An der Leine geführt

Ein Jugendroman von David Grossman

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein Hund jagt durch die Straßen, gefolgt von einem Jungen.“ So der Anfang des neuen Romans von David Grossman. Damit ist eine der beiden Zeitebenen der Geschichte bereits angezeigt. Temporeich geht es zu und das mit stündlicher Steigerung. Ein immer rasanter werdender Wirbel reißt die Leser mit.

Der sechszehnjährige Assaf hat einen Ferienjob bei der Stadtverwaltung. Eines Tages bekommt er den Auftrag, den Besitzer einer herrenlosen Hündin zu finden. Dinka führt Assaf durch halb Jerusalem, von einer verwirrenden und gleichzeitig Aufklärung schaffenden Begegnung zur nächsten. Den Höhepunkt bildet das Gespräch mit der Nonne Theodora, die seit der frühen Jugend das Kloster nicht mehr verlassen hat. Sie kennt Tamar, die Besitzerin von Dinka, aber wie alle anderen Menschen, zu denen die Hündin Assaf führt, hat sie nur Einblick in eine der vielen Seiten des Mädchens. Es ist, als sei deren Persönlichkeit zusammengesetzt aus all dem, was sie den verschiedenen Freunden an Momentaufnahmen preisgibt. Niemand weiß alles. Assaf beginnt sich immer stärker für das Geheimnis Tamars zu interessieren, von dem die Leser schon mehr wissen, denn für sie gibt es neben der Assaf-Geschichte auch die Tamar-Kapitel. In diesen geht es grausam zu. Wir bekommen Einblick in eine verbrecherische Künstleragentur, die Jugendliche zu Drogensüchtigen macht und ihre Kreativität ausbeutet.

Irgendwann nach vielen Turbulenzen kommen die beiden Erzählstränge zusammen, beginnt das langsame Aufeinanderzugehen von Tamar und Assaf. Die grauenvolle Hektik des bisherigen Geschehens nimmt ab, und auch als Leser atmet man tief ein. Zärtlichkeit drängt die brutale Aktion in den Hintergrund, bis sie sich schließlich ganz auflöst. Dennoch ist am Ende keiner für immer in Sicherheit. Folgegeschichten kündigen sich am Horizont bereits an.

Einmal mehr ist es Grossman gelungen, die enge Verbindung von Magie und Wirklichkeit zu zeigen. Als wollte er mit jedem neuen Buch beweisen, dass das Faszinierendste für den Menschen die Begegnung mit dem anderen ist. Unübertroffen die Schilderung einer Annäherung von Personen, noch bevor sie sich kennen. Großartig, wie der Autor Spuren legt und Zeichen setzt, nach denen die Figuren sich richten, ohne es zu merken. Die Luft, die sie atmen, ist angereichert mit Bedeutung, die ganz und gar nichts Belehrendes hat, sondern aus purer, unvermischter Lebendigkeit besteht. Ein Künstler-, Kriminal- und Liebesroman von bestechender Sogkraft. Man wünscht seinen Kindern, eine solche Liebesgeschichte und ein derart spannendes Abenteuer zu erleben, und ertappt sich als Erwachsener dabei, einen alten, manchmal fast vergessenen Traum von neuem zu träumen.

Titelbild

David Grossman: Wohin du mich führst.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling.
Carl Hanser Verlag, München 2001.
440 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3446200215

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