Hans Castorp heißt jetzt Jonas Heidbrink

Mit „Zauberberg 2“ legt Heinz Strunk fast auf den Tag einhundert Jahre nach dem Erscheinen von Thomas Manns Roman ein ganz besonderes Jubiläumsgeschenk vor

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, hinauf ins schweizerische Davos geht es diesmal nicht. Heinz Strunks Held in seinem achten Roman, Jonas Heidbrink, kurt im östlichen Flachland. Inmitten von Sümpfen, unweit der polnischen Grenze steht sein Sanatorium, ein ehemaliges Schloss, in das der mit dem Verkauf eines Software-Start-ups reich Gewordene sich für einen Monat als Selbstzahler freiwillig einliefert. Heidbrink, eher soziophob veranlagt, hat wenig Lust auf Gemeinsamkeit, leidet aber unter Angstzuständen und Panikattacken. Allein der Klinikalltag nimmt ihn schnell gefangen. Und am Ende wird aus dem einen Monat dann ein Jahr, auch weil – suchet und ihr werdet finden – die Eingangsuntersuchung des Patienten ergibt, dass „gleich drei potentiell tödliche Krankheiten in ihm wüten, wer weiß, wie lange schon.“

Genau 100 Jahre ist es her, dass Thomas Mann seine Erfahrung mit Zeit und Welt in einen mehr als tausendseitigen Roman packte: Der Zauberberg. Darin schickte er einen noch unfertigen jungen Mann auf Besuch zu seinem Vetter in das Internationale Sanatorium „Berghof“ in der Nähe von Davos. Für drei Wochen ist Castorps Aufenthalt geplant. Letzten Endes werden sieben Jahre daraus. Denn dem angehenden Schiffbau-Ingenieur behagt die Atmosphäre in der abgehobenen Welt von Krankheit und Morbidität so sehr, dass er bald selbst Anzeichen einer beginnenden Tuberkulose zeigt und vom Besucher zum Patienten mutiert. Erst der Beginn des Ersten Weltkriegs holt Thomas Manns Helden wieder zurück in die Realität – FINIS OPERIS in jeder Beziehung.

Für Strunks Helden hat der Eintritt in den Kreislauf eines sich auf die Heilung von Nervenkrankheiten spezialisierten Sanatoriums zunächst wenig Anziehendes. Von der „Musiktherapie“ – „The river, she is flowing,/ Flowing und growing … „ – geht es zur „Fototherapie“, von der „Bibliotherapie“ – „Wir wollen Stimmungen und Gefühle in unserer eigenen Sprache ausdrücken …“ – zur „Gesprächsgruppe“, von „Tanz und Bewegung“ zur „progressiven Muskelrelaxation“ und zuletzt hinein in die „Ernährungsberatung“. Und so weiter und wieder von vorn. Höhepunkte wie die „Kulturabende“, an denen besonders begabte Patienten ihre künstlerischen Talente unter Beweis stellen können, wechseln ab mit öden Spaziergängen in die Umgebung des Schlosses: „Er marschiert über leere, fröstelnde Felder, die sich in trister Kargheit endlos in alle Richtungen erstrecken, weiter, immer weiter durch die winterliche Sterilität.“ Kaum sich ändernde „Vitalwerte“ (Sauerstoff, Temperatur, Blutdruck, Puls) brechen den Text gelegentlich auf. Ansonsten stößt Heidbrink immer wieder auf die gleichen Gesichter, Menschen, von Leben, Familie und Beruf gebeutelt, Menschen, die verschwiegen sind, und solche, die mehr von sich preisgeben, als Strunks Protagonist eigentlich wissen will.

Was nicht stattfindet auf dem Zauberberg 2, der nicht mehr ist als „ein Hügel […], kaum mehr als eine leichte Schwellung“ in der ansonsten flachen Sumpflandschaft, ist das pädogogische Trommelfeuer, dem sich der Protagonist des Mannschen Originals von gleich zwei Seiten ausgesetzt sieht. Bei Heinz Strunk: kein Naphta, kein Settembrini nirgends. Selbst die türenschlagende Russin Clawdia Chauchat, für Hans Castorp nicht zuletzt ein Grund, seinen Aufenthalt immer wieder zu verlängern, huscht hier nur ein einziges Mal in Gestalt einer Frau namens Anja durchs Bild – Strunk gönnt ihr noch nicht einmal einen Nachnamen – und obwohl die „alte Häsin, Meisterin des Flurfunks“ Heidbrink sofort spürbaren Auftrieb verleiht, wird der Kartenspielabend, zu dem sie ihn einlädt, ohne letzten Endes selbst dort zu erscheinen, nicht zu dem erwarteten „sagenumnebelte[n] GAMECHANGER“ in seinem Sanatoriumsleben.

Man kennt aus Strunks früheren Romanen – zuletzt erschien 2022 Ein Sommer in Niendorf – den, wie der Autor selbst sagt, „Sozialrealismus“ seines Blicks auf unsere Welt. Der kommt auch diesmal nicht zu kurz. An Personenbeschreibungen wie der folgenden, sich auf eine neu im Sanatorium eingetroffene Lernschwester beziehend, herrscht auf den knapp 300 Seiten kein Mangel: „Ein pferdiges, pfundiges, von Kopf bis Fuß gut durchblutetes Mädel mit aggressiven Brüsten und festem Zahnfleisch, eine einer Bauernmalerei entsprungene rotwangige Dorfschönheit, ein (imaginäres) Lamm im Arm haltend und einer vor Verheißung anschwellenden Zukunft entgegenblickend.“ Das ist alles andere als nett, gelegentlich auch mehr als grob, nur mit viel gutem Willen als ironieunterfüttert zu lesen, aber sprachlich so auf den (kürzesten) Punkt gebracht, dass man gar nicht anders kann, als den Stilisten Heinz Strunk zu bewundern. Nur leben möchte man unter so beschriebenen Exemplaren der menschlichen Spezies nicht.   

Für Strunk freilich in seinem Zauberberg 2 existiert nichts anderes als das Beschriebene und von Jonas Heidbrink Wahrgenommene. Ob Klinikpersonal, Mitpatienten und -patientinnen, Handwerker oder auf kleinen Ausflügen – einmal schafft es Heidbrink sogar bis an das, bzw. ins Stettiner Haff – getroffene Einheimische: Sie alle kommen als ein deprimierendes Gemenge von Zeitgenossen daher, das ohne Plan noch Ziel für eine irgendwie geartete Zukunft nur seine Zeit hienieden totschlägt. Aufbauende Gespräche? Fehlanzeige. Philosophische Exkurse über Sinn und Zweck der menschlichen Existenz? Kann man am ehesten noch in den von Nihilismus geprägten Tischgesprächen mit seinem Mitpatienten Bernhard Zeissner, der ein bisschen von der Naivität und Vitalität von Thomas Manns Mynheer Peeperkorn ins Heute trägt, finden. Etwa wenn der definiert: „Im Grunde genommen besteht das Leben aus einer Ansammlung von Kleinigkeiten. Unwesentlichen Details, Freuden, Ärgernissen, die man sofort wieder vergisst, weil sie keine Bedeutung haben.“

Immerhin: Ganz ohne Mitleid ist der Blick des Erzählers auf den Figurenkosmos von Strunks Roman nicht. Das lässt sich am ehesten an dem todkranken Klaus Wimmer zeigen, mit dem Heidbrink im Laufe des Buches und bis zu Wimmers 80. Geburtstag und seinem kurz darauf erfolgenden Verschwinden nach einem Schlaganfall, an dem er wohl stirbt, ein ganz besonderes Verhältnis pflegt.        

Die ein wenig seltsam anmutenden Kirgisenträume, die den vierten und letzten Teil des Buches eröffnen und voller Originalzitate aus Manns Zauberberg stecken – alle Zitate werden im Übrigen in den dem Roman nachgestellten „Quellennachweise[n]“ so sauber wie nachlesbar verortet –, dürfen schließlich als Referenz an Hans Castorps Traum im Schneesturm, wie ihn Mann im Abschnitt Schnee des sechsten Kapitels seines Romans beschreibt, gelesen werden. Nur wo sich bei Manns Helden der Umschwung von Todesfaszination zu Lebensbejahung vollzieht, bleibt das Leben für Jonas Heidbrink etwas, das man nicht vom Tode trennen kann: „Im Grunde genommen ist das Leben eine fortwährende Abwärtsbewegung. Alles verändert sich zum Schlechten: Das Gesicht wird zur Visage, das Gesäß zum Arsch, die Füße zu Mauken, die Zähne zu Hauern, die Hoden zu Klüten. Aussichten: schlecht.“

Titelbild

Heinz Strunk: Zauberberg 2.
Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2024.
288 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783498007119

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