Überall ist Barbarei

Susanne Tichy untersucht „Darstellung und epochale Konfiguration italienischer Geschichte in ausgewählten Texten der französischen Literatur“

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob und wie ‚barbarisch‘ die Verhältnisse im Mittelalter waren, ist eine Frage, die auf allumfassender Ebene von den Menschen, die in dieser Epoche lebten, sicherlich so nicht gestellt wurde. Abgesehen davon, dass der Begriff selbst in tendenziell abschätziger Konnotation erst von Intellektuellen nach dem Ende dieses Zeitraums, dessen genaue Dauer ebenfalls nicht eindeutig zu belegen ist, geprägt wurde und die als degeneriert verstandene Zeit zwischen einer ‚goldenen Antike‘ und ihrer ‚Wiederbelebung‘, der Renaissance, definierte, spricht vieles dafür, dass zumindest die Gebildeten in jenem ‚barbarischen Millennium‘ eher davon ausgingen, in der Endzeit der Geschichte zu leben.

Die (Be-)Wertung des Mittelalters unterlag insbesondere im nordalpinen Bereich in den folgenden Jahrhunderten immer wieder Schwankungen, die von anhaltender Verdammung bis zu enthusiastischer Begeisterung reichten. Im letzteren Fall ging es vornehmlich um individuelle Eigen(er)findung beziehungsweise um nationale Verortung in den Kontext einer als glorreich empfundenen Tradition hinein.

Für die vorliegende Publikation gelten derlei Beweggründe allerdings nur bedingt, ist es Susanne Tichy in Barbarisches Mittelalter und die Kunst der Renaissance doch daran gelegen, die Ideen der französischen Romantik respektive derjenigen, die in dieser literarischen Epoche geschrieben haben, über das Mittelalter in Italien darzustellen und zu untersuchen. Die entsprechende Perspektive scheint in der deutschsprachigen Forschung tatsächlich eher randständig thematisiert zu werden, was mutmaßlich mit dem Blick auf die eigene romantische Tradition einer Apotheose des Mittelalters zusammenhängen wird. Und, wie Tichy eingangs bereits feststellt: „[…] das Italien der Vergangenheit, genauer: zwischen kommunaler Periode und Gegenreformation, ist für die in dieser Studie zu Wort kommenden französischen Intellektuellen ein in zweifacher Hinsicht fremder Nachbar.“

Dass derlei Prozesse allein aufgrund dieser doppelten Fremdheit von komplexer Natur sein mussten, liegt auf der Hand. Im Zuge ihrer Untersuchungen macht Tichy deutlich, dass die künstlerisch-produktive Auseinandersetzung der französischen Intellektuellen mit im weiteren wie engeren Sinne ‚fremden‘ Zeiten und Räumen ihrerseits keineswegs aus dem Kontext (zeit-)geschichtlicher Entwicklungen herausgelöst werden kann. Das gilt nicht nur angesichts der politischen Veränderungen in Italien, die sich in der Risorgimento-Bewegung bündelten und an deren Ende schließlich der moderne Nationalstaat Italien mit der Hauptstadt Rom stand, sondern auch der gleichzeitigen Ereignisse in Frankreich selbst, sodass ein wechselwirkender Prozess der Reflektion und mehr noch Identifikation des Eigenen wie auch des Anderen im Rahmen des Interesses an diesem Sujet beobachtet werden mag.

Eingebettet ist das Vorhaben in die Betrachtung zunächst der sowohl historiographischen als auch literarischen Voraussetzungen, aus denen das Romantische entstehen und sich schließlich produktiv weiterentwickeln konnte. Gedacht und betrachtet im Spannungsbogen von barbarischen Anfängen des früheren Mittelalters bis zur künstlerischen Vollendung in der Renaissance wirft die Autorin auch die Frage nach einer epochalen Modellierung dieses circa 1000-jährigen Zeitraums auf. Ausgangspunkt ist hier zwar zunächst die Entstehung der Epochenvorstellung(en) im Zuge intellektueller Überlegungen zur Zeit der Renaissance, dieser Prozess wird jedoch nicht als absolut und alleingültig angesehen. Statt ausschließlich eindimensionaler und isolierter Betrachtung werden in der Publikation konkurrierende Diskurse und alternative Geschichtsmodelle miteinbezogen und eine Analyse des Wechselverhältnisses zwischen den Begriffen moyen âge und Renaissance erstellt.

Ihre Untersuchungen lässt Tichy mit einem Blick auf ein – anfänglich fälschlicherweise Leonardo da Vinci zugeschriebenen – Porträt des Papstes Cesare Borgia beginnen, den (beziehungsweise hier primär seine bildliche Darstellung) sie sowohl hinsichtlich der italienischen als auch französischen Rezeptionsposition als eine der archetypischen Komponenten ansieht, anhand derer die Nachgeborenen historisch-politische Entwicklungen, ja auch epochenbildende Begrifflichkeiten nicht nur gewissermaßen aufdecken, sondern nicht zuletzt generieren konnten. Bereits hier, auf den ersten Seiten macht sie deutlich, dass zum einen keine Eindeutigkeit hinsichtlich dieser beiden Aspekte besteht und auch nicht bestehen kann, weil zum anderen vermeintliche Gewissheiten sich oft bereits auf den zweiten Blick auflösen. Die angedeutete Komponente von durchgängiger Uneindeutigkeit ließ im in den Fokus gestellten 19. Jahrhundert und grundsätzlich auch bis in unsere Tage unterschiedliche und mitunter extrem widersprüchliche Sichtweisen zu, die eine Eindeutigkeit verweigern.

Nachdem die Textauswahl begründet und die Gliederung vorgestellt ist, resümiert die Autorin „Historiographische Darstellungsformen und Darstellungsmodelle vom späten 17. bis Anfang des 19. Jahrhunderts“. Hierbei werden bekannte und weniger bekannte Namen als Kronzeugen bemüht; die Reihe erstreckt sich von Charles Perrault über Voltaire und Saverio Bettinelli bis zu Pierre-Louis Gingueré. Hierbei wird durchaus auf den Umstand eingegangen, dass es in der französischsprachlichen Historiographie zunächst um die Definition einer renaissance française ging, ehe, gewissermaßen den Gesetzen einer übergreifenden kulturgeschichtlichen Perspektive – und denen zeitlicher Abfolgen – gehorchend, auch das Kernland der europäischen Renaissance, Italien, in den Blick genommen wurde. Diese perspektivische Erweiterung wird auf den folgenden Seiten dann unter dem Titel „Das französische Italienbild in seiner historischen Entwicklung“ verdichtend dargelegt, bevor sich die Autorin den ausgewählten Texten zuwendet.

Zunächst werden Texte und Perspektiven von Germaine de Staël und Sismondi (eigentlich Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi) untersucht. Dabei geht Tichy auf die Besonderheiten und Interessen der ausgewählten Protagonisten ein, erläutert die zeitgenössischen Rahmenbedingungen wie auch die Aspekte der Rezeption und versucht, bei allen Unterschieden auch Gemeinsames aufzudecken. Es ist aus der Perspektive gegenwärtiger wissenschaftlicher Objektivität nicht wirklich schwierig, das Subjektive, bisweilen gar Unfertige zu monieren. Allein der Umstand, dass Sismondi seinen Nachnamen gewissermaßen italienisiert, lässt die Vermutung nicht abwegig erscheinen, dass sein Italienbild von (womöglich zu ausgeprägter) Bewunderung geprägt und die Bewertung seines Sujets, des italienischen Mittelalters und seiner kulturellen Leistungen, zu positiv ausgefallen waren.

Aber bereits Germaine de Staël, so das aus den Textquellen gewonnene Ergebnis, sah diese Epoche keineswegs als bloße, gewissermaßen stumpfe und dumpfe Zwischenzeit an. Sismondi jedoch ging insofern noch einmal weiter, als er das Mittelalter in Italien „zur entscheidenden, inspirierenden Phase der italienischen Geschichte, deren Ausläufer und Nachwirkungen sich über einen langen Zeitraum erstreckten“, erhob. Der Weg in die Renaissance war demgemäß eben kein Bruch, sondern eine in sich vorgegebene und notwendige Metamorphose.

Diese Sichtweisen wurden, so Tichy, somit auch Stendhal, dem „berühmten Leser“ dieser beiden Autoren, nahegelegt, der indes andere als historische Akzente zu setzen suchte. Und auch, wenn er sein Pseudonym nach einer mitteldeutschen Stadt mit auch heute noch erkennbarer architektonischer Mittelalterpräsenz wählte, ging es Stendhal darum, „den weiten Raum des italienischen Mittelalters literarisch auszuloten“. „Kleine Tyrannen und große Leidenschaften“ ist demnach folgerichtig der nächste Hauptpunkt überschrieben, in dem es um „Stendhal und Italien“ geht. Anhand der als Beispiele herangezogenen Romane gelangt Tichy zu dem interessanten Fazit:

Stendhals Konzept des italienischen Mittelalters ist aus der Auseinandersetzung mit den historischen Zeugnissen und den Vermittlertexten, als Reaktion auf vorgängige Italiendarstellungen und im Kontakt mit der Mailänder romantischen Bewegung entstanden, erlebt jedoch in seinen Werken eine Entwicklung, die über diese Impulse weit hinausgeht.

Eine erweiterte Variante dieser Entwicklungen wird anhand der französischsprachigen Übertragung der Scienza nuova des Giambattista Vico durch Jules Michelet vorgestellt, in der es der Autorin darum geht, Varianzen und Gegenströmungen zur Tradition gängiger Lesart aufzuzeigen und damit auf den Aspekt unterschiedlicher Rezeptionsweisen zu verweisen. Auch ein Einbeziehen größerer Traditionslinien ermöglichte es mit dem Mittel der Analogie, divergierende Konzepte zu entwerfen und zu vertreten.

In diesem Zusammenhang wird die Homer-Rezeption des schottischen Aufklärers Thomas Blackwell in den Blick genommen, dessen Enquiry into the life and the writings of Homer gewissermaßen als Matrix einer durch antike (oder wohl eher antikisierende) Aspekte mitdefinierten Interpretation des Mittelalters herangezogen werden. Dass ausgerechnet dieser spannende Themenblock, firmierend unter dem Titel „Das barbarische Mittelalter Italiens – Herkunft und Gestaltungsformen eines literarischen und historiographischen Motivs“, gerade einmal elf Seiten umfasst, ist überraschend und bedauerlich zugleich.

Honoré de Balzac, der sicherlich zu den Prominentesten der in der vorliegenden Publikation berücksichtigten Autoren gehört, ist der sich anschließende Punkt zu den Sujets „Politik, Medizin und geheime Wissenschaften in Zeiten des Umbruchs“ gewidmet. Und obwohl Balzac in der Tradition der bereits in den Fokus gestellten Literaten steht und ihm auch Emotionalität im Duktus seiner Texte nicht fremd ist, wird der Blick erweitert, denn: Insgesamt werden die bis dato geltenden Anschauungen überwunden, womit der „Anspruch einer Erfassung der Totalität historischer Prozesse wenn nicht verwirklicht, so doch als Zielsetzung und Idee in literarischer Form aufgehoben“ ist.

Wenngleich von anderen Voraussetzungen ausgehend und auf andere Ziele hinsteuernd lassen sich die Positionen Balzacs und Edgar Quinets, dem unter der Überschrift „Dekadenz und Renaissance Italiens“ der folgende Themenpunkt gewidmet ist, in ihrer Intention zur Darlegung von historischen Dynamiken und geschichtlichen Zwangsläufigkeiten miteinander vergleichen. Und: Im Sinne einer arrivierten Epocheneinteilung schreiben beide allenfalls bedingt über das Mittelalter. Bei Quinet ist dies mit einer verblüffenden Konsequenz der Bewertung verbunden; in seinen Révolutions d’Italie wird zwar sehr wohl die Tendenz zur Individualisierung, die in der abendländischen Kulturgeschichte unmittelbar mit der Epoche der Renaissance verbunden ist, vermerkt, allerdings unter negativen Vorzeichen: Die strahlende Kunstfertigkeit, die (vermeintliche) Selbstverwirklichung ist letztlich nur Bestandteil einer strahlenden Hülle, die das leere und verdorrte Innere zu verdecken sucht.

In extremo wurde diese Position von Oswald Spengler weiterentwickelt; zwischen diesen beiden Polen steht allerdings Hippolyte Taine, dem der letzte thematische Abschnitt des Buches gewidmet ist. In Voyage en Italie werden Kunst und Geschichtserfahrung als programmatische Wissenschaftlichkeit aufgefasst respektive angewendet und es wird die Dynamis eines Umbruchs, die Ambivalenzen der modernen Renaissancegesellschaft(en) dargestellt. Wo die positive Eindeutigkeit der Sicht auf die Renaissance ausschließlich die Utopie der Epoche gelten lässt, machen differenziertere Modelle hier auch dystopische Elemente erkennbar. Aus ganzheitlicher Sicht ist dieser Ansatz sicherlich konstruktiver, aber der Realität auch näher als das weitgehend noch immer positiv gefärbte Konsensmodell jener Achsen- und Aufbruchszeit.

Die äußerst knapp gehaltene „Schlussbetrachtung“ resümiert weniger die Ergebnisse, als dass hier neue Fragen aufgeworfen werden. Zugleich wird noch einmal der zumindest implizit fassbare Habitus eines Dekonstruktivismus deutlicher spürbar, der auch in den eigentlichen Hauptkapiteln immer wieder zu fühlen war, wo er nicht sogar recht deutlich angesprochen wurde. Und es wird ein Bogen zurück zum Anfang geschlagen; die Autorin greift noch einmal das Porträt des Cesare Borgia auf, in dem sich die Antagonismen zwar nicht des ‚eigentlichen‘ Mittelalters, wohl aber diejenigen der Epoche der Renaissance erkennen beziehungsweise aus ihm heraus interpretieren lassen.

Das Buch gewinnt bereits durch seine solide Fertigung und ansprechende Gestaltung des Winter Verlags. Die inneren Werte ergeben sich aus den interessanten Gedankengängen sowohl der Autorin als auch derjenigen, die sie als Quellen für ihre Arbeitsergebnisse heranzieht. Im allgemeinen Konsens fest Verankertes erweist sich als keineswegs so selbstverständlich wie generell angenommen, lieb gewordene Sicherheiten und entsprechende wertende Perspektiven werden zugunsten alternativer Modelle ihrer Monopolstellung beraubt. Das Werk erweist sich durch die umfangreiche Bibliographie – ein Register fehlt leider – als ein positiv erweiterter Denkhelfer mit einem starken Zug zur Ergebnisoffenheit. Allerdings: Im engeren Sinne behandelt es eben kein ‚reines‘ Mittelalter, sondern es weist zum einen aufgrund der unübersehbaren Präsenz der Renaissance, vor allem aber durch die Tatsache, dass es letztlich um neuzeitliche Mittelalterrezeption geht, weit darüber hinaus.

Lohnt sich der Erwerb also? Wer besagtes reines Mittelalter, gar die im Titel so prominent erwähnte Barbarei erwartet, wird vermutlich enttäuscht werden. Diejenigen jedoch, die die Publikation unter der Prämisse der Offenheit und denkerischen wie modellhaften Vielfalt lesen, werden bestens informiert und sogar zum Nachdenken angeregt. Und das ist definitiv eine Lesereise wert.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Susanne Tichy: Barbarisches Mittelalter und Kultur der Renaissance. Darstellung und epochale Konfiguration italienischer Geschichte in ausgewählten Texten der französischen Literatur von Germaine de Staël bis Hippolyte Taine.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2023.
411 Seiten, 66,00 EUR.
ISBN-13: 9783825366292

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