Postapokalyptische Utopie
Becky Chambers Doppelroman „Ein Psalm für die wild Schweifenden“ und „Ein Gebet für die achtsam Schreitenden“ erzählt von einer außergewöhnlichen Freundschaft
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSeit der durch seinen satirischen SF-Roman Der Krieg mit den Molchen bekannte tschechische Schriftsteller Karel Čapek 1920 in seinem Theaterstück R.U.R. als Roboter bezeichnete mechanische Figuren auftreten ließ, die Sklavenarbeiten verrichten mussten, werden SF-Werke von ebenso zahllosen wie denkbar unterschiedlichen künstlichen Existenzen bevölkert, die als Roboter bezeichnet werden. Tatsächlich treten mechanische Apparate wie etwa Olimpia in E.T.A. Hofmanns Nachtstück Der Sandmann (1817) schon weit früher als Figuren in der Literatur auf, werden jedoch gemeinhin nicht als Roboter, sondern als Automaten bezeichnet. Beide Begriffe wurden von Čapeks Bruder Josef geprägt. Keiner von all diesen humanoiden oder nicht humanoiden Roboter und Automaten gleicht jedoch denjenigen, die Becky Chambers für ihre aus zwei kurzen Romanen bestehende Reihe Dex & Helmling erdacht hat. Nun ist der Roboter Helmling zwar von ganz konventionellem Äußeren, nämlich einem Menschen nachgebildet, dabei jedoch durchaus als mechanisches Wesen aus Metall zu erkennen und ist insofern alles andere als eine innovative Figur. Auch ist es in der SF schon längst üblich, dass Roboter ein Bewusstsein entwickeln, wie dies denjenigen von Helmlings Machart vor etwa zwei Jahrhunderten gelang. Das heißt, es geschah eigentlich ganz ohne ihr Zutun und war selbstverständlich nicht intentional. Denn dazu wäre ja schon ein Bewusstsein notwendig gewesen. Jedenfalls nimmt das Bewusstsein dieser Roboter überaus viel Rechenkapazität in Anspruch. So muss Helmling, der einzige in den Romanen auftretende Roboter, beispielsweise seine Finger zur Hilfe nehmen, um einfache Rechenaufgaben zu lösen. Auch kann er „nicht gleichzeitig reden und multiplizieren“. Andererseits ist er ohne weiteres in der Lage, tiefgründige Gespräche zu führen. Auch ist er außerordentlich neugierig und wissbegierig, aber auch für menschliche Maßstäbe unglaublich geduldig, wenn es darum geht, langfristige Beobachtungen anzustellen. So kann er sich etwa über Jahrzehnte in das Wachstum eines Stalagmits vertiefen, ohne sich zu rühren. Es sind all diese Unzulänglichkeiten, Eigenschaften und Charakterzüge, die ihn zu etwas ganz Außergewöhnlichem in der nun schon ein Jahrhundert alten Geschichte der fiktionalen Roboter machen.
Der Grund dafür, dass Helmling als einziger seiner Art in den beiden Romanen vorkommt, liegt nicht etwa darin, dass seine ‚Spezies’ ausgestorben ist, oder besser gesagt, die anderen Roboter zerstört wurden oder kaputt gegangen wären. Vielmehr wurden sie von den Menschen in die Freiheit entlassen, nachdem sie vor zwei Jahrhunderten ein Bewusstsein entwickelt hatten. Die Roboter dankten den Menschen und zogen sich in die „unberührte Wildnis“ zurück. Seither waren sie wie vom Erd- oder besser gesagt Mondboden verschluckt – bis einer von ihnen, nämlich Helmling aus dem Wald trat und einen verdutzten Teemönch Namens Dex mit den Worten begrüßte: „Was brauchst du, und wie kann ich dir dabei behilflich sein?“ Das klingt gerade so, als wolle er die dienende Rolle, die Roboter ehedem innehatten, von neuem übernehmen. Dem ist aber keineswegs so. Und dies nicht nur, weil sich die Frage im Laufe der Handlung von der individuellen Ebene auf die gar nicht so einfach zu beantwortende allgemeine Frage: „Was brauchen die Menschen?“ verschiebt und schließlich in derjenigen mündet, was der Roboter Helmling braucht.
Die Menschen des Romans leben nach einer vor sehr langer Zeit durch sie selbst auf ihrem „sattgrüne[n]“ Heimatmond Panga verursachten ökologischen Katastrophe in einer ruralen, spirituell aufgeladenen Gesellschaft, mit verschiedenen Religionsgemeinschaften. Es gibt unter anderem den „Ökologiker“, „Kosmiker“, „Charismatiker“ oder „Existenzialisten“. Die verstreut gelegenen Dörfer haben alle ihre besonderen Eigenarten. So gibt es etwa eine „auf exzentrische Weise schillernde“ Ortschaft, die „nur aus Müll erbaut[]“ ist. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Glaubensrichtungen und völlig diversen Dorfgemeinschaften leben die Menschen friedlich zusammen. Krieg oder auch nur Kämpfe, ja sogar Streit sind ihnen unbekannt. Alles strahlt Ruhe und Gelassenheit aus. Eine ähnlich heile Welt wie das Auenland. Nur wird sie nicht von üblen Mächten bedroht.
Die Dorfgemeinschaften leben von Viehzucht, Fischerei, Jagd und Landwirtschaft. Zugleich aber besitzen alle Menschen einen kleinen tragbaren persönlichen Computer, den sie als Jugendliche im Rahmen eines kleinen Initiationsritus geschenkt bekommen und der ein Leben lang hält. Selbst ein Satellitensystem betreiben sie. Ihr Wirtschaftssystem kommt dabei ganz ohne Geld aus. „Statt eines Währungssystems, das den individuellen Handel abbildet“, haben sie ein „System, das den Tausch innerhalb der Gemeinschaft ermöglicht“. Es gründet darauf, dass „jeder Tausch der Gemeinschaft als Ganzem zugute kommt.“ Ob das tatsächlich funktionieren würde, sei dahingestellt.
Jedenfalls ist Panga eine zwar postapokalyptische, aber keine dystopisch, sondern „eine gute, eine schöne Welt“, die allerdings „nicht perfekt“ ist. Damit steht sie in der Tradition feministischer Literaturutopien der 1970er Jahre. Dabei entsprechen manche ihrer Gepflogenheiten denjenigen, die Lesende des frühen 21. Jahrhunderts aus ihrem Alltag kennen dürften. Zum Beispiel anzustoßen, wenn man auf freundschaftlicher Basis gemeinsam ein Bier trinkt.
Dex ist gerade dabei, die ihm bekannte Welt zu verlassen und holpert mit seinem „Ochsenbike“ auf zunehmend unwegsamerem Gelände in die Wildnis, als er so unvermutet auf den Roboter stößt. Denn der größte Wunsch des Teemönchs ist es, einmal im Leben Grillen zirpen zu hören. Die aber, so heißt es, sind nur noch an einem äußerst unzugänglichen Ort zu finden, tief in der seit Menschengedenken nicht mehr betretenen Wildnis.
Er und Helmling sind die beiden zentralen Figuren des Romans und die Lesenden werden sie fortan auf ihrem gemeinsamen Weg begleiten. Erzählt das erste Buch davon, wie sich Dex in die Wildnis und somit in die Welt Helmlings begibt, so reisen beide im zweiten durch die Dörfer der Menschen, wobei der Roboter deren verschiedene Gepflogenheiten und Lebensweisen kennenlernt. Insofern ähnelt das Verhältnis beider Romane zueinander demjenigen von Charlotte Perkins Gilmans Herland und With her in Ourland.
Die beiden Figuren könnten unterschiedlicher nicht sein. So scheint es zumindest zunächst. Es dauert allerdings nicht lange, da entdecken sie schon eine erste, durchaus bedeutende Gemeinsamkeit. Beide verneinen sie, dass sie ein Geschlecht haben. Anders als Dex möchte Helmling aber nicht als mit dem Personalpronomen „ser“ adressiert werden. Denn „solche Wörter“ seien „für Menschen“. Er aber sei ein Gegenstand. Diese könnten „ein Der, eine Die oder ein Das sein, und ein Roboter ist ein Der“, erklärt er apodiktisch, wobei sich Übersetzerin Karin Will offenbar eine gewisse Freiheit herausgenommen hat. Auf den Einwand von Dex, er finde, Helmling sei „mehr als nur ein Gegenstand“ erwidert dieser „ein wenig gekränkt“, er würde „niemals sagen“, dass Dex „nur ein Tier“ sei, und dass sie „nicht zur selben Kategorie [gehören müssen], um gleichwertig zu sein“. Trotz der gemeinsamen Geschlechtslosigkeit gibt es aber doch auch in dieser Hinsicht einige Unterschiede. So ist es zwar nichts Besonderes für die Menschen Pangas geschlechtslos zu sein, bei den Robotern aber ist dies ausnahmslos der Fall. Auch hat Dex zwar kein Geschlecht, wohl aber Sex, und zwar (im Roman zumindest) nur mit Männern. Über Helmling erfährt man nichts dergleichen, allerdings zeigt er reges Interesse an den sexuellen Praktiken der Menschen.
Das Gespräch über Geschlecht und Gleichwertigkeit ist Beispiel dafür, wie die oft ethischen oder philosophischen Diskussionen und Erörterungen zwischen beiden geführt werden. In solche Gespräche verwickeln sie sich ein ums andere Mal, denn der Roboter hat völlig andere (Wert-)Vorstellungen als Dex und andere Menschen, was nicht selten dazu führt, die Sichtweise von Dex (und der Menschen) in Frage zu stellen. Oder aber sie versuchen gemeinsam ein Dilemma zu lösen oder ihm doch zumindest auf den Grund zu gehen, wie etwa „Winns Paradoxon“, dem zufolge „das Leben grundsätzlich mit sich selbst in Konflikt steht“. Dieses offenbar von der Autorin erdachte Paradoxon erinnert an Julius Bahnsens in seinem Werk Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt dargelegte „realdialektische“ Philosophie des Miserabilismus. Bahnsens Philosophie zufolge steht allerdings nicht nur das Leben mit sich selbst in einem unlösbaren Konflikt, sondern alles „empirisch-Erscheinende[]“ ebenso wie das „Wirkliche[] selber nach seinem Ansich“. Denn beide stehen in einem ubiquitären und ewigen Widerstreit mit sich selbst.
Anders als die stilistisch oft nicht ganz leicht verdaulichen Ausführungen Bahnsens bewegen sich die philosophischen Gespräche von Dex und Helmling jedoch nie auf einem abstrakten Niveau. Vielmehr führen sie ihre Debatten in einer alltäglichen Sprache anhand von beispielhaften Alltagsdingen – so etwa auch wenn sie über das Leib/Körper-Verhältnis disputieren, das allerdings nicht als solches benannt wird.
Nicht zuletzt solche Gespräche tragen die Freundschaft der beiden Reisenden ebenso wie den Roman als solchen. Doch werden auch Landschaften und insbesondere die von ihnen im zweiten Band besuchten Dörfer mit ihren Eigenheiten ausführlich beschrieben. Ebenso manche der alltäglichen Verrichtungen wie etwa die Zubereitung eines „Grashuhn[s] mit welkem Gemüse und karamellisierten Zwiebeln“. So etwas wie einen Spannungsbogen bietet die beschauliche Handlung hingegen nicht.
Eine spannende Lektüre ist somit nicht zu erwarten, wohl aber eine unterhaltsame und gelegentlich auch anregende.
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