Wahrheit und Unwahrheit der Geschichte

Ein kritischer Sammelband zu Hannah Arendt

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Hannah Arendt 1961 als Berichterstatterin des "New Yorker" zum Prozess gegen Adolf Eichmann nach Jerusalem ging, ahnte sie nicht, was daraus entstehen würde. Ihr Bericht erschien zunächst in einer Folge von Essays und dann 1963 als Buch. Arendts "Bericht von der Banalität des Bösen" brachte eine internationale Kontroverse in Gang, woran nicht zuletzt der provozierende Titel schuld war.

Gary Smith, Gründungsdirektor des Einstein-Forums in Potsdam hat eine Sammlung von Aufsätzen herausgegeben, die zum größten Teil als Vorträge konzipiert wurden für eine Tagung, die 1997 anlässlich der "Goldhagen-Kontroverse" in Potsdam stattfand. Das Vorwort indessen kann man sich sparen, denn es führt die Leser auf irreleitende Weise in die Texte ein. Smith unterscheidet grundsätzlich bei der Beurteilung der Geschichte zwischen dem Historiker und dem Polemiker, wobei Arendt mit ihrer "souveränen Erzählung" auf jeden Fall als Polemikerin zu bezeichnen wäre. So fällt denn auch in der ersten Hälfte des Bandes auf, dass die Autoren immer wieder auf Arendt als "glänzende Schreiberin" hinweisen, so als könnte dies ein Schutz gegen Wahrheit und Unwahrheit in der Geschichte sein. "Hannah Arendt bleibt eine anregende intellektuelle Gestalt" (Amos Elon) - aber darüber hinaus hat sie nach Ansicht einiger hier zu Wort kommender Wissenschaftler fast nichts zur Erhellung des Holocaust beigetragen: sie habe zu Unrecht den Judenräten vorgeworfen, Mittäter gewesen zu sein, sie habe sich oft im Ton vergriffen und habe schlampig recherchiert; sie sei schließlich insgesamt zu unwissenschaftlich vorgegangen.

All diese Vorwürfe treffen zum Teil zu. Arendts Buch muss mit Vorbehalten gelesen werden. Allerdings scheinen manche der Autoren selbst allzu sorglos ans Werk gegangen zu sein, und so entging ihnen das wesentliche Anliegen Arendts. Dieses wird in hervorragender Weise von zwei Autoren zusammengefaßt: Dana R. Villa, Assistant Professor für Politische Theorie an der University of California, und Richard J. Bernstein, Philosophieprofessor in New York. Beide heben darauf ab zu zeigen, dass im Zentrum von Arendts Bericht Eichmann selbst stand, seine Persönlichkeit und vor allem seine Art zu sprechen. Was Arendt geliefert hat, ist eine "Fallstudie des Totalitarismus auf der Ebene des Individuums" (Villa). Die Konfrontation mit Eichmann hat in ihr eine neue Urteilsbildung in Hinsicht auf den Begriff des Bösen in Gang gebracht. Was man in ihrem Bericht studieren kann, ist dieser Prozess einer Urteilsfindung.

So bietet die Sammlung einen Querschnitt durch all die Verwirrungen und Erhellungen, die "Eichmann in Jerusalem" schon bei Erscheinen in den Köpfen ausgelöst hat. Wir finden die alten emotionalen Reaktionen und Verletzlichkeiten wieder, aber auch eine von Vorurteilen freie Auseinandersetzung. Eine lesenswerte Bestandsaufnahme.

Titelbild

Gary Smith (Hg.): Hannah Arendt revisited: 'Eichmann und die Folgen'.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
312 Seiten, 12,20 EUR.
ISBN-10: 3518121359

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