Nerd 503
Hingabe und Widerstand in Jewgeni Samjatins „Wir“
Von Marcus Jensen
Besprochene Bücher / Literaturhinweise1. Groteske des Futurismus
Wir ist Samjatins bei weitem bekanntestes Buch, geschrieben 1920, erschienen erstmals vor jetzt hundert Jahren. Mit seiner Vision einer gläsernen Riesenstadt der grau uniformierten, kahlköpfigen, im Takt marschierenden, kopulierenden und Kunstnahrung kauenden Untertanen gilt er als der erste klassische Dystopist überhaupt – aber wollte er einer sein? Sein Verhältnis zu diesem namenlosen Ameisenstaat wirkt zwiespältig. Mal beschreibt er die kalte, glatte Welt des „Wohltäters“ und seiner zehn Millionen „Nummern“ satirisch bis burlesk, mal stellt er sie klar als unmenschlich dar, aber letztlich nimmt er diese glitzernde Kammerspieldiktatur doch hin als eine stabile Welt. Der Autor (1884-1937) hatte zum sowohl utopischen als auch zum dystopischen Charakter des Stoffs unterschiedliche Haltungen, so wechselt etwa die dominante Heldin irritierend zwischen System und Subversion. Zumindest gilt: Wir versammelt bereits alle Elemente eines abschreckenden Kontrollstaats in einer zwar nicht gut durchgearbeiteten, aber höchst beeindruckenden Vorschau.
Ganz wesentlich Aldous Huxley und teilweise George Orwell haben sich an dieser Palette des Totalitarismus Jahre später abgearbeitet – und sogar der Schöpfer des Star Wars-Universums, George Lucas, folgte Samjatin. In seinem frühen Spielfilm THX 1138 von 1971 sind die Personen dieser Laborwelt ebenfalls durchnummeriert, die Haarlosigkeit und die grauen Uniformen der Romanfiguren wurden wie das Klaustrophobische übernommen. Allerdings ließ Lucas nirgendwo durchblicken, er habe Wir gekannt. Auch der weit populärere Science-Fiction-Hollywoodstreifen Logan’s Run (Flucht ins 23. Jahrhundert), in dem nur junge Menschen in einer abgeschotteten Welt leben dürfen und der auf William F. Nolans gleichnamigem Roman von 1967 basiert, ist ohne Samjatins Vorlage kaum denkbar.
Wir, dieses Werk der vielen ersten Male, gilt laut der New York Times (2021) außerdem als das erste, das die junge Sowjetrepublik offiziell verbot. Es wurde zunächst Ende 1924 im ökonomischen Herzen des Klassenfeindes gedruckt, in New York City. So erschienen alle drei Romane, die das Genre der Dystopie begründeten (Samjatin-Huxley-Orwell), im Zeitraum eines Vierteljahrhunderts auf Englisch. Wir durfte erst während der Perestroika eine vollständige russische Veröffentlichung erleben.
Jewgeni Samjatin überschätzte tragischerweise die Hochblüte des frühen sowjetrussischen Kulturlebens, in dem der antibürgerliche Futurismus fortgesetzt werden durfte – bis Stalin alle Kunst einebnen ließ zugunsten lachender Traktorist:innen. Warum reagierte die Sowjetzensur auf Wir so heftig?
Zumindest anfangs bestimmt purer Futurismus den Roman. Es herrscht eine erbarmungslose Reduktion auf instrumentelle Vernunft, eine Radikalität, die der Begründer der Futurismus, Marinetti (1876-1944), mit seiner Vorstellung vom Massentod als Welthygiene, begrüßen müsste – aber es ist gallige Satire. Waren es Details, die für die Machthaber zu nahe dran waren? Einer der bekanntesten ketzerischen Aussprüche des Buches lautet: „Es gibt keine letzte Revolution.“ Vermutlich reichte der allgemeine Spott des Autors für dessen Blockade. Noch im Erscheinungsjahr 1924 rief Trotzki ernsthaft den kommenden sowjetischen „Übermenschen“ aus. Samjatin, Techniker wie sein Held und anfangs begeistert von den 1917er Revolutionen, stand zum Zeitpunkt der Niederschrift 1920 bereits auf der anderen Seite und lobte „die Häresie“ als unverzichtbare Kraft gegen die Forderungen nach Einstampfung des Alten. Er reflektierte den Futurismus, den er bereits 1921 „untergegangen“ nannte, und im selben Essay warf er dem Proletkult dessen „sehr reaktionäre Form“ vor. Eindeutig ist Samjatins „Häresie“ bürgerlich, individualistisch. Wir ist bei aller heute bedrückenden Vorschau ein sarkastischer Roman, der auch von der – vielleicht schuldbewussten – Selbstironie des Autors als Nerd und Ex-Bolschewik lebt.
Trotz Zensur durfte Samjatin zunächst weiterschreiben – was unglaublich ist angesichts seiner Glossen und satirischen Erzählungen. 1922 wurde er allerdings kurzzeitig inhaftiert. Aber erst als Wir Ende der Zwanzigerjahre verstümmelt und stark redigiert in einer Emigrantenzeitung auf Russisch erschien und in die UdSSR einsickerte, also für Sowjetmenschen greifbar wurde, musste der Autor um sein Leben fürchten. 1931 war er bereit, das Land zu verlassen. Im Ausreiseantrag an Stalin persönlich betonte er geschickt seine Zugehörigkeit zur Aufbruchsphase der sowjetischen Welt. Durch Hilfe seines Freundes Gorki wurde der Antrag genehmigt, Samjatin entging dem Schicksal so vieler anderer sowjetischer Künstler. In Paris starb er ein paar Jahre später mit Anfang fünfzig, krank und verarmt.
2. Was bedroht den Einzigen Staat?
Was machte die Provokation aus? Das Buch beginnt als eine helle, zwar erkennbar ironisch angelegte, aber doch – fatalistisch betrachtet – geltende, stabile Aussicht auf eine funktionierende durchrationalisierte Welt, circa anno 3000. Anders als bei Orwell ist sie nicht sofort erkennbar hässlich. Der 32-jährige Raketeningenieur D-503 identifiziert sich so sehr mit seiner Zeit, dass er jubelt: „(…) ich allein hatte den alten Gott und das alte Leben besiegt.“ Er ist der unverzichtbare Erbauer des Raumschiffs Integral, diesem „Elipsoid aus unserem Glas, dauerhaft wie Gold und biegsam wie Stahl“, dessen Testläufe Menschenleben verschlingen. Was aber alle hinnehmen, da sich für die große Sache jeder gerne „opfern“ würde.
Die Fülle von Samjatins Erfindungen ist beeindruckend: Die Menschen bewohnen riesige Blocks aus Glaskuben, der Nachwuchs entsteht durch elternlose „Kinderzucht”, eine KI komponiert „drei Sonaten in der Stunde“, es gibt senkrecht startende Flugzeuge wie Drohnentaxis und Bewusstseins-OPs: „Zentrum der Phantasie ist ein winziger Knoten an der Gehirnbasis. Eine dreimalige Bestrahlung dieses Knotens – und ihr seid von der Phantasie geheilt.“ Mit Phantasie ist die künstlerische, ausmalende gemeint, nicht die technische, die den Integral hervorbringt. Mit dem hier herrschenden Stechuhrleben feiert man eine historische Person, den US-Ingenieur Taylor (1856-1915) und dessen Ideen zur Zeitwirtschaft in Fabriken. Unter dem Einfluss von H. G. Wells, dessen Werk Samjatin sehr gut kannte, schrieb er satirisch über den anglo-amerikanischen Kapitalismus, eine scheinbar so gnadenlos durchgetaktete Welt wie der Einzige Staat in Wir. Dessen „Taylor-Exerzitien“ erlauben zwei „persönliche Stunden“ täglich. Die Einheitsnahrung „Naphta“, die kollektiv eingelöffelt wird, erinnert an heutige Hipster-Konzentrate, aber auch an den staatlich verabreichten täglichen Riegel Kinderscheiße in Wladimir Sorokins Sowjetgroteske Norma, entstanden vor über vierzig Jahren. Inkonsequenterweise gibt es sprechende Kochbücher, wo doch niemand selber kocht. Oft kippt etwas um in grotesken Situationen à la Gogol. Dass Samjatin Kafka gelesen haben könnte, ist extrem unwahrscheinlich, aber ein Gogol-Kenner war er. So schrieb er zum Beispiel das Libretto zu Schostakowitschs Opernfassung von Die Nase.
Die jährliche Wiederwahl des „Wohltäters“, der „weise, gütig und streng wie der Gott der Alten“ sei und auch mit „Sokrates“ verglichen wird, ist ein symbolischer, schöner Akt. Das „segensreiche Joch der Vernunft“ muss scheinbar gar nicht verteidigt werden – die Geheimdiensttruppe der „Beschützer“ ist eine ziemlich matte Version der sowjetischen Tscheka. Kurz: Es herrscht nahezu luftdichte Einheit, der Staat dürfte vor nichts Angst haben.
Mit dem eifrigen Spitzentechniker hat Samjatin auch etwas personell Neues eingeführt: den Nerd. Bisherige Fachidioten, die in Romanen ihre Lebenssicht als absolut setzen durften, waren Wissenschaftler gewesen, in ihren Zirkeln integriert oder gekennzeichnet als Ausgestoßene. Wells schickte Forscher durch Raum und Zeit oder ließ sie sich als Mad Scientists verstecken – aber Samjatins Protagonist D-503 ist Techniker. Er stellt zu seiner Körperlichkeit immer wieder Maschinenvergleiche an. Die Perspektive des anfangs großspurigen Ich-Erzählers (oft mehr Geek als Nerd), seine bis zum Schluss nahezu ungebrochene Bejubelung des KI-Staats und des Wohltäters ist die eines Betriebsblinden, der sich selbst als humorlos lobt, aber erkennbar lächerlich ist. Er will die Botschaft seiner Welt ins All tragen und würde die wenigen Störrischen zu ihrem Glück im „mathematisch vollkommenen Leben“ zwingen.
Sein offenbar staatlicherseits gar nicht verbotenes Tagebuch, das sich an die Reiseziele seines Raumschiffs wendet, an „Venusbewohner“ und „Uranusmenschen“, liest sich anfangs wie eine groteske Umkehrung der Verzweiflungs-Aufzeichnungen, die Orwell seinen Helden Winston Smith in 1984 geheim schreiben lässt. D-503 benutzt die Notizen aber auch zur Selbstkontrolle, als „Seismograph“. Was bedeutet, dass er seinen letzten animalischen Anteilen misstraut, den Schatten eines diffus vor-rationalen, schmutzigen Lebens. Er möchte prüfen, ob auf dem Papier etwas aufscheint, das in seinen reinen Gedanken keinen Platz hat. Der Erzähler schämt sich für seine „häßliche Affenhand“, weil sie behaart ist und ihn an eine „Pfote“ erinnert.
Samjatin, zur Zeit der Niederschrift schon auf Gegenkurs zu 1917, fast schon Dissident, schrieb mit Wir keine reine Satire, denn D-503 ist auch eine bittere Eigenkarikatur im Sinne einer bereits zurückschauenden Auseinandersetzung mit dem Lebensweg des Autors. Die ausgestellte Kunstfigur, die sich anfangs ganz mit dem Nihilismus (statt Gott gibt es nur „das nackte Nichts“) und der „Entropie“ dieser insektoiden Riesensekte identifiziert, soll gar nicht realistisch sein. Seine Sicht auf Weiblichkeit ist entweder geringschätzig oder unterwürfig. Seine handfeste, auf ihn seit drei Jahren „eingetragene“ Liebhaberin O-90 betrachtet er als romantisch Daherplappernde, und die elegante I-330 überrascht ihn mit ihrer intellektuellen Ironie, sie sei „rätselhaft“. Das Frauenbild hat sich im tausendjährigen Fortschrittsschub kein Stück entwickelt.
D-503 ist so alt wie der Autor unmittelbar vor den 1917er Revolutionen, als Samjatin in der Phase der Aufbruchseuphorie von sich und seinem Einfluss begeistert war. Da das Alter 32 explizit genannt wird und Samjatin zum Zeitpunkt der Februarrevolution, die die Zarenmacht beendete, gerade 33 geworden war, könnte die 32 darauf hindeuten, dass der Romanheld eben noch nicht ganz der neuen Welt angehört. Wahrscheinlich hatte der kurzzeitig überzeugte Bolschewik Samjatin nach den ersten zwei Jahren unter Lenin und dem Zurückdrängen der Konterrevolte der Weißen Armee das Gefühl, das Neue habe sich durchgesetzt und könne Ironie vertragen. Ein fataler Irrtum. Im Erscheinungsjahr 1924 schrieb er in einem Aufsatz: „Ketzer sind die einzige (bittere) Medizin gegen die Entropie des menschliches Denkens.“ Der Autor verstand Wir vermutlich als einen lockernden Dienst an der einmal geliebten Sache. Sein erstes Theaterstück, entstanden gleich danach, spielt dann schon zur Zeit der spanischen Inquisition.
Im Roman wird ein sündiger Dichter – dessen Aufgabe darin bestanden hätte, den Staat zu bejubeln – vom Wohltäter, der dafür offenbar Zeit hat, persönlich hingerichtet mit einer Plasmastrahl-Maschine. Das habe etwas „Reinigendes“, und der Untertan, der „die logischen Folgen seiner Wahnsinnstat erwartete“ und einsah, „zerschmolz“ dann. Was genau ist das Vergehen? Wohltäter und Staat sind zwar deckungsgleich, aber mit dem Tode bestraft werden noch keine „Gedankenverbrechen“ wie bei Orwell, sondern Manifestationen des Eigenen, in Handlungen, Schriften oder Aussprüchen. Dieses Gemeinwesen der vollen bejahten Kontrolle hat keine explizite Gesetzgebung und zeigt kein Ziel außer Expansion ins All (nicht etwa in die Welt!). Aber Samjatin mit seiner Ausrichtung gegen den Futurismus brauchte für die erhoffte Leserschaft nicht zu begründen, was hier Sünde ist: Individualismus.
Der Staat fürchtet dabei nichts Körperliches. Die Sexualität ist zwar getaktet, wird aber nicht beobachtet. Es sind kurze, harmlose Doktorspiele. Die kaum skizzierten Kopulationen des Nerds mit seiner O-90, die ihn liebt und sogar ein verbotenes leibliches Kind mit ihm haben will, wirken wie populäre Verrichtungen, „nur selten“ vernehme man das „wilde Echo des Affen“. In diesem Dualismus aus rationalen Nackten und haarigen Wilden müssen alle Staatstreuen vor dem Akt ein „rosa Billett“ lösen und in ihren gläsernen Zellen einen Vorhang zuziehen für eine Viertelstunde.
Das ist unlogisch, unfuturistisch.
Die Rosa-Billett-Minuten sagen nichts über den Sex in dieser Welt aus, ob er lustvoll ist oder unter „tayloristischen“ Zwängen steht. Leider, denn das wäre literarisch höchst interessant gewesen, aber Anfang der 1920er natürlich zu gewagt. Immerhin gibt es ein Recht auf Sex und offiziell keine Eifersucht; die verordneten Verbindungen wechseln. Es ist im Rahmen dieser leidenschaftsentschärften Regelwelt widersprüchlich, dass dies kein Riesenswingerclub sein soll, in dem die heiteren Glatzköpfigen alle anderen gleichgültig bei der offenbar immer unproblematischen Verrichtung betrachten. Denn schließlich bestätigt es das System, da die Paare von der KI verkuppelt wurden je nach dem von „Laboratorien“ ermittelten „Gehalt an Geschlechtshormonen“. O-90 „geniert“ sich ohne das feste Ritual. Samjatin kannte natürlich das kindliche Volk der „Eloi“ aus Wells‘ Zeitmaschine.
Sex dient – anders als bei Huxley – nicht zur Ruhigstellung, und auch Huxleys „Reservat“ ist als eine bewusste Auslagerung gemeint. D-503 weiß zwar von „der wilden, unbekannten Weite jenseits der Grünen Mauer“ um die Stadt, aber da diese Anarchie kein Gesicht und keinen Namen hat und „keiner von uns“ je drüben gewesen ist, greift die Alternativwelt weder an, noch provoziert sie gedanklich. Die Mauer aus dem Staatsmaterial Glas schließt „Bäume, Vögel und Tiere“ aus, Letztere schauen gerne ab und zu durch dieses riesige Schaufenster hinein, mehr nicht.
Wozu gibt es tausend sichere Jahre in der Zukunft noch „Historiker“ und „Archäologen“, die aber nicht wissen, was Brot war? Warum kennt D-503 Kant, Puschkin, Shakespeare, Dostojewski, Buddha, die Zehn Gebote und die „assyrischen Reliefs“? Viele der unlogischen Elemente des Romans sind regressiv wie behaarte Hände.
Dramaturgisch dienen alle Personen außer I-330 als Staffage, greifen nie verändernd ein, schubsen den Helden nicht, sondern bilden höchstens Prallkörper für eine zwar technisch kluge, aber sozial dümmliche Kugel, die durch einen Flipperautomaten schießt. Der Held lässt an Neuem allein das zu, was I-330 ihm aufdrückt oder einflüstert. Nicht mal die von ihm geschwängerte O-90 rettet er dadurch, dass er sie im Naturvolk jenseits der Mauer unterbringt, wo sie ihr illegales Kind bekommen dürfte. I-330 übernimmt dies für den Willenlosen.
Insofern bewahrheitet sich tatsächlich dessen Sicht auf diese Welt: nämlich als einer gesetzmäßigen. Angeblich sei das Problem des Helden dessen „Phantasie“, die ihm später ausgebrannt wird. Aber er war, ist und bleibt ein Gefügiger – es geht um Verführung von außen, nicht um Phantasie. Ohne I-330 täte sich nichts in Wir, diesem Kammerspiel aus zwei Personen – denn O-90 ist lediglich eine Nebenfigur. Der immer harmlose D-503 entwickelt keine eigenen Gedanken, die zu Handlungen führen.
3. Der Bruch: Skrjabin gegen Integral
Der erste Stoß ist ein Skrjabin-Gesellschaftsabend. Die omnipotente I-330 als Pianistin trägt historisierende, weil körperbetonende Kleidung und spielt das antike Instrument. Sie war es, die D-503 ins „Auditorium“ per „Befehl“ beordert hatte. Es ist ganz legal. Der Einzige Staat hat nichts gegen Skrjabin, obwohl alte Musik an die Ära vor der KI-„Musikfabrik“ erinnert, als Begeisterung „eine Form der Epilepsie“ war, also gefährlich sein müsste. Der urbürgerliche Abend – ein weiteres widersprüchliches Element – wird von fast allen Nummern schmunzelnd begleitet, aber nicht gestört. Das ist alles andere als gläserner Proletkult. Der Name des Komponisten ist dem Helden offenbar bekannt. Der hier entspannt wirkende Staat duldet, dass Skrjabin als Vertretung des vorrevolutionären Mütterchen Russland diesen treuen Diener D-503 auf eine unerklärliche Weise packt „wie ein Biß“, während die Nummern um ihn herum „lachten“. Dann rastet er vorläufig wieder ein. Leider bleibt offen, welches Stück die Verführerin I-330 spielt, oder ob es eine bestimmte Stelle war, die den Eiferer auf einen Trip setzte. Der nun verwirrte D-503 entschuldigt sich für seine anarchistischen Anflutungen und auch für bloße Träume. Ein Arzt des Staates, Liebhaber von I-330, stellt fest – und es ist das bekannteste Bild aus dem Roman neben den rosa Billetts: „‚Bei Ihnen hat sich offenbar eine Seele gebildet.‘“
Ein sehr Gogolscher Einfall.
Verhaftet wird der Held deswegen nicht. Als wüsste der smarte Staat, dass D-503 weder eine unheilbare „Seele“ noch eine gefährliche „Phantasie“ hat, sondern beides nur dann zeigt, wenn die Geliebte um ihn ist und Abweichungen einfordert. Sein Kippen wird allein durch eine freie Frau eingeleitet. Der Nerd wehrt sich gegen nichts.
Die staatsgefährdende Staatsvertreterin I-330 ist eine unausgearbeitete Figur, die beliebig aus dem System heraus D-503 in schockierende Situationen entführen darf. Also genehmigt nach der Romanlogik die rationale Kontrollwelt den Kontakt zur überwunden geglaubten emotionalen, altrussischen Welt.
Die Doppelagentin reißt den Helden mit sich, sie fliegen mit einem der Drohnentaxis Richtung „Wirrwarr“, zum einzigen Überbleibsel des Nichtgläsernen, sie besuchen das „Alte Haus“. Dort treffen sie auf deren Concierge, die „Alte“, die die „tollkühne“ I-330 als Stammgast begrüßt. Sie ist wie Skrjabin ein Mütterchen Russland und neben dem Wohltäter die einzige alte Person im Kammerspiel. Dieser Altbau, der Samjatins gutbürgerliche Kindheit und Jugend spiegelt, ist nichts Verbotenes, er liegt zwar an der Grünen Mauer, aber eben innerhalb. Selbst die „endlosen Korridore“ im Keller lassen den Helden nie daran denken, sie könnten unter der Mauer hinweg ins Neue verlaufen. Er sucht solche Wege gar nicht. Immerhin erlebt der Nerd mit I-330 nun Eifersucht, er will sie nicht teilen. „Ich bestehe doch nur aus Gleichungen, Formeln und Zahlen – und nun plötzlich dies! Ich begreife es nicht!“
Das Gefühl von körperlicher Herkunft und Vergangenheit überhaupt sickert ein. Die mit dem Staat irritierend eng zusammenhängende Honigfalle I-330, die mit vielen schläft, wirkt lange Zeit wie eine Fusion aus Julia und O’Brien in Orwells Dystopie. Sie hat Macht und die Befugnis, Regeln zu brechen, raucht Zigaretten, trinkt grünen Likör (Absinth?), und ihre Widerständigkeit ist recht offen. Es bleibt rätselhaft, wieso die Beschützer nichts gegen den Vamp und ihre freie, alte Lebensform unternehmen.
Einem dieser Revolutionswächter petzt der verführte Held sein Erlebnis mündlich – und der ist amüsiert, ja gratuliert ihm dazu, man kenne die I nicht anders. Mit ihr will D-503, ab jetzt ein Sklave, nun „reifen“. Sie lässt sich staatlicherseits auf ihn „eintragen“, wird als Intimpartnerin unterstützt, obwohl der nach allen Seiten gehorsame Held sie bereits privat angeschwärzt hatte, ohne Folgen. Mehr noch: Sie droht ihrem neuen Lover, weil er sie eben nicht formell angezeigt hatte, was aber doch seine Pflicht gewesen wäre.
I-330 betreibt beliebig auch die Geschäfte des Staates, sie ist nicht nur ein widersprüchlicher Charakter, sondern nach den Bedingungen des Romans geradezu absurd. Wie konnte diese zwischen System und Revolte wechselnde Domina vom Autor angelegt sein?
Wir, eine Versuchsanordnung, ist sehr schnell entstanden, was wieder auf eine Meta-Weise zu dem Nerd passen würde, der vom Autor hindurchgetrieben wird, im kompakten Zeitraum von etwa vier Monaten. Vermutlich konzipierte Samjatin die Heldin kaum. Sie verkörpert das Prinzip der maximalen Durchrüttelung des Nerds, emotional wie moralisch. Aber: Episch betrachtet ist die Figur unhaltbar. Was bleibt vom Konzept dieses Staates, wenn dessen Dysfunktion stets möglich ist?
Orwell stellte in einem Tribune-Artikel vom 4. Januar 1946 fest, dass seine (kommende) Hauptkonkurrenzdystopie von 1932, Huxleys Brave New World, Samjatins Buch als Vorlage benutzt haben müsse: „The atmosphere of the two books is similar, and it is roughly speaking the same kind of society that is being described, though Huxley’s book shows less political awareness and is more influenced by recent biological and psychological theories.”
Auf der anderen Seite hält Orwell die Todesstrafe und die Gottfigur als Kennzeichen des Totalitarismus für so wesentlich, dass diese Dystopie die Brave New World doch aussticht: „that makes Zamyatin’s book superior to Huyley’s.“
Wir ist rein literarisch ein nicht sehr durchgearbeiteter Schnellschuss mit vielen Widersprüchen und manchen nur geträumten Szenen (Orwell: „it has a rather weak and episodic plot“), aber als Weltentwurf strategisch genial. Der Staat fühlt sich nicht vom wilden Mütterchen Russland bedroht, aber kann gar nicht auf etwas anderes reagieren, mangels äußerer Feinde und mangels Expansionsdrang. Die Berührung der struppigen, anarchistischen Wilden von jenseits der Mauer mit den glatzköpfigen, uniformierten Nummern liegt bei: null. Der Weltenwandlerin I-330 geht es gut, sie darf tun und lassen, was sie will, und den Nerd beglückt jeder Dienst. Wozu eine Rebellion?
4. Der Aufstand: nutzloser Integral
Nicht mal die versuchte (Konter-)Revolution im Buch kann D-503 mitreißen. Während der großen 48. Wiederwahl des Wohltäters erheben sich in dessen Anwesenheit plötzlich „Tausende von Händen“, die „dagegen“ sind, gegen die Bestätigung des rationalen Gottes. Die Heldin hatte sich auch gemeldet – der Held nicht. Die Gegner lösen einen Tumult aus, unmotiviert, da bisher keine latente Unzufriedenheit der Masse mit diesem Staat spürbar war. Struktur und Ausrichtung der Widerstandsgruppe „Mephi“ werden kaum erklärt. Über ihre Ziele heißt es nur: „(…) auf daß der frische, grüne Wind die ganze Erde erfasse.“ Das ist das Programm. Die behaarten Mephis wollen nichts Böses, sondern fürchten lediglich, dass die Glaswelt sich auch noch aufs ganze All ausbreiten könnte. Aber im sie ernährenden Wald waren und wären sie sicher, der Staat greift sie nie an, dessen Truppe beschäftigt sich bloß mit der Großstadtblase.
Die Wilden dringen offenbar über das von den Beschützern nie untersuchte Tunnelsystem des Alten Hauses in die Glaswelt ein und plakatieren dort freundlicherweise zunächst lediglich ihren Namen auf die Scheiben. Anfangs werden sie kaum verfolgt, die Beschützer brauchen sehr lange, um zu reagieren. Die – wieder so inkonsequente – Schwächlichkeit dieses KI-Kommunismus liegt trotz der Todesstrafe auf der Hand. Orwell schüttelte 1946 den Kopf: „it is difficult to believe that such a society could endure.” Allerdings hatte Orwell Stalins Herrschaft vor Augen, und als Wir entstand, hieß der Diktator noch Lenin, und nicht einmal die Neue Ökonomische Politik war ausgerufen – Samjatin schrieb in chaotischen Zeiten.
Erst jetzt, nach dem Aufstand, geht es hinaus: I schnappt sich D und führt ihn unter der Mauer hindurch auf eine Wiese, „etwas widerlich Weiches, Lebendiges, Grünes“. Was „hinter der grünen Mauer” liegt, erinnert an Orwells „Goldenes Land“ in 1984, ersehnt vom Helden Winston Smith. Der phantasielose Held in Wir dagegen hat sich wieder leiten lassen, und seine angebliche „Seele“ freut sich keineswegs. Er trifft behaarte Nackte, die seine Sprache sprechen, die einen sind arkadisch Weidende, die anderen wilde Kämpfer. Samjatin als Kenner von H. G. Wells hat mit den Mephis eine Fusion aus Eloi und Morlocks geschaffen. Endlich wird dem Helden die Lebensalternative leibhaftig vorgeführt – aber er denkt auch jetzt nicht über einen Ausbruch nach, alles Wilde wird bloß an ihn herangetragen. Was I-330 ihm einflüstert („Auch in dir ist wahrscheinlich ein Tropfen Sonnen- und Waldblut“) und was der Grund gewesen sein soll, weshalb sie ihn aussuchte, erweist sich als blindes Motiv. Selbst lange nach seinem Ausflug bleibt er staatstreu: „(…) in meiner letzten Minute werde ich dankbar und ergeben die strafende Hand des Wohltäters küssen.“ Eine Schwerkraft zieht ihn immer ins Glasleben zurück. I-330 als sein größtes Abenteuer ist eine nur halb verbotene Affäre mit dem Unbekannten. Ihr Status bleibt bis zum Ende unerklärt, aber seiner lautet: passiv.
Selbst als es um seinen heiligen Integral geht.
I als Anführerin des Widerstands will das Raumschiff kapern für den Angriff, wie einen Kampfjet. Ihre inhaltsarme Begründung: „Der Integral ist unsere Waffe, mit deren Hilfe wir allem mit einem Schlag ein Ende machen können.“ Auch wohin es gehen soll, wird nicht gesagt. Die Kämpferin zieht D-503 in diesen diffus vitalistischen Widerstand hinein, was dieser sofort akzeptiert, seinerseits auch ohne Begründung. Sie erzählt ihm die MEPHI-Geschichte: Menschen konnten sich dem System verweigern und sich jenseits der Mauer entziehen: „Nackt flohen sie in die Wälder.“ Sie erklärt MEPHI mit „Antichristen“, was auf ein ehemals religiöses System hindeutet („eure Vorfahren, die Christen“), also eine ganz andere Welt über tausend Jahre zuvor meint.
Selbst der Start des Raumschiffs mit eingeschmuggelten Rebellen an Bord ist ein totes Gleis. Er dient nur dazu, den Integral in die Handlung zu integrieren, denn es passiert nichts. Der Jungfernflug des gläsernen Symbols erinnert an das Abheben einer Mischung aus Kreuzer und U-Boot, wie eine Vorwegnahme des Steam Punk. Es startet und fliegt über echte Landschaft und echte Menschen auf Pferden, dann sinkt die Maschine auf die Erde zurück, Bordingenieur D-503 wird ohnmächtig und erwacht in seinem Glaszimmer in der Stadt. Gab es eine Bruchlandung? Das scheint den Erbauer des Juwels gar nicht zu interessieren.
Was wurde inzwischen aus der Rebellion? Nicht sehr viel, außer dass man die Grüne Mauer „niedergerissen“ und viele Gebäude zerstört hat, auch Billett-freie Liebe gibt es nun an einigen Stellen, aber die echten Menschen lösten keine Massenbewegung unter den Domestizierten aus.
Der angegriffene Staat scheint sogar Zeit zu haben: Der Wohltäter ruft den verräterischen Held, der die Kaperung des Integral durch die Mephis zuließ, persönlich an und beordert ihn zu sich. Nach einer Predigt des Diktators über die Sehnsucht der Menschen nach Führung darf D-503 rauslaufen, wird nicht bestraft. Weiß der Wohltäter, dass seine lenkbare Nummer nur aus Anstiftung seine Maschine missbrauchte? Der Herrscher ist nicht mal bei seiner Abschlussrede Auge in Auge mit dem Sünder ein Großinquisitor, sondern eher ein Grüßaugust eines unsichtbaren Algorithmus, er fällt keine Entscheidungen.
D-503 findet I-330 in seinem Glaskasten vor. Sie hat zwar zunächst überlebt, aber weiß, dass sie nun plötzlich doch abgeholt werden soll, obwohl sie zuvor noch frei gewesen war. Man geht auseinander ohne Aussprache. Er selbst wird geschnappt für die Phantasie-Extraktion. Die OP verwandelt ihn wieder in eine hingebungsvolle Nummer – so kannte man ihn eh. Er schaut zu, wie I-330 durch Gas gefoltert, aber nicht gebrochen wird, und weiß, dass ihr am nächsten Tag die Hinrichtung droht. Wozu die Folter? Warum soll sie ein „Geständnis“ ablegen und welches sollte das sein? Es bleibt unklar, warum der fast allmächtige Staat die Widerständler nicht einfach zwangsoperiert, was rational billiger und effektiver wäre, denn die Blitzgehirnwäsche ist bloß ein Bestrahlungsakt. Der Autor brauchte offenbar das dramatische Element.
5. Rückblick
Samjatin bietet keine anreizende Alternative zu diesem Staat, und das ist ja auch nicht die Aufgabe einer Dystopie, aber es geht darüber hinaus, denn er hielt einen solchen Staat für lebensfähig, zumindest für denkbar. Das Alte Haus, die Alte, Skrjabin und Sex mit der heißen I sind erlaubt, vor allem letztlich auch die gesamte dreckige Welt außerhalb. Dramaturgisch wurde Wir mit heißer Nadel gestrickt und ist unter den großen Dystopien die handwerklich schwächste. In der hastigen Zusammenfügung genialer erster Ideen erinnert Samjatin an Philip K. Dick. Die Fülle von zeitgeistigen Würfen beeindruckt über hundert Jahre noch: Jedes seiner eingeführten futuristischen Elemente erweist sich heute als erhaben. Im Gegensatz zu seinen folgenden Konkurrenten im Rattenrennen um die zutreffendste Dystopie wagte Samjatin eine streckenweise naiv wirkende Durchgestaltung, die in der Science-Fiction sonst fast immer bald ins Lächerliche umkippt, aber selbst da, wo in Wir die Utopie abgelehnt wird, bleibt sie das Kommende.
Kann man hier wirklich von einer Dystopie reden? Sehr wichtig ist, dass diese Zukunft als stabil dasteht und von D-503 nie angeklagt wird. Dem Helden geht es kaum einmal schlecht. Er ist die Karikatur eines Futuristen, und Wir ist überwiegend als Rückschau auf früheste sowjetische Perspektiven angelegt und nicht so sehr als Vorausblick auf eine grausige sowjetische Zukunft. Stalin hatte 1920 noch nicht die Macht. Bürger Samjatin gab einem Proletkult nicht mal außerhalb der Mauer eine Basis. Arbeiter spielen in Wir fast keine Rolle, Bauern gar keine, ebenso wenig Ökonomie. Es ist ein Kammerspiel zur kulturellen Bestandsaufnahme. Samjatins erzählerische Stärke liegt in der Groteske und Verfremdung, das Gogolsche Element (etwa wie in der Geschichte „X“ von 1926) bezeichnet sein Profil. Auf einer Meta-Ebene gedachte der Autor diesen fiktionalen Staat nicht abzuschaffen, sondern wollte, dass beide Welten nebeneinander gelten dürfen: Mütterchen Russland und der technische Aufbruch.