Ich ist der Nächste
Der Erzähler Feridun Zaimoglu wird sechzig
Von Lutz Hagestedt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn man bei Google „Klopstock und Zaimoglu“ eingibt, bekommt man „Koppstoff“ als Ergebnis geliefert, was durchaus sinnig und stimmig ist, heißt Koppstoff doch eine frühe Prosa unseres Autors, die auch mehrere Bearbeitungen für die Bühne sowie Inszenierungen am Theater erlebte.
Klopstock gilt als der erste deutsche Schriftsteller, der alles auf die Karte der Literatur und der freien Dichterexistenz setzte, ganz ohne Sinecure und Mäzenatentum, und Feridun Zaimoglu ist einer der letzten dieser Art. Es versöhnt ein wenig mit unserem Verlagswesen und Literaturbetrieb, dass diese Existenzweise überhaupt möglich ist: Man schlägt sich so durch, in dieser prekären Form der Unabhängigkeit, in der sich kaum auskömmlich leben lässt.
Feridun Zaimoglu ist gleichwohl ein literarisches Schwergewicht unter den Gegenwartsautoren, und seine Bücher können sich gegen alle Wahrscheinlichkeit unserer Lesegewohnheiten auf dem Markt behaupten – so „sonderbar“ sie sind, um ein Lieblingswort Walter Kempowskis zu gebrauchen. Über eine Fotografie aus Kempowskis Werkstatt, mit Stammbaum der Familie, Übersichtstafeln und Zettelkästen (sowie „sonderbaren“ Wanderschuhen, die an der Wand daneben hängen), hat Zaimoglu unlängst eine Betrachtung verfasst („Ich glaube an die Gutheit der Zettel“), die ungemein viel über seine Einfallslogik und Kompositionstechnik verrät.
Davon zeugt auch der neue Roman Sohn ohne Vater (er erscheint im Frühjahr bei Kiepenheuer & Witsch), der sich eine Familie imaginiert, nachdem der Vater des Ich-Erzählers „zum Herrn gegangen“ ist. Dieser Tod des hochbetagten Altvorderen ist Auslöser von Ängsten, denn der Erzähler, das „Ich“ dieser Prosa, ist in der Logik der Generationenfolge „der Nächste“, der zu Gott gerufen wird. Die Todesnachricht löst (s)einen Gedankenstrom aus, in den Gesprächspartikel intarsiert sind, darunter kurze Telefonate mit der pragmatisch-beherrscht wirkenden Mutter: Frauen, so lässt sich folgern, sind hart im Nehmen; Söhne hingegen sind weinerlich, wirken unbeherrscht und weltverloren.
Womit haben wir es hier zu tun? Zielt der Roman auf eine Abrechnung? Sicherlich auch – zahllose Formulierungen deuten darauf hin: „Ich lege mir die Hand auf den Mund, damit sie [meine Mutter] nicht bemerkt, dass ich mit den Zähnen knirsche!“ Oder: „Ich darf nicht denken: Dieser Tod [wenige Monate vor dem 90. Geburtstag des Vaters] ist eine Strafe Gottes.“
Zaimoglu-Leser mögen vermuten, dass dieser Schriftsteller eine besondere Gabe habe, Männer alt aussehen und Frauen leuchten zu lassen. Sie interessieren ihn augenscheinlich stärker, sie geben einfach mehr her, wie auch das prachtvolle Porträt der Mutter im kommenden Roman aufs Neue zu belegen scheint: ein Typus Mutterfigur, den wir aus vielen anderen Büchern Zaimoglus (derzeit etwa zwanzig lieferbare Titel) kennen (und kennen sollten). Männer hingegen sind vergleichsweise langweilige und primitive „Horste“ (wie Oliver Kalkofe trefflich sagen würde), sind erbärmliche, „stinkende Existenzen“ mit Flugangst, wie Zaimoglu mit kraftvoller Gebärde insinuiert: „Ich stelle mir tausend Störungen vor, die Motoren bleiben stehen, die Maschine stürzt ab. Mein Herz vereist vor Entsetzen.“ Sie sind aber auch als labile und kreative Wesen mit natürlichem Witz und doppeltem Boden angelegt. Schöner ist selten gelitten worden in der deutschen Literatur, alles an diesem Romanwerk ist brüchiger, vielfältiger, in sich auch widersprüchlicher, als es hier dargestellt werden kann. Selbst das Gegenteil unterstellter Lesarten wäre stimmig und sinnig.
Nichts davon, was Zaimoglu schreibt, entspricht genau so (und genau so ungefiltert) seinen Verhältnissen (so sagt er es ähnlich selbst), aber vieles von dem, was er erlebt hat, findet auf die eine oder andere Weise in seinem reich entfaltete Œuvre seinen Niederschlag. Zaimoglu hat für sich eine Formel gefunden, die seinen besonderen Umgang mit der Prima materia von Familie und Herkunft, Erfahrung und Verlorenheit charakterisieren kann: „Eine Autofiktion ganz anderer Art: Ich erfinde meine Familie.“ Von der leichtfertig-inflationären Vereinnahmung des Texttyps „Autofiktion“ durch Trivialliteratur und triviale Literatur setzt er sich damit gezielt ab. Denn was sich realiter oft hinter dem Label verbirgt, ist gar keine Fiktion in einem emphatischen Sinne, sondern schlichte Verarbeitung in sachlicher Banalität des sprachlich nicht bewältigten Erlebnissubstrats.
Da Identität und Identitätspolitik nicht erstrebenswert sind und Authentizität sich sofort verliert, sobald man mit dem Schreiben Ernst macht, setzt dieser Autor auf die sprachliche Gebärde, auf die „Verwandlung auf dem Papier“, auf die „kulturelle Aneignung“, die für ihn nichts Anstößiges impliziert, sondern im Gegenteil selbstverständliches Programm jedes Schriftstellers ist und sein muss. Das führt zu mitunter kühnen Volten wie in seinem Roman unter dem gewagten Titel Die Geschichte der Frau (2019): Dessen Programm stellt ja nachgerade eine Form der Anmaßung und Aneignung dar, die uns Blut und Atem stocken macht, in einer zweiten Phase aber auch kopfnickende Begeisterung auslöst. Ein Weltenschöpfer wie er darf das Wagnis wagen, denn ihm ist mit den Mitteln der Phantasie und der Fiktion alles möglich und vieles erlaubt. Ähnlich kühn betitelte er seinen Hitler-Roman mit Bewältigung (2022).
Dieses Œuvre war von Beginn an zahllosen Missverständnissen ausgesetzt. So wurden seine frühen Bücher, darunter Kanak Sprak (1995) und Abschaum. Die wahre Geschichte von Ertan Ongun (1997) als authentische Zeugnisse aus dem Gastarbeitermilieu gelesen, und der medial noch unerfahrene Autor ließ sich in Talkshows zerren, wo er seine Vivisektion als Migrantenkind erfuhr. Von „Literatur“ und „Fiktion“ war da bei weitem nicht die Rede, und selbst dann nicht, als diese Texte in Lesebücher für den Deutschunterricht einwanderten: Didaktik der Literatur, ein Kapitel für sich!
Feridun Zaimoglu hat es längst aufgegeben, sich gegen falsche Vereinnahmungen zur Wehr zu setzen: Es ist ja auch zwecklos, man erreicht damit nichts. Und die liebliche Bestsellerei, die sich vielleicht leichter vermitteln ließe, ist seine Sache nicht: Seine Bücher sind sperrig und anstößig – nicht um des Anstoßes willen, sondern aufgrund innerer Notwendigkeit. Zaimoglu muss den „bösen Gedanken“ Raum geben, doch es ist ganz herrlich, wie rücksichtsvoll und zart er das oftmals tut. Dabei kann er der eilfertig herbeigerufenen Political Correctness keinerlei Raum geben und ihr keine Herrschaft über sich gestatten: Es geht ja darum, unsere armselige Wirklichkeit zu bereichern, und nicht darum, ihre kruden Debatten abzubilden. Woke Romane, empfohlen bei LovelyBooks? Nein, das braucht er nicht! Frauen, Mütter zumal, sind ohnehin charismatisch bei ihm angelegt, beängstigend stark, robust und effizient, mitleidlos und fatalistisch. Männer hingegen, Söhne zumal, wirken tendenziell weinerlich und schwach. Insofern ist dies keine gefallsüchtige Literatur: „Wir weinen, als wollten wir unsere Gesichter erbrechen.“
Sonderbare Worte der Trauer! Woher mögen sie kommen, wie sind sie entstanden? Der Erzähler weiß es selber nicht, rätselt selbst am meisten über sich und seine Befindlichkeit, seine Sprachwerdung im Angesicht des Todes. Auch Zaimoglu-Leser rätseln: „Woher bezieht er diese Ideen“, denken sie immer schon, nicht erst bei diesem Roman (der erst noch erscheinen muss, von dem sich aber eine herrliche Leseprobe bereits online im Netz abrufen lässt).
Zaimoglu-Leser haben sich darauf eingestellt, sich seine Sätze zurechtzulegen, sie zu harmonisieren. Sie verzeihen ihm die Zumutungen, die viele seiner Formulierungen bedeuten. Sie sind dem Autor ergeben und ergeben sich seinem Stil – es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig.
In allen seinen Büchern vermutet man ein biographisches Substrat, ohne freilich eine Bestätigung dafür zu bekommen. Der oben erwähnte Vater, ein Wanderarbeiter der frühen Nachkriegszeit, ein Türke in Ludwigshafen, München und anderswo, der sich gute Deutschkenntnisse erwarb und bald deutscher als die Deutschen war, weckt im reiferen Leser Kindheitserinnerungen an die sechziger und siebziger Jahre, als die Babys und die Wirtschaft boomten. Zaimoglus Jahrgang 1964 ist der geburtenstärkste überhaupt, den die (alte) Bundesrepublik erlebt hat. Dass der Dichter im türkischen Bolu zur Welt kam, steht auf einem anderen Blatt. Von diesem statistischen Peak in der Geburtenfolge wurden viele in die Massenarbeitslosigkeit entlassen, als sie ihr Studium oder ihre Berufsausbildung absolviert hatten: Sie wurden nicht gebraucht. Feridun Zaimoglu hingegen studierte Medizin, um des Vaters willen, wurde aber Schriftsteller. Aus dieser Zeit der Scheinexistenz des angehenden Arztes und der beruflichen Umorientierung erzählt dieser (kommende) Roman eine unglaubliche Geschichte, die nach Schmerz und Selbstkasteiung „riecht“ (sagt man im Deutschen wohl, in zugleich passender wie unpassender Weise). Die Enttäuschung, die der Sohn dem Vater bereitete, ist ihm aber wohl nicht auf die Füße gefallen, dank auch der Begabung des Vaters, sich in einer neuen Kultur und Sprache zurechtzufinden: „Ich lernte von ihm schöne deutsche Wörter – ein unerlässliches Erfordernis.“
Zu den Missverständnissen, denen Feridun Zaimoglu sich ausgesetzt sah, gehörte übrigens auch ein Plagiatsvorwurf, der 2006 anlässlich seines Romans Leyla erhoben wurde. In der Rückschau staunt man, wie das möglich war, und dass auch Autorinnen wie Emine Sevgi Özdamar darauf einstiegen. Nicht so sehr empörte, dass Presse und Literaturkritik sich ereiferten, denn das ist ihre Aufgabe, wie auch das Beispiel Kempowskis belegen mag („Der Ehrabschreiber“ titelte der Spiegel 1990). Andererseits erscheint es im Rückblick auch als Qualitätserweis, wenn solche Debatten von einem Buch, einem Werk, einem Autor überhaupt ausgelöst werden und nicht unter dem Radar öffentlicher Wahrnehmung verbleiben. Daher: ad multos annos, multos libris. Dies ist uns und Feridun Zaimoglu zu wünschen!
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