verweisen, dass diese verschiedenen Ebenen keineswegs in hierarchischer Konstellation zueinander bestehen, eine Bevorzugung eines Aspektes demnach nicht möglich ist. In ähnlicher Form gilt das auch für die hier diskutierten Bereiche „Verfügungswissen“ und „Orientierungswissen“, mit denen der Verfasser zur Erläuterung von „Wissensbestände und Wissensschichten“ sowie „Wissensaneignung und Wissensvermittlung“ im Welschen Gast überleitet.

Dass es im Text Thomasins um deutlich mehr als technokratische Wissensbehandlung und -vermittlung geht, wurde ja bereits in der Hinführung deutlich gemacht und wird in den folgenden Gliederungsschwerpunkten noch einmal verdeutlicht. Und so ist der folgende, mit dem Begriff „stæte“ überschriebene Großabschnitt der Tugend und Tugendlehre im Welschen Gast gewidmet. Dabei ist zunächst auch der von Thomasin thematisierte Antagonismus von stæte und unstæte angeführt, der dann mit Blick auf die Kosmologie im Welschen Gast vertieft und in einen moralischen Diskurs übergeleitet wird. Denn wær Âdâm und sîniu kint gewesen stæt, zwiu solt der snê? Uns würde nimer von kelte wê.

Die Unbeständigkeit ist mithin die große Störerin der Harmonie, die Welt und Menschen voneinander entfremdet; wo aber dieser Umstand hinsichtlich des Weltganzen gewissermaßen unverrückbar erscheint, können Menschen ihre eigene unstæte überwinden oder doch zumindest zu überwinden suchen. Die Psychomachie, ein Kampf zwischen Tugend und Laster, ist mithin der Weg, aus dem abgründigen Dunkel der Verworfenheit und damit sowohl der ethisch-moralischen als auch grundsätzlichen Instabilität zu entkommen. Dass dies nicht zuletzt auch für die Metaebene gilt, lässt sich aus dem Klerikerstatus Thomasins erschließen, es gilt aber auch für das soziale Miteinander der Menschen und ergibt damit deutlich den Aspekt einer Handlungsanleitung. Der Welsche Gast ist auch insofern durchaus modern respektive progressiv, als der in der mittelalterlichen Literatur gut verankerte Begriff der stæte, der vornehmlich die weibliche Tugend der Treue beschreibt, auf beide Geschlechter, aber im größeren Zusammenhang auch auf die Gesellschaft als Ganzes bezogen ist.

Mit der argumentativen Auseinandersetzung zu wechselseitiger Treue schließt der erste ‚ethische‘ Themenblock des Welschen Gastes; der zweite ‚moralische‘ Abschnitt konzentriert sich auf den Wert der mâze, wobei auch hier im Rahmen der Erläuterungen Thomasins die Antagonismen von mâze und unmâze herangezogen werden. In diesem Zusammenhang wird zunächst ein Tugendsystem als Referenzrahmen aufgestellt, in den dann – bezogen auf mâze als Individualtugend – Thomasin anhand der Beispiele von Zorn und Hoffart Einzelaspekte eingeordnet werden.

Die Relevanz von mâze betont Thomasin auch hinsichtlich der politischen Wirklichkeit, also in Bezug auf das Gebaren der Mächtigen und Herrschenden. Dass in diesem Kontext aber nicht nur die Mächtigen in die Pflicht genommen sind, sondern auch das Volk der Versuchung zur unmâze mitunter nicht widerstehen kann und somit den Rahmen des Gebotenen überschreitet, verdeutlicht Christoph Schanze in einem ausführlichen Exkurs zur „zornglühenden“ antikurialen Papstkritik Walthers von der Vogelweide und der daraufhin im Welschen Gast verabreichten „sanften, aber gerechten Prügel“. Hier zeigt der Autor die Grenzen der Kritikbreite auf, die dann erreicht sind, wenn die gottgefällige Ordnung infrage gestellt oder gar angegriffen wird. Dies wird auch daran deutlich, dass im Weiteren ein „maßvoller Aufruf“ zum Kreuzzug folgt, in dem der Welsche Gast die päpstliche Argumentation für einen solchen Waffengang aufgreift. Und, wie Christoph Schanze formuliert, ist das übergeordnete Ziel Thomasins, „auch im achten teil des Welschen Gastes, Orientierung zu vermitteln. Das betrifft sowohl den individuellen Umgang mit mâze und unmâze als auch das im Hinblick auf propagandistische Äußerungen ‚maßvolle‘ Verhalten in der Öffentlichkeit“.

Auffällig ist, dass der Umfang der jeweiligen Hauptpunkte einer absteigenden Linie folgt: Sind der stæte noch über 130 Seiten gewidmet, nimmt die mâze nur mehr 75 Seiten ein. Der dritte Schwerpunkt, das reht, wird auf knapp über fünfzig Seiten abgehandelt. Hier geht Christoph Schanze den unterschiedlichen Schattierungen des Begriffs reht bei Thomasin nach und lotet dessen Bedeutungsspektrum aus. Wesentlicher Kern der Argumentationsführung ist hier das Löwen-Adler-Exempel, wobei – etwa auf die Tradition des Physiologus zurückgreifend – der Löwe für Mut, der Adler für Scharfblick sowie Ehre steht: Eigenschaften, die für eine richtige und somit letztlich gerechte Herrschaft unabdingbar sind. Bereits im achten Teil des Welschen Gastes hatte Thomasin in allerdings reichlich skurriler Weise diese Analogie angesprochen, indem er sich auf das Feld der Heraldik begeben hatte. Dem Wappen Ottos IV. attestierte Thomasin, dass es mit drei Löwen den Übermut seines Trägers, mit einem halben Adler jedoch dessen mangelnde Ehre repräsentiere.

Wird im neunten Teil des Gastes das Beispiel von Adler und Löwe noch einigermaßen stringent angegangen, indem an ihnen Ausgewogenheit auch und gerade in juristischer Hinsicht exemplifiziert sind, ist das Exempel des armen Esels Baldewin, der aufgrund seines lauten und kakophonen Gesangs von den wilden Tieren – einschließlich ihres Königs, des Löwen – zunächst für ein Ungeheuer gehalten wird, schließlich aber von dem als Kundschafter ausgewählten Wolf zerbissen wird, reichlich konstruiert und nur bedingt für eine Analogie von Gerechtigkeit tauglich. Dennoch, so Christoph Schanze, benutzt Thomasin seine Exempel insgesamt geschickt, um im Kontext seiner „situativen Systematik“ durch die Anwendung eines „didaktischen Pluralismus“, also die „Interaktion verschiedener Wissensbestände und Wissensschichten“, ein „[e]thisches Orientierungswissen“ zu generieren.

Da Recht und Gerechtigkeit nicht oder zumindest nicht ausschließlich über drakonische Strafen zu gewährleisten sind, ist es konsequent, wenn der Welsche Gast nach dem reht die milte zum Thema hat. Hier werden die Grundcharakteristika der milte im Allgemeinen und der Mildtätigkeit im Besonderen diskutiert, wobei auch die Ambivalenzen dieser Begrifflichkeiten und ihrer Anwendung zur Sprache kommen. Indem die Tugenden als ‚Familie‘ dargestellt werden, ergibt sich eine didaktisch geschickte Anschaulichkeit, und vielleicht ist diese auch der Grund dafür, dass die milte gegenüber den anderen Tugend-Aspekten im Welschen Gast weniger komplex ausgeführt ist. Christoph Schanze konstatiert dazu: „Offensichtlich sind die schwerwiegenden Problemkomplexe bereits abgehandelt, denn der Welsche Gast klingt eher ruhig aus. […] Thomasin schreibt seine Lehren zur milte gut gelaunt nieder.“

‚Relativ ruhig‘ klingt auch das vorliegende Buch aus. Zunächst greift der Autor in „Ein Zimmermann, ein ‚welscher Gast‘ und eine renitente Schreibfeder“ unter Beobachtung formaler Aspekte, aber auch nochmaligem Aufgreifen längerer Passagen Thomasins in „didaktischen (Selbst-)Reflexionen“ wesentliche Aspekte dessen volkssprachlicher Lehrdichtung auf, bevor unter dem Titel „Tugend – Wissen – Vermittlung“ unter Paraphrasierung des Erarbeiteten, aber auch Hinweisen auf Randständiges explizite „Ergebnisse und Ausblicke“ formuliert werden.

Was ist über vorliegendes Buch zu sagen? Vielleicht: ach got wy lang? Dass Christoph Schanze seine Ergebnisse mit dieser Randbemerkung des Schreibers von Handschrift K abschließt, mag von Selbsterkenntnis, aber vor allem von sympathischer Selbstironie zeugen. Vielleicht wäre es tatsächlich zielführender gewesen, die eine oder andere Passage zu straffen, andererseits ist es auch keineswegs so, dass hier ‚Zeilen geschunden‘ worden sind. Die strukturierte Argumentation, immer untermauert von entsprechenden Textpassagen, bringen den Welschen Gast dem Leser näher und ermöglichen es, den Denkpfaden seines Verfassers, aber eben auch denen Christoph Schanzes zu folgen. Eine umfangreiche Bibliographie sowie ausdifferenzierte Register ermuntern zum Stöbern und Nachschlagen. Die anhängigen Farbabbildungen aus verschiedenen Handschriften, die in ihrer digitalisierten Form dankenswerterweise ausgewiesen sind, runden das Buch angenehm ab. Es sei daher trotz eines eher abschreckenden Verkaufspreises nicht nur Spezialisten, sondern allen denjenigen, die sich für die Thematik ‚Moralität und Wissen‘ im Allgemeinen interessieren, sehr empfohlen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Christoph Schanze: Tugendlehre und Wissensvermittlung. Studien zum ‚Welschen Gast‘ Thomasins von Zerklaere.
Reichert Verlag, Wiesbaden 2018.
480 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783954901388

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