Selbst denken

Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800

Von Waldemar FrommRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Fromm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für die Zeit um 1800 konstatieren Literaturgeschichten einen einschneidenden Wechsel der Sprachauffassungen, in der Regel als eine Folge der Abkehr vom Prinzip der Naturnachahmung vorgestellt. Zugrunde liegt diesen Veränderungen eine Krise der Repräsentation. Den Hauptgrund der Krise sehen Stephan Jaeger und Stefan Willer in dem von ihnen herausgegebenen Band "Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800" in einer zunehmenden Überschneidung der Grenzen zwischen Objektsprache und Metasprache, die sich "auf die Differenz zwischen eher betrachtenden (Denken, Wissen, Struktur) und eher vollführenden (Inszenierung, Aufführung, Wirkung) Schreibweisen auswirkt". Die einzelnen Beiträge des Bandes untersuchen die ästhetischen, poetologischen, sprachwissenschaftlichen und politischen Aspekte dieses neuen Sprachdenkens.

In der Einleitung skizzieren die Herausgeber das aktuelle sprachphilosophische Interesse am Sprachdenken um 1800 und fassen die Diskussion um den Begriff der Performanz zusammen. Sie zeigen das Panorama der Diskussion von hermeneutischen bis hin zu dekonstruktiven Ansätzen (mitunter auch auf die Gefahr hin, ohne eine eigene Position dazustehen). Beim Begriff "Performanz" stützen sich die Herausgeber hauptsächlich auf die Arbeiten von Jacques Derrida und Paul de Man und unterscheiden drei Formen von Performanz: "die rhetorische Inszenierung der Repräsentation als ein Vorgang der ständigen Verschiebung des Repräsentierten, die Desemantisierung von Sprache und der Vollzugscharakter von Sprache". Die Beschäftigung mit der Rhetorik oder den Folgen rhetorischer Prozesse führt zu einer Engführung des Darstellungsbegriffs, und nicht, wie es die Verwendungsweise des Begriffs auch nahe gelegt hätte, zu einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung. Performanz wird ein Spezialfall von "Darstellung".

Ergänzungsbedürftig bleiben Untersuchungsprogramm und -gegenstand durch Darstellungstechniken der oralen Tradition, auf die die Autoren allgemein hinweisen, ohne einzeln auf sie einzugehen, wie Märchen und Lied (das intensive Singen von Liedern in den Romanen der Romantik hätte hier einen performativen Grund erhalten können), aber auch Theater und die Theaterleidenschaft (etwa eines Anton Reiser), auf die im Sammelband einzig Ruth Petzoldts Beitrag zu Tiecks romantischer Komödie reagiert. Die grundlegende Spannung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, die die Autoren für die Performanz des Literarischen um 1800 konstatieren, wäre anhand dieser Formen und intermedialen Dispositionen 'mit der Hand zu greifen' gewesen. Die Erweiterung literarischer Darstellungstechniken und das darin sich artikulierende intermediale Interesse sind die sichtbarsten Zeichen des veränderten performativen Feldes um 1800 und hätte eine eigenständige Darstellung verdient. Im Zentrum der Veränderungen stehen in dem Sammelband die romantischen Zeichenlehren. Die Engführung des Performanzbegriffs hat hier insbesondere für die Kohärenz des Bandes Vorteile.

Stefan Metzger und Robert André beschäftigen sich mit Hölderlins Sprachdenken. Stefan Metzger bindet Hölderlin in das "konjekturale Denken" der Zeit insgesamt ein. Konjektural sei das Denken der Zeit, so Metzger, weil es auf "die Konfrontation mit einer erklärungsbedürftigen Leerstelle oder Bruchstücken, die ergänzt werden sollen", reagiert. Damit wird eine Zunahme des Möglichen, nicht des Wahren verbunden. Irritierend an dieser heuristischen Orientierung in der Sprache und im Denken bleibt aber die Betonung einer gewollten, absichtsvollen Offenheit, nach der konjekturales Denken nicht "Ausdruck eines Mangels, sondern eine spezifische eigene Leistung des konjekturalen Denkens und der ihm eigenen Performanz" darstellt. Aus dieser Auffassung ist jedes Krisendenken verschwunden. Zwar wird das System konjekturalen Denkens mit überzeugender Konsequenz vorgestellt, unklar bleibt aber, wo es sich mit der Sache deckt, von der gesprochen wird. Die Autoren um 1800 begrüßen ihre Situation nicht euphorisch, sie suchen nach moralischen und transzendentalen Ärzten, die die Risse und Wunden im Empfinden, Denken und der Sprache heilen können. Auch das konjekturale Denken kennt einen finalen Punkt, auf den es hinsteuern will. Dieser Punkt relativiert alle Offenheit und Vorläufigkeit. Stellvertretend sei hier nur an eine Passage aus Karl Philipp Moritz' "Denkwürdigkeiten" erinnert: "Es muß notwendig ein gemeinschaftlicher Faden, durch all das Mannigfaltige, was in den Köpfen von Millionen Menschen zerstreut ist, durchlaufen, um es zu einem gewissen festen Endzwecke zusammen zu knüpfen.". Einem solchen Zitat ließe sich zwar Jean Pauls "Konjekturale Biographie" entgegenstellen, aber bereits der Titel reagiert ironisch auf ein Repräsentationsproblem, er behauptet nicht, dass eine konjektural verfasste Biographie die Lösung des Problems ist.

Tanja Schultz untersucht die Parallelität der Repräsentationsfunktionen von Literatur und Politik bei Novalis. Beide enthalten eine Form von "performativer Repräsentanz", in der Repräsentation jeweils überwunden werden soll. Die Ansichten des Novalis über literarische und politische Hieroglyphistik legen diese Annahme der Verfasserin nahe. Ob dem Königspaar dabei modellhaft eine führende Rolle zugewiesen werden kann, muss allerdings bezweifelt werden, denn sowohl die politologischen als auch die poetologischen Ansichten des Novalis gründen in der Symboltheorie und den Ansichten zur "symbolischen Construction" von Welt. In der Fragmentsammlung "Glauben und Liebe" soll das Königspaar den Staat als einen ästhetischen Zustand symbolisieren, der Natur und Kultur aus einem Prinzip integriert. In ihm gilt das repräsentative System der Monarchie ebenso wie eine egalitäre bürgerliche Gesellschaftsordnung. Der Holismus der Monarchie mit einem "Sonnenkönig" im Zentrum wird unmittelbar auf die egalitären Bestrebungen der Zeit angewandt. Der König wird als eine symbolische Funktion des Volkes konzeptualisiert und besonders unter der Voraussetzung anerkannt, dass er die Transzendentalpoesie versinnbildlichen kann. Mit der Aufforderung "alles kann zur schönen Kunst werden" ist bei Novalis an einen poetischen Staat gedacht, den das Organische organisiert, und in dem die Individuen durch die Freiheit einer "natürlichen Etiquette" der Liebe zueinander in ein Verhältnis gesetzt sind. Unabhängig von der Frage der Gewichtung von Politik und Poetik sind die Überlegungen der Autorin hilfreich für das Verständnis der Funktion des Performativen bei Novalis, weil sie u. a. zeigen, wie das Denken des "Geheimnisses", also des Undarstellbaren in Sprache und Politik, als Effekt der Performanz konzeptualisiert werden können.

Irmela Marei Krüger-Fürhoff untersucht die Ästhetik von Karl Philipp Moritz. Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, dass Moritz in "Die Signatur der Schönheit" in der Schreibweise inszeniert, was er theoretisch postuliert. Dieses Ergebnis deckt sich mit Moritz` Formulierung in dem Aufsatz "Über ein Gemälde von Goethe", in dem es heißt, dass der Darstellungstrieb sich selbst darstelle. Das Denken der Sprache ist also selbst performativ ausgewiesen. Die Autorin liest Moritz' Text in einer Verknüpfung von Sprache und Körperlichkeit. Paradigmatisch dafür ist ihr zufolge die Geschichte der Philomele. Deren in einen Stoff gewebte Worte, die die Geschichte ihres Leidens festhalten, sind das Ergebnis körperlicher Gewalt. Diese Deutung bildet die Intention von Moritz' Aufsatz über die Signatur der Schönheit nicht vollständig ab. Die Geschichte der Philomele ist im Text nicht vorrangig auf die Frage nach dem Ursprung der Literatur aus der Körperlichkeit hin arrangiert, sondern auf Lessings "Laokoon" und die Debatte um den Ausdruck des Leidens und des Schmerzes in der Bildenden Kunst, Malerei und Literatur. Moritz' subtile Reaktion auf Lessings "Laokoon" und das zweifellos vorhandene Thema der Körperlichkeit kann ohne ihn nur verkürzt zur Darstellung kommen.

Arne Klawitter untersucht die veränderten Repräsentationsformen um 1800 anhand der Fragmente des Novalis. Klawitter greift die Vorbildfunktion von mathematischen Zeichen für die Selbstreferentialiät von Sprache auf und zeigt, wie Novalis damit die Darstellung selbst zur Darstellung bringen will. Die Notwendigkeit einer solchen Darstellung der Darstellung ergibt sich aus dem transzendentalen Interesse, die Struktur des Bewusstseins als den eigentlichen Kern der Prozesse zu begreifen. Performanz wird in der romantischen Form, und das entgeht Klawitter, erst in einer fragmentarischen Potenzierung interessant: als Verneinung des Repräsentierten und Repräsentation des verborgenen Anlasses repräsentativer Prozesse. Die Konzeption von Fragmenten beruht auf einem "autogenen" unsagbaren Anteil und einem kommunizierbaren Anteil. Fragmente sind eine Form für einen primären (in der Literatur) nicht repräsentierbaren Anteil und einen sekundären, der zwar repräsentierbar ist, aber nicht das Ziel der Literatur bleiben darf, da er aus dem unsagbaren Teil ,abgeleitet'/abgetrennt worden ist.

Selbstbezüglichkeit, Selbstreferentialität und Selbstthematisierung sind die Stichworte, mit denen sich die Autoren der Performanz um 1800 annähern. Stefan Willer beschäftigt sich mit der etymologischen Methode und den sprachgeschichtlichen Betrachtungen Johann Arnold Kannes, Kai van Eikels mit der "sprechenden Sprache" bei Novalis und Heidegger und Stephan Jaeger mit der romantischen Lyrik. Detlef Kremer untersucht Performanzphänomene am Beispiel des Fensters. In der Malerei der Romantik ist der Blick durch das offene Fenster ein wichtiges Motiv. An ihm zeigt Kremer, dass es den Romantikern nicht nur darum zu tun ist, einen Gegenstand zu bezeichnen, "sondern auch die subjektive Art und Weise dieser Bezeichnung" dazugehört.

Die einzelnen Beiträge beschreiben Performanzphänomene unter den Bedingungen der Rhetorizität von Sprache. Das ist nicht in jedem Fall ein glücklicher Ansatz, sofern performative Strategien wie Desemantisierung oder Dezentrierung einzig unter dem Aspekt der Sprache in Erscheinung treten. Gerade die Musikalisierung der Sprache um 1800 zeigt, dass nicht bloß eine Desemantisierung erreicht werden soll, sondern etwas Unbestimmtes in der frühromantischen Tradition semiotisch verfügbar werden soll. Sprache ist nur ein Teil des 'kognitiven Systems' Mensch, dessen semiotische Fähigkeiten insgesamt die Autoren um 1800 interessieren. "Desemantisierung" beispielsweise durch die Orientierung an der Musik kann in Blick auf den 'ganzen Menschen' deshalb auch als 'Resemiotisierung' verstanden werden. Gerade ein Überbegriff wie "Performanz" hätte erwarten lassen, dass eine solche 'Resemiotisierung' als Moment der literarischen Rede zur Sprache kommt.

Titelbild

Stephan Jaeger / Stefan Willer (Hg.): Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
256 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3826018540

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