Botschaften aus der kalten Luft der Geschichte
Der ukrainische Dichter und Schriftsteller Serhij Zhadan zeigt mit der Gedichtsammlung „Chronik des eigenen Atems“, was der Krieg mit Menschen, mit ihrer Sprache und mit Gedichten macht
Von Nora Eckert
Der Band teilt die Gedichte in zwei Gruppen – Teil eins umfasst solche, die vor dem russischen Angriffskrieg vom Februar 2022 geschrieben wurden, Teil zwei jene, die danach entstanden sind. Es gibt in den Tonlagen und Wahrnehmungen erkennbar ein Vorher und Nachher, obschon lange vorher der Krieg mit der Krim-Annexion und der Abspaltung des Donbas in die Ukraine gekommen war. Auch das klingt immer wieder an. Doch 2022 geschah etwas, was einen Angriff auf die gesamte Ukraine bedeutete. „In der Mitte bricht das Buch“, heißt es im Nachwort des Autors Serhij Zhadan, und: „Seit dem Februar 2022 geht diese tiefe brennende Linie durch Bücher, Aufführungen, Filme, Partituren.“ Hinzu kommt – und das ist dem Zufall geschuldet –, dass Zhadan bei diesen Gedichten das Bedürfnisse hatte, sie zu datieren, „[w]eil der Kontext mehr Bedeutung hatte als der Text selbst“.
Der Autor spricht davon, die Gedichte hätten ihre Autonomie verloren, denn sie würden mehr einem Tagebuch ähneln. Das kann man so sehen, es bleiben dennoch Gedichte, und zwar solche, die immer wieder auch die poetische Sprache reflektieren. Dichtung bleibe gleichwohl eine Form der Medizin. „Nein, heilen kann sie nicht, aber sie kann die Hoffnung zurückgeben.“ Den zwei Gedichtblöcken ist eines mit dem Datum 8. Dezember 2021 vorangestellt, wo es heißt „Kann ich jetzt vielleicht anfangen?“ Es geht um den nahenden Winter, um den Schnee, der kommen wird – die östliche Landschaft sei vorbereitet, „die lästige Schwere des Weiß anzunehmen“. Als ob darin etwas Katastrophisches verborgen sei und der Wortklang Übergang und Verlust als Ahnung mit sich führe. Dann unvermittelt zum Schluss: „die Sprache ist wie ein Rasierer: / höchst sicher, höchst nah.“
Der erste Teil beginnt mit der kritischen Frage, wozu Gedichte? Und die Antwort lautet:
es ist Zeit, neue Gedichte zu schreiben:
bei den alten Gedichten weint keiner mehr.
[…]
und warten auf frische Reime,
um erwachsen zu werden und zu leiden.
[…]
Lass uns Dinge von Neuem reimen.
Gedichte zu schreiben hat wohl auch etwas mit der Begabung zu tun, Dinge und Verhältnisse sehr genau wahrzunehmen, sie in eine neue Bildhaftigkeit zu übersetzen, wenn es etwa in dem Gedicht „Alles wie es war“ an einer Stelle heißt „Sommers die Trägheit der Güterwagen“ oder in „Eine schwangere Frau wie ein Buch mit Fortsetzung“:
Ich mag es, wenn du aufwachst und redest
und mit dieser Stimme die Stille umreißt.
Die Stille bezeugt, dass die Sprache Grenzen hat […]
Oder in „Und das Wichtigste haben sie nicht erzählt“:
Sie haben nicht gewarnt, dass der Tod sich aufs Schweigen
beschränkt, das ihn begleitet […]
Und du ahnst, dass die Schrift des Todes das Fehlen
eines Übergangs braucht. Es gibt keine Teilung,
kein Licht von jenseits der Mauer.
Zhadan, der im Gebiet Luhansk geboren wurde, lebt heute in Charkiw, wo er Literaturwissenschaft und Germanistik studierte. Er befindet sich damit an einem Ort mit unmittelbarer Bedrohung durch die Kriegsfront. Er thematisiert eine starke Verbundenheit mit seinem Lebensort und den Menschen, mit der Großstadt ebenso wie mit der Landschaft und Natur um sie herum. Nicht unerwähnt sei, dass der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 an Zhadan ging. Ausgezeichnet wurde nicht nur sein künstlerisches Werk, sondern ebenso seine humanitäre Haltung.
Über die im Grenzland Geborenen heißt es an einer Stelle, es seien Menschen, die es gewohnt seien, „sich die Haut am harten Asphalt der Höfe aufzuschürfen“. Bis Zhadan den zweiten Gedichtblock beginnt, vergehen einige Monate. Das erste Gedicht darin fragt ähnlich wie das ganz am Anfang: „Vielleicht sollte ich genau jetzt beginnen.“ Dabei wird die Sprache immer wieder kritisch hinterfragt, was denn ihr Sinn in Zeiten des Kriegs sein könne und welche Sprache es überhaupt braucht:
Was gibt der Kraft, aus der Sprache Klänge zu gewinnen in einer Zeit,
in der das Flüstern unsere Erschöpfung und Enttäuschung verrät?
Oder dieses:
Die Sprache braucht jene,
die leise sprechen
und überzeugend schweigen.
Und ein letztes Beispiel:
[…] Es gibt Zeiten,
da werden die Wörterbücher um das Vokabular des Schweigens erweitert,
[…]
Doch Zhadan, wie könnte es bei einem Dichter und Schriftsteller anders sein, bittet am Ende die Sprache, sie möge bei ihm bleiben, nämlich die des Zweifels, der Freude und des Dankes. Chronik des eigenen Atems ist wohl der eindringlichste, bewegendste Gedichtband, der mir in der letzten Zeit in die Hände fiel. Die Übersetzung von Claudia Dathe fand die passgenaue Sprache zu dieser Mischung aus Lakonie und Nachdenklichkeit.
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