Noch einmal Nietzsche

Konrad Paul Liessmanns neues Buch über die "Philosophie des verbotenen Wissens"

Von Marc RölliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Rölli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem 100. Todesjahr von Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) ergoss sich eine Flut von neuen Publikationen auf den Büchermarkt, die mehr oder weniger intelligent auf einen ,Boom' spekuliert haben. Schließlich durfte man hoffen, dass Nietzsche noch nicht alles von seinem sagenhaften Pulver verschossen hat, dass also noch explosive Interpretationsmöglichkeiten seines Werkes offen stehen, die nicht schon tausendfach von vorne nach hinten und von hinten nach vorne durchschritten sind. Mit Nietzsche, so glaubte man, ließe sich auch heute noch ein Feuerwerk des Denkens entzünden. Aber lassen sich rückblickend im Umkreis der Gedenktage Spuren finden, die auf eine neuartig inspirierte Auseinandersetzung mit seinem Werk deuten - auf eine Auseinandersetzung, die mehr zu bieten hätte als die Wiederkehr des Immergleichen?

Konrad Paul Liessmann, Professor am Institut für Philosophie an der Wiener Universität, hat jedenfalls ein Buch über Nietzsche mit einem durchaus absatzfreundlichen Titel vorgelegt. Im Vorwort heißt es dazu: "Als ich vor Jahren eher durch Zufall auf eine Notiz Nietzsches stieß, in der er eine nie geschriebene ,Philosophie des verbotenen Wissens' ankündigte, wußte ich, daß es mehr als ein Versäumnis wäre, solch einen Titel zu verschenken." In diesem Titel schießen für Liessmann die grundsätzlichen Motive des nietzscheanischen Denkens zusammen: bleibt nur die Aufgabe, die (angeblich) vor allem in den nachgelassenen Fragmenten versteckten Gedanken aufzusammeln - und also auszuarbeiten, wozu Nietzsche (angeblich) selbst nicht mehr gekommen war. Tatsächlich konfrontiert Liessmann seinen Leser weniger mit einer originellen Fortsetzung des nietzscheanischen Denkens, als vielmehr mit einer thematisch ausgerichteten Rekonstruktion bestimmter zentraler Aspekte desselben. Auf diese Weise soll die Frage beantwortet werden, "ob Nietzsche, hundert Jahre nach seinem Tod, noch einmal zum Sprechen gebracht werden kann?" Wäre es möglich - so möchte ich diese Fragestellung paraphrasieren -, dass ein heutiger Interpret der Philosophie Nietzsches ihre unzähligen Rezeptionsgeschichten einfach vergisst und stattdessen dazu übergeht, auf unvermittelte Weise die ,Geschichte einer Begegnung' zu präsentieren?

Das Buch von Liessmann gliedert sich in drei Kapitel, die jeweils in zwei Abschnitte unterteilt sind. Die einzelnen Kapitel beschäftigen sich auf essayistische Art und Weise mit Erkenntnistheorie, Ästhetik und Ethik. Allerdings umkreisen sie, wie Liessmann unermüdlich hervorhebt, die verbotenen oder "schwarzen Seiten des Denkens", das heißt weniger die Wahrheit, die Schönheit und die Tugend, als vielmehr das Unwahre, das Hässliche und das Böse. Jedes Kapitel enthält im ersten Abschnitt philosophiehistorische Ausführungen zu dem entsprechenden Themenkomplex, welcher dann im zweiten Abschnitt allein mit Rücksicht auf Nietzsche und seine Behandlung der Problematik - in Kontrast oder Fortführung geschichtlicher Lösungswege - zur Darstellung kommt.

Liessmann versucht, den Stellenwert der "verbotenen Weisheiten" mit Hilfe der von Nietzsche praktizierten außermoralischen Betrachtungsweise aufzuschlüsseln: "Wissen als solches erscheint als etwas Verbotenes, und die Artikulation dieses Verbotes nennen wir Moral." Die Moral übernimmt demnach die kulturelle Funktion, notwendige Fälschungen des Lebens zu fabrizieren, religiöse Scheinwahrheiten zu verbreiten und lebenspraktische Normen zu etablieren: sie ermöglicht die pragmatische Abwendung von der metaphysischen Sinnlosigkeit bei gleichzeitiger Verleugnung oder Beschönigung ihrer eigenen machtstrategisch bestimmten Genese. Bis hierher kann man Liessmann in seinen Analysen folgen, die gleichwohl im weitgehenden Verzicht auf etwaige Sekundärliteratur vorgetragen werden: die angebliche Brisanz der verhandelten Themen sowie der sich radikal zeitgemäß gerierende kritische Gestus des Autors mögen zu dieser Missachtung beigetragen haben.

Anders verhält es sich, wenn Liessmann das Verbotene zum Gefährlichen stilisiert, das hinter unseren hartnäckigsten Selbsttäuschungen sein Unwesen treiben soll. Dieser Gefahr stellt sich nur der Ausnahmemensch, der sich auf rücksichtslose und rückhaltlose Weise in die Ereignis- und Seinsuntiefen des Lebens hinabgleiten lässt. Es steht wohl Heidegger im Hintergrund dieser Herangehensweise, wenngleich bei Liessmann Nietzsche selbst das "Prinzip der Machtausdehnung als fundamentales Prinzip" überschreitet, und damit quasi-heideggerianisch über die Machenschaften des technischen Zeitalters triumphiert. Trotzdem wehrt sich Liessmann - vielleicht unwissentlich - mit Heidegger gegen Nietzsches Philosophie des "guten Scheins", welche überhaupt keinen Ausweg ins Scheinlose mehr übrig lässt - und gerade deshalb die theologischen Hintergedanken des nach authentischer Fülle gierenden Bewusstseins ein für alle Mal hinter sich läßt. Nietzsche verkündet ja bekanntlich in der "Götzendämmerung", dass mit der wahren Welt ebenso die scheinbare Welt abgeschafft sei.

Liessmann hingegen gaukelt seinem Leser die schonungslose und illusionslose "Selbstdurchsichtigkeit" vor, welche die physiologische Zeichensprache zur Grundsprache des Lebens erklärt. Zum Ereignis stilisiert er - nietzscheanisch inspiriert - die außermoralischen Erfahrungen der Sinnlichkeit: "das Häßliche, das Ekelhafte und das Obszöne. Es ist dies das Innere des Menschen, ohne den Schutz der Haut." Vielleicht darf man sagen, dass Liessmann Heideggers aufklärungskritische Überlegungen mit Batailles Erotik zusammenrührt. Demnach besteht die Einsicht in die Scheinhaftigkeit des moralisch infizierten Denkens u. a. in der Offenlegung der drastischen Nacktheit und Hinfälligkeit des menschlichen Körpers. "Böse ist jene authentische Körper- und Schmerzerfahrung, an der letztlich alle Illusionen, alle Faszinationsgebärden des Scheins und der Selbsttäuschung zerbrechen." Und wenn Liessmann mit entlarvendem Tonfall schreibt: "Kinder in ihrer unschuldigen Nacktheit dürfen, bis heute, gerade nicht als Objekte sexueller Begierden ins Blickfeld der Erwachsenen rücken, auch wenn man, zumindest in Europa, noch geneigt ist, ihnen Rudimente ihrer Sexualität zuzugestehen - allerdings nur mit Gleichaltrigen", dann stellt sich die Frage, ob hier ein Tabu lediglich neutral beschrieben oder ob seine real betriebene Verletzung verharmlost wird.

Liessmann sucht und verklärt die authentische Selbsterfahrung, als könne sie aus den Illusionen der Lebens- und Denkgewohnheiten normalisierter Subjekte befreien. Allerdings bleibt diese Befreiung privat und abstrakt - und steht, Foucault hat es gezeigt, als begehrte Fiktion inmitten machtbeflissener Diskurse, welche sich um die Wahrheit des Subjekts ranken. In diesem Sinne löste sich schon Nietzsche von seinen romantischen Vorstellungen (v. a. seines Tragödienbuchs) und entlarvte die "scheinlose Wahrheit" als asketisches Ideal. Liessmann aber verkennt diesen letzten Schlenker in Richtung auf eine neue Aufklärung hin, trampelt Phrasen dreschend über die diffizilen Subjektivierungsprozesse hinweg, welche künstlerische Fluchtlinien in ein gelingendes Leben zu ziehen vermöchten und fordert den blinden Durchbruch zum Ereignis. Seiner Meinung nach forderte Nietzsche "keine andere Form der Rationalität [...], sondern das Durchbrechen jeder regelgeleiteten Vernunft." Aber Nietzsche wusste sehr wohl - und viele seiner nicht-konservativen und ethisch begabten Interpreten ebenso -, dass die Kritik der Vernunft weder ihre Rettung noch ihre Auflösung fordert, sondern ihre Umformung.

Titelbild

Konrad Paul Liessmann: Philosophie des verbotenen Wissens. Friedrich Nietzsche und die schwarzen Seiten des Denkens.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2000.
380 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3552049800

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