Aus der Innenwelt eines Internats

Urs Faes' Roman "Und Ruth"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alles, was geschieht, geht dich an." Diese Gedichtzeile von Günter Eich hat Urs Faes seinem neuen Roman "Und Ruth" als sinnträchtiges Motto vorangestellt. Niemand kann und darf sich aus der Verantwortung stehlen - erst recht nicht, wenn es den Selbstmord einer vertrauten Person betrifft.

Auslöser der Erzählung ist eine merkwürdige Begegnung auf einem Bahnsteig. Der Ich-Erzähler glaubt in einer Frau, deren Blick er nur flüchtig streift, die einstige Jugendliebe Ruth wieder zu erkennen. Damit wird ein schmerzhafter Erinnerungsprozess in Gang gesetzt, der uns in eine Internatsschule Anfang der 60er Jahre versetzt. Vom Berliner Mauerbau ist die Rede, von den Anfängen der Beatles, von einigen pikanten Stellen in der "Blechtrommel", die die Zöglinge heimlich lesen, von der Uraufführung von Max Frischs "Andorra" und vor allem von ziemlich rigiden Erziehungsmethoden. Urs Faes weiß genau, wovon er schreibt. Schließlich hat er selbst eine Internatsschule besucht.

Das von Urs Faes (Jahrgang 1947) dargestellte Internat gleicht eher einer Kaserne als einer pädagogischen Einrichtung. Die Lehrer fungieren nicht als Wissensvermittler, sondern als fanatische Wächter der Disziplin. Für Lehrer Mangold gleicht jede Schulstunde einem Schlachtfeld und sein Kollege Muster will den Eleven im Sportunterricht die nötige körperliche Härte anerziehen. Hauptleidtragender des schulischen Martyriums ist Erich, der bei den Liegestützen regelmäßig schlappmacht und deshalb von Lehrern und Mitschülern gleichermaßen gehänselt wird.

"Hatte es Vorzeichen gegeben, die wir hätten erkennen können?" fragt sich retrospektiv der Ich-Erzähler. Ihn hatten Internats-Direktor Tanner und Erichs Mutter gebeten, auf seinen Zimmergenossen zu achten. Schon häufig war Erich aus der Meute ausgebrochen, war - unter den teilnahmslosen Blicken seiner Mitschüler - auf der hohen über Fluss und See gelegenen Staumauer balanciert. Und eines Tages hatte er sich von dort in den Tod gestürzt. Der Außenseiter Erich, der seinen Mitschülern nur in einem Punkt voraus war: er hatte als Einziger eine feste Freundin, die in der Dorfapotheke arbeitende Ruth, auf die alle Mitschüler ein Auge geworfen hatten - auch der Ich-Erzähler, der sich als Erichs Rivale zu erkennen gibt. Für Erich war Ruth der Lebensmittelpunkt, "alles, was er habe, woran er sich halten könne. Er lebe nur, weil es Ruth gebe." Die Mitschüler delektierten sich derweil aus der Schlüssellochperspektive an den nackten Körpern des badenden Küchenpersonals.

Wer oder was war nun der Auslöser für Erichs Flucht in den Suizid? Waren es die eifersüchtigen Mitschüler, die schikanierenden Lehrer oder der gesamte unmenschliche Apparat des engen, gefängnisgleichen Internats? In einigen anonymen Briefen wird mittels Max Frischs "Andorra" auf Erichs jüdische Abstammung angespielt. Was Erich in der Erziehungsanstalt an fragwürdigen Idealen fürs Leben mit auf den Weg gegeben wurde - so darf man vermuten -, hat ihn am Sinn seiner Existenz zweifeln lassen. Unverstanden, ausgestoßen und abgeschoben auf das Abstellgleis des Sonderlings.

Urs Faes' Roman über die unmenschliche Innenwelt des Internats erinnert in weiten Teilen an "Jakob von Gunten", den 1909 erschienenen Internatsroman seines großen Landsmannes Robert Walser. Eine Traditionslinie, die auch in der poetischen Sprache des Autors ihre Fortsetzung erfährt. Urs Faes hat die Internatswelt mit so großer Sinnlichkeit beschrieben, dass man glaubt, den Schweiß der pubertierenden Körper und die muffige Fäulnis der Klosterschule riechen zu können.

Titelbild

Urs Faes: Und Ruth. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
180 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3518412124

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