Das etwas andere literarische Quartett

Der "Siegener Kanon" von Peter Gendolla und Carsten Zelle

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welche Bücher sollte man unbedingt gelesen haben? So einfach diese Frage zu sein scheint, so schwierig ist sie zu beantworten. Trotz nicht mehr zu zählender Anläufe ist die Literaturwissenschaft zu keinem konsensfähigen Ergebnis gekommen. Doch der Weg ist das Ziel: das Reflektieren über einen so genannten Kanon hat immerhin zu einem hohen Problembewusstsein geführt. So ist man sich mittlerweile einig, dass es "den" Kanon nicht gibt, sondern je nach Zweck (Herstellen einer gemeinsamen Kommunikationsbasis, ideologische Erziehung, Bedürfnis nach Unterhaltung) oder Gruppe (Schüler, Studenten, Hausmänner und -frauen) verschiedene Kanones.

Sicher nicht der letzte, aber wohl der aktuellste umfangreichere Beitrag zur Debatte ist der "Siegener Kanon". Er kann ebenso auf die 1998 publizierten Beiträge zu dem DFG-Symposium "KANON MACHT KULTUR" eingehen wie auf die Umfrage der "Zeit" von 1997. Die Ursprungsidee war, Studierenden auf spielerische Weise zu vermitteln, dass es Bücher gibt, an denen man nicht vorbeikommt. "Ein literarisches Quartett", ein Kartenspiel sollte entwickelt werden, auf dem 48 Titel der deutschsprachigen wie internationalen Literatur Platz finden. 50 Kollegen wurde ein entsprechender Fragebogen zugeschickt, "ein Viertel" kam zurück und wurde ausgewertet. Die in der Auswertung genannten Titel sind ebenso wenig eine Überraschung wie der Leseweisheit letzter Schluss.

Doch darum geht es gar nicht. Das Buch sollte man nicht wegen des "Siegener Kanons" lesen (es gibt bereits seit längerer Zeit solche Leselisten), sondern wegen der spannenden Präsentation dieses Kanons. Die Funktion von Vor- und Nachwort übernehmen zwei Artikel von Karl Viëtor von 1930/31, in denen, man höre und staune, die mangelnde literarische Bildung von Studienanfängern beklagt und mit - auch aus heutiger Sicht - erschreckenden Umfrageergebnissen belegt wird. Ralf Schnells ausgewogener und umsichtiger Vorschlag für eine beständige Arbeit am Kanon ist zu Recht in der Mitte plaziert. Briefe von Siegener Kollegen mit Kritik und Anregungen zum Kanon-Quartett sind ebenso aufgenommen worden wie Beiträge verschiedener Autoren zum Thema, die bereits an anderer Stelle zu lesen waren. So ergibt sich ein Kanon-Kaleidoskop, das sich als Einführung und Weiterführung, aber auch als germanistische Feierabendlektüre zum Schmökern eignet.

Das einzige, was man aus Sicht dieses Rezensionsorgans vermissen kann, ist ein Hinweis auf das Kanonspiel von "literaturkritik.de". Man muss es nicht kaufen, man muss nicht in einer Rezeptionshaltung verharren, man kann teilnehmen und das Gesamtergebnis beeinflussen. Zum Schluss also der Appell an den Leser: Informieren, reflektieren, mitmachen!

Titelbild

Peter Gendolla / Carsten Zelle (Hg.): Der Siegener Kanon. Beiträge zur einer "ewigen Debatte".
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
130 Seiten, 25,10 EUR.
ISBN-10: 3631368380

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