Niklas Luhmann

Erinnerungen an einen Soziologen

Von Andrea PraumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Praum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den "Horizont unserer Existenz" nannte der im November 1998 verstorbene Soziologe Niklas Luhmann "Gesellschaft". Die Gesellschaft bildet den Gegenstand, den die Theorie beobachten und mittels ihrer Begriffe darstellen möchte. Die Theorie ist dabei weder Kommunikationstheorie noch Erkenntnistheorie. Sie ist eine Gesellschaftstheorie, die sich selbst als Teil dessen, was sie beschreibt, erkennt.

Niklas Luhmann schärfte seine Begriffe immer wieder aufs Neue, feilte an ihnen und verstand sie nicht als endgültig definiert. Franz Xaver Kaufmann umschreibt die Luhmannsche Theoriebewegung als ein Projekt, das Luhmann "ein wissenschaftliches Leben lang" verfolgt habe. Doch was war der Gegenstand dieses Projekts? "Moderne Gesellschaft theoretisch zu denken, also uns einen Begriff von dem zu vermitteln, was den Horizont unserer Existenz ausmacht". Luhmann ist an der Schaffung eines Begriffsinstrumentariums gelegen, mit dessen Hilfe es möglich ist, jeden kommunikativen Akt und damit den gesamten Gegenstand der Soziologie beschreibbar zu machen. Der Selbstanspruch der Luhmannschen Theorie ist so komplex wie die Begriffapparatur selbst, denn Luhmann hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine universale Theorie zu formulieren.

Kaufmann erläutert das Herzstück der Theorie, ihre Reflexionsbereitschaft, vor dem Hintergrund ihrer problemgeschichtlichen Besonderheit: "Luhmanns Theorie ist eine Theorie eines nachmetaphysischen Zeitalters, das seinen Horizont nicht mehr außerhalb seines Selbst finden kann." Doch woraus besteht für Luhmann die Gesellschaft? Der Gegenstand seiner Soziologie ist die Theorie der Gesellschaft in ihren Teilsystemen Wirtschaft, Recht, Kunst, Religion usw. Luhmanns Theorie ist eine Sozialtheorie, die den Schwerpunkt auf Differenzierungs- und Evolutionstheorie legt.

Und was sind für Luhmann soziale Elemente? Das Soziale, so Luhmann, ist Kommunikation. Gesellschaft ist der "Raum", der durch "menschliche Kommunikationen aufgespannt wird", so Kaufmann: "Weder das menschliche Bewußtsein noch die Artefakte menschlichen Tuns gehören zur Gesellschaft, sondern nur die Kommunikationen, die sich zwischen den Menschen ereignen, und die sich natürlich auch auf deren eigene Bewußtseinszustände oder auf Artefakte wie Kunstwerke, Biersorten oder Verkehrsstockungen beziehen können".

Auch wenn über Gesellschaft kommuniziert wird, vollzieht sich diese Kommunikation selbst in Gesellschaft. Kaufmann hebt die Besonderheit der Luhmannschen Theorie ein weiteres Mal hervor, indem er eine Qualität ihres Potentials erläutert. Luhmanns Theorie möchte universal sein, und daher versäumt sie es auch nicht, im "Vollzug ihrer Beschreibung sich selber mit[zu]beschreiben. Sie muß ihren Gegenstand als einen sich selbst beschreibenden Gegenstand erfassen." Damit kristallisiert sich eine "zirkuläre Beziehung" heraus: "Die Theorie muß als ihr eigener Gegenstand vorkommen, muß selbstreferentiell sein." Dies bedeutet, dass es keine externe Beobachtung der Gesellschaft geben kann, dass auch eine Theorie der Gesellschaft in ihr selbst vorkommt, ergo Teil der Gesellschaft ist.

Die Beiträger des Bielefelder Gedenkcolloquiums gedenken der "Wirkungen" dieses Theoretikers, indem sie sich nicht auf die Deutung seines Werkes beschränken, sondern sich auch an den Fakultätskollegen und Menschen erinnern. Dabei wird die eindrucksvolle persönliche Erscheinung dargestellt, auch wenn sein Habitus zunächst als "akademisch unüblich" imponierte und der "Gewöhnung" bedurfte.

Hoffnungen von seiten des Lesers, in dieser Hommage viel über die Privatperson Luhmann zu erfahren, erfüllen sich nicht. In den Ausführungen erscheint Luhmann als freundlich und zugleich distanziert. Gunther Teubner, Professor der Rechtswissenschaft an der Universität Frankfurt und Centennial Visiting Professor der London School of Economics, schreibt gar von einer Überdeutlichkeit der "Distanzerfahrung": "Ich erlebte seine fast physische Abneigung gegen das, was er das 'Kleben der Blicke' nannte. Und wie er Kollegen begrüßte, um schneller an ihnen vorbeizukommen." Selbst auf seine hervorstechendste Eigenschaft hin befragt, gibt Luhmann 'Bockigkeit' zur Antwort. "Damit hat er sicher seine Resistenz gegenüber den Theoriemoden des Zeitgeistes gemeint", spekuliert Dietrich Schwanitz. Für Schwanitz ist Luhmann "eine Art Weltkonstrukteur von jenem Kaliber", wie er sie in der Literatur als "Romanciers" kennengelernt hat. Er, der "mehr an einen buddhistischen Weisen erinnerte als an einen deutschen Professor." Schwanitz lernte Luhmann in den siebziger Jahren kennen, was dem "Flug einer Rakete" glich, die in drei Stufen "zündete": "zum ersten Mal, wenn man Habermas Polemik gegen ihn las, zum zweiten Mal, wenn man ihn selber las und zum dritten Mal, wenn man ihn persönlich kennenlernte."

Die Impressionen, die von Begegnungen mit Luhmann erzählen, bezeugen, dass sowohl sein Werk als auch seine Persönlichkeit zu irritieren vermochten. Raffaele De Giorgio, Professor für Soziologie und Allgemeine Rechtstheorie an der Universität Lecce, metaphorisiert Werk und Person: "Wie Quasimodo in seinem Gedicht über den Tod des Vaters schrieb, war seine Theorie so wie sein Denken und Leben: 'eine konzentrische, aufgehende Rechnung mit niedrigen Zahlen, eine Bilanz des zukünftigen Lebens'. Niedrig sind die Zahlen dieser unwahrscheinlichen Konstruktion, einfach und paradox wie die Null, wie das zwölfte Kamel, wie die Realität der Realität. Wie er, Niklas Luhmann. Er war seine Theorie. Nicht weil die Theorie sein Leben gewesen wäre, sondern weil sein Denken und Leben wie seine Theorie waren. Überraschend, selbstironisch, geduldig, einsam, unverständlich einfach, harmlos und zerstörerisch, paradox und selbstverständlich." Dirk Baecker, Professor für Unternehmensführung an der Universität Witten/Herdecke, zitiert einen Passus Luhmanns aus seiner Abschiedsvorlesung an der Universität Bielefeld, der Luhmann bis 1993 treu blieb: "Große Soziologie, so hält Luhmann in seiner Abschiedsvorlesung am Beispiel von Marx, Durkheim und der empirischen Sozialforschung fest, ist immer eine Soziologie, die beide Fragen zugleich stellt: 'Was ist der Fall?' und 'Was steckt dahinter?'" Dieses Aperçu spiegelt nochmals deutlich wider, worin sich Luhmanns Soziologie von den bisher bekannten Soziologien unterscheidet. Luhmanns Soziologie, so schließt Baecker den Zirkel, ist eine Gesellschaftstheorie.

Mit Niklas Luhmann ist ein großer Denker gestorben. Die sechs Beiträge sind für Luhmann-Kenner und solche, die in sein Werk erst einsteigen wollen, gleichermaßen interessant. Doch Vorsicht: Die Autoren erinnern nicht an irgendwen, sondern an den Soziologen unserer Zeit - und der zeichnete sich zeitlebens durch Kontingenzbewußtsein aus. Was in diesem konkreten Fall auch nichts anderes bedeuten kann als: alle Erinnerungen an Luhmann hätten auch anders ausfallen können.


Titelbild

Rudolf Stichweh: Niklas Luhmann - Wirkungen eines Theoretikers. Gedenkcolloquium der Universität Bielefeld am 8. Dezember 1998.
Transcript Verlag, Bielefeld 2000.
72 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3933127041

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