Haus mit Hüter

Ein Sammelband bemüht sich um Annäherungen an die 'Wissenschaft vom Judentum' nach der Shoa

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer im September 1959 in London gehaltenen Ansprache definiert Gershom Scholem drei Momente, die nach seiner Meinung die Wissenschaft vom Judentum (Scholem verwendet den hebräischen Begriff chokhmat Jisra'el) seiner Zeit neu bestimmen. Neben dem Zionismus sind dies "die Katastrophe, die wir alle erlebt haben, und die Staatsgründung Israels. Die Bedeutung dieser beiden Momente für die Wissenschaft vom Judentum kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Nie wieder werden wir die jüdische Geschichte und die Existenzbedingungen einer jüdischen Gesellschaft mit denselben Augen ansehen können wie vorher. Die Katastrophe hat eine Sicht endgültig und radikal beseitigt, welche nur bis dahin möglich war. Nunmehr kann das Judentum nicht mehr anders gesehen werden, als in der Kontinuität eines sozialen Ganzen, das zwar unter der Inspiration von großen Ideen kämpfte aber von ihnen niemals bis zu Ende regiert und dirigiert wurde. Die Katastrophe hat aber zugleich den Ast abgesägt auf dem wir saßen." Wissenschaft vom Judentum im Sinne Scholems muss daher als Wissenschaft verstanden werden, deren kulturelle und gesellschaftliche Verantwortung sich vom Datum der Shoa ableitet.

Der jüdische Gelehrte Leopold Zunz hatte im Deutschland des 19. Jahrhunderts nicht nur den Begriff der "Wissenschaft des Judentums" geformt, sondern diese durch die Einführung moderner, systematisch-kritischer Methoden überhaupt erst begründet. Gegenstand der Erforschung sollte die jüdische Kultur in all ihren vielfältigen Erscheinungsformen vor dem Hintergrund von Emanzipation und Akkulturation der jüdischen Minderheit und dem Ringen um die Bewahrung ihrer Identität angesichts der sich drastisch verändernden Zeitverhältnisse sein. Sieht man von Martin Bubers Honorarprofessur für allgemeine Religionswissenschaft und Nahum Glatzers Lehrauftrag für jüdische Ethik in Frankfurt am Main sowie der Neu-Konstituierung des Institutum Judaicum in Berlin unter Hugo Gressmann ab, blieb der judaistischen Wissenschaft der Weg in den staatlichen Hochschulbetrieb jedoch verschlossen. Gewissermaßen an den Rändern der etablierten akademischen Fächer etablierten sich im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe privat geförderter Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen wie die Rabbinerseminare in Berlin und Breslau und ab 1872 die Lehranstalt und spätere Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, die 1942 geschlossen und deren letzter Lehrer, Leo Baeck, nach Theresienstadt deportiert wurde. Die Judaistik ist erst nach der Shoa an deutschen Universitäten als anerkannte akademische Disziplin eingerichtet worden.

Mit dem hier anzuzeigenden Sammelband liegt nun erstmals eine detaillierte Bestandsaufnahme vor: Geboten werden ein systematischer Überblick über einzelne Fachgebiete und Überlegungen zu Problemen und Perspektiven von Forschung und Lehre der Judaistik in Deutschland. Die Herausgeber des Bandes, Michael Brenner und Stefan Rohrbacher, unterstreichen in ihrem Vorwort zu Recht den "wesensmäßigen Bruch" zwischen der Wissenschaft des Judentums und der im Nachkriegsdeutschland erfolgten wissenschaftlichen Hinwendung an das Judentum. Das an deutschen Universitäten festzustellende Interesse und Engagement stehe dabei nicht in der Tradition der Wissenschaft des Judentums, sondern suche auf sie zurückzugreifen, "ohne sie fortführen zu können". Zugleich wird darauf verwiesen, dass es nach der Shoa ohnehin nur um eine "Annäherung an diese Tradition" gehen könne. Der in den letzten Jahren expandierenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit unterschiedlichen Aspekten des Judentums wird durch eine im Einzelnen kenntnisreiche und akribische Bilanz einzelner Fachgebiete Rechnung getragen. Der interessierte Leser findet gut lesbare Darstellungen zu den Gebieten "Talmud und Rabbinische Literatur" (Günter Stemberger), "'Jüdische' Philosophie" (Giuseppe Veltri), "Jüdische Geschichte" (Stefan Rohrbacher), "Jüdische Kunst" (Hannelore Künzl), "Jiddische Sprache und Literatur" (Marion Aptroot) sowie "Jüdische Literatur" (Dieter Lamping). Bedauernswert ist allenfalls, dass ein Beitrag zur Bibelwissenschaft fehlt, und damit auch eine Reflexion über das hochproblematische Verhältnis der Judaistik zur christlichen Theologie.

Dankbar nimmt man zur Kenntnis, dass die mitunter vehement ausgetragene Auseinandersetzung zwischen Vertretern der "Judaistik" und der "Jüdischen Studien" ihren deutlichen Niederschlag in diesem Band gefunden hat. Angesichts der Geschichte judaistischer Wissenschaft in Deutschland ist es allerdings wenig überraschend, dass auch deren Perspektiven gegenwärtig unterschiedlich eingeschätzt werden. Dabei geht es im Wesentlichen um zwei grundsätzliche Fragen: einerseits um die Frage nach der Interdependenz von wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Aufgabenstellung sowie andererseits um die Frage nach dem Verhältnis von eigenständiger Fachwissenschaft und interdisziplinärer Ausrichtung. Diese mit der politischen Wende in Deutschland neuerlich aufgebrochene Diskussion hat in Potsdam (in Kooperation mit dem Moses-Mendelssohn-Zentrum) zur Errichtung eines interdisziplinär durchgeführten Studienganges "Jüdische Studien" geführt. Ähnliche Bestrebungen sind in Oldenburg, Mainz, München (mit der Einrichtung einer Professur für jüdische Geschichte), in Hamburg (Institut für die Geschichte der deutschen Juden), Duisburg (Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut) und in Leipzig (Simon-Dubnow-Institut für osteuropäische Geschichte) zu beobachten. Dabei wird ein erheblicher Teil der Forschung und Lehre von einzelnen Gelehrten und Institutionen außerhalb der eigentlichen Judaistik geleistet, mit dem Ziel, auf diese Weise zu einer breiteren, methodisch und sachlich differenzierteren Darstellung des Judentums zu gelangen. Diese Bemühungen, Nichtjudaisten in die judaistische Forschung einzubinden, ist von offiziellen Vertretern der "Judaistik" nicht selten mit erheblichen Vorbehalten bedacht worden, da die meisten Forscher anderer Fächer nicht über ausreichende Hebräischkenntnisse, nach wie vor das "Entréebillet zur Judaistik", verfügten. Wie Karl E. Grözinger in seinem Beitrag zu Recht unterstreicht, hätte eine so verstandene und praktizierte 'Hebraeozentrik' eine ausschließlich mikrologische Ausrichtung und eine totale Ausschließung wichtiger Arbeiten auf dem Gebiet jüdischer Forschungen in Deutschland zur Folge. Führt man sich etwa den wachsenden Einfluss der Shoa auf eine immer größer werdende Anzahl akademischer Fächer vor Augen, so dürfte evident sein, dass Judaisten allein in aller Regel kaum genug Kompetenz mitbringen, die Vielschichtigkeit dieses Themas adäquat herauszuarbeiten. Nicht zuletzt deshalb sollten die "Jüdischen Studien" - bei interdisziplinärer Ausrichtung - auch strukturell eine Vielfalt von Themen anstreben, die der Vielfalt jüdischer Kultur gerecht wird, ohne sich allerdings der notwendigen sprachlichen und religionswissenschaftlichen Grundlagen zu berauben, wie Margarete Schlüter nicht müde wird hervorzuheben.

Auch wenn der vorliegende Band sicherlich nur Einblicke in das facettenreiche Spektrum von judaistischen Themenfeldern gibt und geben kann, ist es den Beiträgern fraglos gelungen, das selbstgesteckte Ziel zu verwirklichen: Nicht nur Studierende des Faches oder seiner Einzeldisziplinen, sondern auch interessierte Außenstehende benachbarter akademischer Fächer sollen über die Vorgeschichte der Wissenschaft des Judentums im 19. und frühen 20. Jahrhundert (die Beiträge von Ismar Schorsch, Christhard Hoffmann und Michael Brenner), über die Geschichte der Etablierung der Judaistik als "'neuer' akademischer Disziplin" in der deutschen Nachkriegszeit (neben Grözinger und Schlüter Beiträge von Joseph Dan, Andreas Gotzmann und Wolfgang Benz) sowie über wissenschaftliche Ansätze zur Beschäftigung mit jüdischer Kultur und Geschichte informiert und zu eigenen Überlegungen angeregt werden. Konfrontiert mit den zerstörerischen Realitäten des 20. Jahrhunderts, der Frage nach Rolle und Bedeutung der Shoa in der deutschen Geschichte und der als 'negativ' zu bewertenden Symbiose zweier Kulturen, die mit "deutsch" und "jüdisch" nur unzureichend zu bezeichnen wären, sucht der israelische Kabbala-Forscher Joseph Dan nach einem Neuansatz für die Wissenschaft. Seine Antwort kann zweifelsohne in ihrer sokratischen Ausrichtung auch als unmittelbare Reaktion auf den Sinnproduktions- und Unfehlbarkeitsgestus akademischer Gelehrsamkeit gelesen werden: "Wir sollten tun, was ohnehin unsere Aufgabe ist: in aller Bescheidenheit untersuchen, analysieren und lehren, was in der Vergangenheit geschehen ist, ohne vorzutäuschen, etwas zu wissen, was wir nicht wissen; wir sollten unsere Studenten an den Fragen und Zweifeln teilhaben lassen, die uns belasten. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Antwort für das Lehren an Gymnasien tauglich ist, aber erwachsene Studenten sollten mit der Wahrheit konfrontiert werden: Es gibt eine ganze Menge, was wir nicht wissen." Die hier hörbar werdenden Zweifel an einer 'wahren' Interpretation von Texten und einer 'wahren' Rekonstruktion von Geschichte verlangen zukünftig neue Zugänge zur wissenschaftlichen Arbeit. Nicht nur im Kontext der Jüdischen Studien.

Titelbild

Michael Brenner / Stefan Rohrbacher: Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000.
240 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3525208073

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