Wider die antihistorische Lektürepraxis
In seiner Streitschrift „Deutland“ setzt sich Erhard Schüttpelz kritisch mit der Hermeneutik auseinander
Von Günter Rinke
Nach eigenem Bekunden im Nachwort hat der Medien- und Literaturwissenschaftler Erhard Schüttpelz das Buch geschrieben, das er als Erstsemesterstudent gerne gelesen hätte. Da nun sein Buch Deutland vorliegt, könnte er es Studienanfängern in die Hand geben, damit ihnen die Erkenntnisse ihres Professors, die er damals entbehren musste, von Anfang an zuteilwerden. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass diese Textbegegnung zu Enttäuschungen führt, denn das handliche Bändchen ist, ungeachtet des ansprechenden ironischen Titels, eine recht spröde Kost. Wer nicht über einschlägige Kenntnisse in Wissenschaftsgeschichte verfügt, wird bei der Lektüre mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, da der Text inhaltlich voraussetzungsvoll und sprachlich wenig anschaulich ist.
Der Titel ist ein Wortspiel, das in die Irre führen kann, geht es doch nicht nur um Deutschland, das zum „Deutland“ geworden sei, also zu einem Land, in dem Texte mit Vorliebe verstehend ausgedeutet werden, sondern um den verschiedene Länder und Nationalphilologien übergreifenden Siegeszug der Hermeneutik über die „Höhere Kritik“. Dieser Siegeszug wird im ersten, längeren Teil des Buches als Irrweg beschrieben. Im zweiten Teil, dessen Zusammenhang mit dem ersten sich erst allmählich erschließt, geht es um die Praxis des Umgangs mit literarischen Texten, vor allem im französischen Sprachraum und in der angelsächsischen Welt, und um Literaturtheorien, die aus dieser Praxis entstanden sind. Als Bindeglied und zugleich Trennwand zwischen beiden Teilen fungiert ein Fundstück aus dem Internet: Ein Schüler fragt das Team von gutefrage.net, wie er besser interpretieren kann, um seine Deutschnote zu verbessern. Die ausführlich zitierte Antwort enthält einige nützliche und durchaus nicht abstruse Tipps, mit denen sich eine Deutschstunde gut füllen ließe.
Der erste Teil kann als eine große Abrechnung mit Wilhelm Dilthey gelesen werden, der der geistesgeschichtlichen Methode und mit ihr der Hermeneutik zu ihrem Siegeszug verholfen habe. Dabei werde er oft in die Nachfolge Schleiermachers gestellt, was aber nach Schüttpelzʼ Auffassung zu Unrecht geschieht. Denn Schleiermacher habe immer den Vorrang der „Höheren“ oder „historischen Kritik“ anerkannt. Diese Kritik habe die klassische Philologie geleistet, die Ende des 19. Jahrhunderts in Teildisziplinen zerfallen sei. Damit einher ging die Ablösung der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften und damit des Verstehens vom Erkennen. Offenbar hält Schüttpelz die Durchsetzung des „hermeneutischen Paradigmas“ für eine Verwässerung exakter Wissenschaft, die zu allererst einen „Befund“ zu liefern habe, bevor Sinnzuschreibungen stattfinden könnten.
Was das „Leitbild der höheren Kritik“ ist, von dem der Autor wiederholt spricht, muss man sich als Leser etwas mühsam zusammensuchen: wissenschaftliche Rationalität, historische Kritik der Überlieferung (vor allem bei antiken Texten sicherlich ein anspruchsvolles Vorhaben), „Rekonstruktion der Situation, die der historischen Überlieferung zugrunde lag“, Orientierung an der historischen Wahrheit, die uns nur in Abstufungen zugänglich sei, von der „unbezweifelten Wahrheit“ über das „Wahrscheinliche“ bis zum nur noch „Glaublichen“ bzw. Plausiblen. Der wohl wichtigste Gewährsmann des Autors ist der Philologe August Boeckh, der Kritik (in Wechselwirkung mit Selbstkritik) für die Grundlage aller Wissenschaft und für die Voraussetzung einer fundierten Auslegung hielt. „Boeckhs Enzyklopädie bleibt das paradigmatische Werk für das Selbstbewusstsein der Philologie des 19. Jahrhunderts […]“, schreibt Schüttpelz. Danach sei es zu einem Paradigmenwechsel gekommen, der zum „Interpretationsboom der letzten fünfzig Jahre“ geführt habe.
Als eine Facette dieser Entwicklung erläutert und kritisiert der Autor die seiner Ansicht nach verfehlte und folgenreiche Rezeption Giambattista Vicos durch Erich Auerbach, der bei dem Theoretiker des frühen 18. Jahrhunderts eine Gleichsetzung von Kritik und Hermeneutik zu entdecken glaubte. Ebenfalls bemängelt er den „philosophische[n] Vico-Kult“ heutiger Kulturwissenschaftler, die sich auf das Erbe Vicos berufen, ohne zu sehen, dass dessen zu seiner Zeit uneingelöste Ideen von einem gemeinsamen philologischen Forschungsfeld (Ethnologie, Folkloristik, Volkskunde, Religionswissenschaft, Mediengeschichte und weitere) im 19. Jahrhundert Wirklichkeit waren, später aber aufgegeben wurden.
Man mag fragen, ob sich das alles allein im Kosmos der (Geistes-)Wissenschaften abgespielt hat oder ob dem auch eine alltagspraktische oder gar politische Relevanz zukommt. Eine Idee von Letzterem gibt Schüttpelz in Andeutungen an einer Stelle, in der er die Spaltung der heutigen USA auf die dogmatische Abwehr der historischen Methode durch bestimmte Spielarten des Protestantismus zurückführt. Gemeint ist vermutlich vor allem die evangelikale Richtung. Weitere Beispiele sind für ihn Positionen zum weltweiten Klimawandel oder zur israelischen Besatzungspolitik, die er offenbar für fundamentalistisch und das heißt: der Höheren Kritik nicht zugänglich hält. Diese Hinweise gehen über Fragen der Textkritik und ‑interpretation weit hinaus und erscheinen im Rahmen der vorgetragenen Argumentation doch sehr gewagt.
Während Schüttpelz den bis dahin dargestellten Paradigmenwechsel vor allem in Deutschland verortet, skizziert er im zweiten Teil seines Buches den „Prozess einer internationalen Konvergenz der Beziehungen zwischen Werkinterpretation und Literaturtheorie“ nach der Durchsetzung der Hermeneutik als vorherrschender Methode. Es soll nicht verschwiegen werden, dass der Autor dabei gedanklich und auch sprachlich – durch Bandwurmsätze und Attributhäufungen – derart verschlungene Wege geht, dass es oft schwerfällt, seinen Ausführungen zu folgen. Stark vereinfacht und alltagssprachlich heruntergebrochen scheint es darum zu gehen, dass in neuerer Zeit „Anfängerübungen“ beim Umgang mit Texten, wie sie in den Schulen und in der ersten Studienphase verlangt werden, zum Maßstab für literaturwissenschaftliche Theoriebildung geworden sind. Noch mehr zugespitzt und polemisch ausgedeutet, hat durch den Siegeszug der Hermeneutik ein avanti dilettanti Einzug in die Philologie gehalten. Diese präsentiere sich wegen der sprachlichen Klippen und Brüche vor allem als Nationalphilologie, während die Komparatistik, ungeachtet einiger Virtuosen wie René Wellek, Sam Weber, Paul de Man und anderer eher ein Randphänomen geblieben sei.
Als Beispiel für den „Werkzeugkasten“, der heutzutage „Novizen“ an die Hand gegeben werde, damit sie Aufsätze über Texte schreiben können, bezieht sich Schüttpelz auf die Methode der „explication des textes“, die in Frankreich seit etwa 1900 (seit Gustave Lanson sie propagierte) zum Standard im Literaturunterricht geworden sei. Sie ähnelt dem, was bei uns „textimmanentes Interpretieren“ und im angelsächsischen Raum „literary criticism“ heißt, einer Methode, die den ‚Vorteil‘ hat, dass sie literaturgeschichtliches Wissen nicht voraussetzt. Allerdings setzt sie anderes voraus: die Kenntnis von Fachbegriffen aus den Bereichen von Narratologie, Sprache, rhetorischen und Stilmitteln und die Fähigkeit, diese auf Texte anzuwenden, was ja keine Kleinigkeit ist. Wenn dann aus der Textanalyse eine plausible Interpretation hervorgeht, ist das eine respektable Leistung und nicht unbedingt eine „Anfängerübung“. Sachlich-historisches Wissen ist dabei nicht ausgeschlossen, sondern kann in höheren Klassenstufen und sollte im Literaturstudium hinzukommen.
Was stört nun Schüttpelz an all dem? Anstoß nimmt er wohl nicht an der didaktischen Reduktion im schulischen Literaturunterricht, sondern an der daraus abgeleiteten Theoriebildung, die er nach dem von Gerd Gigerenzer übernommenen Prinzip „Tools-to theory“ stattfinden sieht. Es habe sich also eingebürgert, dass Literaturtheorie aus dem „Werkzeugkasten“ entstehe, der eigentlich für „Novizen“ gedacht sei, sodass weitergehende Fragestellungen literaturhistorischer oder -soziologischer Art ausgeklammert blieben – zum Schaden der Wissenschaft. Allenfalls philosophische Lesarten – vielleicht denkt der Autor dabei vor allem an den Existentialismus – erweiterten die Basis eines derart verengten Umgangs mit Literatur. Zusammengefasst in den Worten des Autors: „Die Anfängerübungen des Literaturinterpretierens bestimmten erstens mehr und mehr den Begriff dessen, was man tut, wenn man Literatur interpretiert, und welches Objekt man dabei konstituiert.“
Es lohnt sich, über diese Thesen nachzudenken. Einige Zweifel resultieren aus der eigenen Erfahrung. Wer etwa in den siebziger Jahren Germanistik studierte, wurde gleich im ersten Semester mit dem gegen die Geistesgeschichte gerichteten Buch Methodenkritik der Germanistik von Gansberg/Völker konfrontiert und auf eine materialistische Analyse der Literatur hin orientiert. Was sie dabei lernten, nahmen junge Deutschlehrkräfte in den Unterricht mit. Nicht viel später wurde ein subjektbezogener Literaturbegriff diskutiert, nach dem eine individuelle ‚Verstrickung‘ in Texte zur Basis für ästhetische Erfahrung werden sollte. Das mag dem Anspruch der „Höheren Kritik“ nicht genügt haben, transzendierte aber das hermeneutische Paradigma und befeuerte eine Diskussion über den Nutzen der Literatur (H. D. Zimmermann, 1977). In unserem Jahrhundert stritt Hans Ulrich Gumbrecht mit Büchern wie Diesseits der Hermeneutik (2004) und Stimmungen lesen (2011) gegen die Vorherrschaft der einen Methode in „Deutland“. Es kann durchaus sein, dass Erhard Schüttpelz mit seiner Streitschrift offene Türen einrennt.
https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=31194
Letzte Änderung: 04.04.2025 - 13:05:50
Erschienen am: 31.03.2025
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