Die Buchforschung auf dem Weg in die Praxeologie
Ursula Rautenberg und Ute Schneider geben mit „Das Buch als Handlungsgebot” einen eindrucksvollen Band heraus
Von Günther Fetzer
Das Buch ist aus einer interdisziplinären Tagung hervorgegangen, die unter der Leitung der beiden Herausgeberinnen vom 6. bis 8. Oktober 2021 im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen, Hannover, unter dem Titel Alles außer Lesen stattfand. Es ist als Band 32 in der renommierten Bibliothek des Buchwesens erschienen. Bei der Fülle von Beiträgen, bei der Fülle von Erkenntnissen kann hier leider nur ein Überblick gegeben, auf Details nicht eingegangen werden. Auch wäre eine fachliche Einzeleinschätzung pure Hybris.
Die renommierten Herausgeberinnen Ursula Rautenberg (FAU Erlangen-Nürnberg; unter anderem Buchwissenschaft in Deutschland, 2010) und Ute Schneider (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz; unter anderem Theoretische Perspektiven und Gegenstände der Buchforschung, 2023) haben hier 30 Beiträge von 24 Autorinnen und Autoren versammelt, einige davon haben nicht an der Tagung teilgenommen. Sieben der acht Sektionen der Tagung sind im Buch in drei große Themenblöcke eingeordnet: „Aneignungsprozesse“, „Lebensstil und Praktiken der Buchnutzung“ sowie „Sozialität und Zuweisung von Bedeutung“. Die erste Sektion steht vorneweg und fundiert mit Ute Schneiders Praxeologien des Buchgebrauchs. Theoretische Ansätze und Fragestellungen sowohl Tagung als auch diese daraus hervorgegangene Publikation. Jede Sektion wird durch einen übergreifenden theoretisch grundierten Artikel eingeleitet, gefolgt von jeweils zwei bis fünf Fallstudien, die die jeweilige praxeologische Probe aufs Exempel machen.
Der zeitliche Rahmen der Untersuchungen spannt sich von der Antike bis in die jüngste Gegenwart; der mediale Rahmen der beschriebenen Praxeologien reicht von der Malerei über Ausstellungen und Werbekommunikation bis zur öffentlichen Kommunikation beim Eid auf ein Buch. Die Fächer der beteiligten Autorinnen und Autoren umfassen Buchwissenschaft und Literaturwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte sowie Bibliothekswissenschaft und Publizistik.
Im ersten Themenblock „Aneignungsprozesse“ geht es um den Buchgebrauch beim Lesen mit einer Studie zum Lesen am Strand, um institutionelle und private Inkorporierung, unter anderem mit dem Beispiel der historischen Darstellungen der liegenden Leserin Maria Magdalena und um die Artefakte selbst mit Fallbeispielen zum Sammeln, Ausstellen, Schenken und Widmen von Büchern.
Der zweite Themenblock „Lebensstil und Praktiken der Buchnutzung“ präsentiert einen Abriss des Buchkonsums als soziale und kulturelle Praktik mit den Fallbeispielen Werbung mit Büchern für andere Konsumgüter, Leben mit Büchern als Lifestyle sowie Lesemöbeln und geht dann auf den materiellen Körper des Buchs ein, ergänzt durch drei Fallstudien zum E-Book.
Der dritte und letzte Themenblock „Sozialität und Zuweisung von Bedeutung“ umfasst den Buchgebrauch als Anschlusskommunikation mit unter anderem zwei sozialempirischen Fallbeispielen sowie den symbolischen Buchgebrauch mit Fallstudien zum Eid auf das Buch, zur Buchzerstörung und zu Buchverfremdungen. Personenregister, Bildnachweis und Informationen über die Autorinnen und Autoren runden den Band ab.
Das Buch ist als Hardcover ohne Schutzumschlag aufgemacht – in einem für wissenschaftliche Werke ungewohnt eleganten Coverdesign mit einer farbigen Abbildung auf violettem Grund. Nach Verlagsangaben enthält das optisch hervorstechende Werk 111 Abbildungen, davon 51 schwarzweiß und 60 in Farbe. Die Texttypografie von de Jong Typografie, Essen, ist klassisch, gut leserlich bei großer Textmenge pro Seite.
Bei aller Begeisterung über den Inhalt des Bands, bei aller Begeisterung über die Fülle der Perspektiven und Erkenntnisse, bei aller Begeisterung über die optische Präsenz von außen, müssen ein paar Worte zu seiner editorischen Betreuung im Verlag gesagt werden.
Es wäre doch wünschenswert, dass wissenschaftliche Verlage nicht alle Arbeit am Buch außer der technischen Produktion Autorinnen und Autoren beziehungsweise Herausgeberinnen und Herausgebern aufbürden, sondern ihrer verlegerischen Verantwortung auch dadurch gerecht werden, dass sie wenigstens eine Kontrollfunktion einnehmen. Hier nur einige Beispiele. Es geht nicht so sehr um fehlende Leerzeilen und Satzfehler oder darum, ob die Überschrift „Literatur“ über dem Literaturverzeichnis mal kursiviert ist oder nicht – jedes umfangreiche Buch dieser Art wird solche Fehler mit sich schleppen (aus langjähriger Erfahrung gesprochen). Es muss aber in einem wissenschaftlichen Verlag eine Institution geben – historisch Lektorat genann –, die zum Beispiel bei der Gesamtüberprüfung feststellt, dass leider die Angabe fehlt, was als Vorlage der Umschlagabbildung gedient hat. Es ist, wie sich beim Durcharbeiten des Bands auf Seite 259 herausstellt, ein Ausschnitt aus einer Werbung für ein Kleid von Giambattista Valli aus der Zeitschrift Madame vom Oktober 2008.
Es muss jemand im Verlag danach sehen, ob bei den Beiträgen die Übergänge von Textende zu den anschließenden Literaturangaben einheitlich umbrochen sind. So folgen die beiden Komponenten in der Regel mit einem Abstand von zwei, manchmal aus Umbruchgründen drei Leerzeilen aufeinander. Doch dieses Prinzip wird mehrfach gebrochen, ohne dass ein Grund einsichtig wäre. Extreme Beispiele sind hier die Seiten 280 und 281 sowie die Seiten 404 und 405.
Auch muss auf Verlagsseite eingegriffen werden, wenn bei einem Buch in klassischer Texttypografie die Titelformulierung der drei großen Themenblöcke als doppelseitige Zwischentitel eingeblendet werden und dabei die jeweiligen Überschriften von wilden Strichen umrahmt werden. Die Interpretation als Streichholzlegespiel (Seite 28 und 29), als Weihnachtssternchen (S. 226 und S. 227) oder als „Vs“ auf Verfolgungsjagd (S.352 und S. 353) seien dem Rezensenten erlaubt, wahrscheinlich hat er den tieferen Sinn nicht erkannt. Eine Vorahnung solcher Spielereien findet sich bereits an den entsprechenden Stellen im Inhaltverzeichnis. Mehr Kontrast zwischen der Optik des Textkorpus und den derart gestalteten Zwischentiteln ist kaum möglich.
Von einem Verlag muss schließlich bei dem heutigen Digitalisierungsgrad der Produktion – und dem Ladenpreis von 196 Euro –gefordert werden, die 30 einzelnen Literaturverzeichnisse, die am Ende eines jeden Beitrags stehen, in ein Gesamtliteraturverzeichnis zusammenzuführen. Wie oft wird wohl der grundlegende Aufsatz von Andreas Reckwitz Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken aus dem Jahr 2008 zitiert? Der Rezensent hat nicht nachgezählt.
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