Der Anfang ist gemacht
Ulrich Schmid hat eine umfassende und überzeugende „Ukrainische Literaturgeschichte“ in deutscher Sprache herausgegeben
Von Daniel Henseler
Seit dem Ende der Sowjetunion waren immer wieder Klagen zu vernehmen, wonach sich das akademische Interesse für die Ukraine im deutschsprachigen Raum in Grenzen halte. Inzwischen hat sich das aber zumindest teilweise geändert: An vielen Hochschulen wurden nach 2014 oder spätestens seit 2022 Sprachlektorate für Ukrainisch eingeführt. Auch werden vermehrt und in verschiedenen Fachbereichen Lehrveranstaltungen mit einem Ukrainebezug angeboten.
Parallel dazu sind nach und nach auch die Grundlagen für seriöse Ukrainestudien gestärkt worden: Unterdessen sind mehrere Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Ukraine auf Deutsch erschienen. Dem Krieg und der aktuellen militärischen und politischen Lage werden zahlreiche wissenschaftliche Studien gewidmet. Und mit Andrii Portnovs knappem, aber konzisem Buch Ukraine-Studien liegt seit kurzem auch eine erste Einführung in dieses Studienfach vor. Was allerdings bisher noch gefehlt hat, ist eine Geschichte der ukrainischen Literatur, die bis zum heutigen Tag reicht.
Ulrich Schmid verantwortet nun als Herausgeber eine Ukrainische Literaturgeschichte, wie das Buch bezeichnenderweise betitelt ist. Hier steht nicht: Geschichte der ukrainischen Literatur. Dafür gibt es bestimmte Gründe, über die man zunächst eher spekulieren muss, bis sie dann aber doch einigermaßen explizit angesprochen werden. Es geht nämlich um ganz grundsätzliche Fragen: Welches Territorium soll ein solches Unterfangen als Grundlage nehmen? Dasjenige des heutigen Staates Ukraine? Oder eine frühere geografische „Ausformung“? Und in welcher Sprache soll oder darf diese Literatur denn verfasst sein? Nur auf Ukrainisch – oder doch auch in anderen Sprachen?
Eindeutige Antworten auf solche Fragen gibt der Band nicht immer. Zwar wird die Tatsache durchaus angesprochen, dass man für die früheste Literatur den Begriff „ukrainisch“ nur bedingt verwenden kann. Denn für jene Zeit muss man von einem ostslawischen Sprachkontinuum ausgehen, das überdies durch verschiedene Standardisierungsversuche, durch kirchensprachliche, aber auch dialektale Elemente verkompliziert wurde. Andererseits wird in diesem Band mehrfach ein Begriff wie „mittelukrainisch“ verwendet, ohne dass erklärt wird, was er genau bezeichnet. Ganz ähnlich wird zwar die Mehrsprachigkeit der Literatur (und ganz besonders auch von einzelnen Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie etwa Ivan Franko, Lesja Ukrajinka oder Ol’ha Kobyljans’ka) durchaus immer wieder thematisiert. Wenn es dann aber um die letzten 30 Jahre geht, wird freilich neben der auf Ukrainisch verfassten nur noch die in russischer Sprache geschriebene betrachtet – und nur kurz die krymtatarische Literatur oder jene Texte, die in der eigentlich vorwiegend mündlich gebrauchten ukrainisch-russischen Mischsprache „Suržyk“ geschrieben sind. Weitere Literatursprachen, die in der Ukraine ebenfalls gepflegt werden, bleiben ungenannt.
Die Einleitung der Ukrainischen Literaturgeschichte ist eher knappgehalten. Darin stellt Ulrich Schmid ein paar theoretische Überlegungen dazu an, nach welchen Grundsätzen man überhaupt eine Literaturgeschichte schreiben soll. Dann wird ein kurzer Überblick über bereits bestehende Überblicksdarstellungen zur ukrainischen Literatur – die meist auf Ukrainisch verfasst sind – gegeben. Eine gute Zusammenfassung dieses einführenden Teils ist vielleicht der folgende Satz:
Die ukrainische Literaturgeschichte ist von einer Kontinuität von Diskontinuitäten geprägt. Damit steht sie aber nicht außerhalb der europäischen Literaturgeschichten, sondern zeigt nur besonders anschaulich, wie sich literarische Prozesse in einem dynamischen institutionellen System abspielen.
Die einzelnen Kapitel des Bandes stammen von Alessandro Achilli, Maria Grazia Bartolini, Giovanna Brogi, Vera Faber, Alexander Kratochvil, Alois Woldan und Ulrich Schmid selbst. Manche Aufsätze sind von zwei oder drei Autorinnen und Autoren gemeinsam verfasst worden. Das Buch umfasst 18 Kapitel. Nach einer kurzen Einführung widmen sich die Beiträge den einzelnen Epochen der ukrainischen Literatur, wobei größtenteils chronologisch vorgegangen wird: Der Bogen reicht von der „Literatur der Kyjiver Rus’“ bis zur neusten Zeit, die unter dem Titel „Der Euromaidan, der russische Krieg gegen die Ukraine und die Literatur“ subsumiert wird. Da die Staatlichkeit der Ukraine nicht immer gegeben, beziehungsweise das Territorium der heutigen Ukraine manchmal auf verschiedene Staaten „verteilt“ war, wechselt hie und da auch der geografische Fokus der Beiträge, die dann beispielsweise Titel wie „Ukrainische Literatur in der polnisch-litauischen Adelsrepublik“ oder „Ukrainische Literatur im Habsburgerreich“ tragen.
Vieles an dieser Ukrainischen Literaturgeschichte überzeugt: Der Bogen von den Anfängen bis zur Gegenwart ist klar aufgespannt und nachvollziehbar. Die Diskussion über die Epocheneinteilung ist fruchtbar und führt zu einer sinnvollen Gliederung. Verschiedene wichtige Daten der ukrainischen Geschichte dienen immer wieder als Orientierungspunkte und zeigen zugleich auf, wie stark die Literatur wiederholt durch historische Gegebenheiten geprägt wurde. Was die Wahl der besprochenen Autorinnen und Autoren betrifft, so könnte man wohl bei jeder Literaturgeschichte trefflich streiten. Im Großen und Ganzen scheint es aber, dass die wesentlichen Namen durchaus erfasst worden ist. Bedauerlich ist aber beispielsweise, dass eine so bemerkenswerte Autorin wie Sofija Jablons’ka (beziehungsweise Sofia Yablonska, 1907-1971) nirgends Erwähnung findet – zumal von dieser Reiseschriftstellerin immerhin zwei Bücher auf Deutsch vorliegen. Ein besonderes Augenmerk gilt auch jenen Figuren des Literaturbetriebs, die zwischen verschiedenen nationalen Zugehörigkeiten standen oder die Schreibsprache wechselten. Anschaulichkeit erlangt der Band unter anderem durch seinen Fokus auf die zahlreichen Räume, in denen die ukrainische Literatur geschrieben und gelesen wurde: So findet man hier Begriffe wie Polen, Russland, Bukowina, Galizien oder das „Exil“ in verschiedenen Ländern. Man erfährt im Weiteren manches über die Faktoren und Konstellationen, die für die Entwicklung einer ukrainischen Literatur maßgeblich waren: die aktuelle staatliche Zugehörigkeit, Akteure und Institutionen des Literaturbetriebs, religiöse und andere Prägungen, Eigenarten von Epochen und Gattungen, dominierende Tendenzen und Stile, Einflüsse aus allen möglichen geografischen Richtungen.
Einige Mängel sind allerdings ebenfalls zu verzeichnen. Die Umschrift der ukrainischen Namen ist hie und da uneinheitlich. Auch haben sich ein paar Fehler eingeschlichen: So wird die Zeitschrift „Dzvin“ fälschlicherweise als „Dzvon“ bezeichnet. Ab und zu wird ein wichtiger literarischer oder historischer Begriff gar nicht (Sloboda) oder erst viel später (Wanderdjak) näher erklärt. Dann wiederum ist ein im Deutschen standardisierter Ausdruck wie „Großer Terror“ plötzlich klein geschrieben („großer“). Und hie und da – vor allem für die neueste Zeit – konzentriert sich die Darstellung der ausgewählten Texte etwas allzu sehr auf ein Nacherzählen des Inhalts.
Diese wenigen Einwände sollen jedoch die Leistung des Projekts nicht schmälern. Die Ukrainische Literaturgeschichte ist in unaufgeregter, zugänglicher Sprache verfasst. Sie ist umfassend, weil sie einen gültigen Überblick über die Jahrhunderte gibt. Sie ist im besten Sinn unideologisch, weil sie zunächst einmal vor allem informativ sein will. Vor allem aber regt sie dazu an, sich ausführlicher mit der ukrainischen Literatur zu befassen, und zwar nicht nur im Rahmen eines Studiums der Ukrainistik. Von besonderem Nutzen sind in diesem Zusammenhang auch die vielen Hinweise auf weiterführende Lektüre sowie auf die deutschen Übersetzungen der erwähnten Texte. Allzu oft wird einem allerdings gerade hier bewusst, wie viel an ukrainischer Literatur (noch) nicht auf Deutsch gelesen werden kann. Die Ukrainische Literaturgeschichte ist somit immer wieder auch eine deutliche Aufforderung an Verlage, Übersetzerinnen und Übersetzer, unbedingt weitere Romane, Gedichte oder Dramen aus dem Ukrainischen ins Deutsche zu übertragen.
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