Die Reisen des Ich

Ulrike Draesner führt den Leser zu neuen Wahrnehmungen

Von Ann-Katrin RaheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ann-Katrin Rahe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zurück zu den Wurzeln der Lyrik bringt den Leser der neue Gedichtband "für die nacht geheuerte zellen" von Ulrike Draesner. Denn Lyrik lesen bedeutet übersetzen. Wahrhaftig übersetzen muss man ihre Gedichte, weil sie neben vielen Mehrfachkodierungen auch bestückt sind mit englischen, zuweilen sogar niederländischen oder schwedischen Wörtern und Begriffen. Diese stechen jedoch nicht wie Fremdkörper hervor, sondern fügen sich fast unauffällig in den Gesamttext ein. Da Draesner alle Wörter, einschließlich der Überschriften, klein schreibt und auch sonst formell frei arbeitet, sind die fremdsprachigen Ausdrücke prima facie nicht erkennbar. Interpretative Aufgabe des Lesers bleibt zu erkennen, ob "spring" Frühling, hüpfen oder beides heißt. Die Vielfalt der Bedeutungen gibt den Gedichten Relief und lässt den Leser lesen, verstehen und wieder lesen, zumal Draesners assoziativ wirkenden Gedichte nicht in Orientierungslosigkeit münden. Die Überschriften helfen den Gedanken eine Richtung zu finden. So werden beispielsweise dem Leser dezent, aber unübersehbar die Stationen einer Abtreibung durch in Klammern gesetzte Untertitel, wie "narkose", "missed abortion, aushub 80 gr", "ultraschallkontrolle, kurz danach" etc. kenntlich gemacht. Doch nicht alle Ordnungen überzeugen. Der Zusammenhang zwischen dem Gedicht "kontaktlinsen" und dem Element Feuer bleibt auf der Strecke.

An einigen Stellen tauchen Widmungen oder Datierungen auf. Diese thematisieren zum einen den schöpferischen Augenblick und bringen zum anderen die Gedichte in einen Bewegungs- und Handlungsablauf. So entsteht das Gefühl, dem lyrischen Ich auf eine Reise zu folgen: Von Leipzig nach Peredelkino (Russland), von London an den Wannsee und von Cadenabbia (Italien) nach München. Doch die Reise verläuft nicht chronologisch und verirrt sich zuweilen in Alltäglichkeiten. Aber diese bleiben selten. Ulrike Draesner bewegt sich vorwiegend auf hohem Niveau, und damit der Leser den Hauch einer Ahnung erhält, worauf die Texte anspielen könnten, erklärt sie einiges in den Anmerkungen. So erfährt man, dass der Titel "pissblumen" keinen profanen Ursprung hat, sondern sich auf ein Kunsthappening Helen Chadwicks bezieht, bei dem ein Mann und eine Frau in den Schnee urinierten und der gefrorene Urin eine kristalline Form ergab. Was auf den ersten Blick assoziativ erscheint, erhält bei näherer Betrachtung eine tiefe Bedeutungsvielfalt.

Die Gestalt dieser Gedichte ist hochartifiziell. Die scheinbar freie Form beugt sich anderen Gesetzen. So ist die Strophen- und Silbenform einmal archilochischen Typs - das Wissen der in Germanistik promovierten Autorin blitzt auf -, und anderswo schafft die optische Anordnung der Wörter weitere mögliche Lesarten. Der assoziative Schein der Gedichte trügt und düpiert den Leser, denn alles bei Ulrike Draesner ist durchdacht und konstruiert.

Titelbild

Ulrike Draesner: für die nacht geheuerte zellen. Gedichte.
Luchterhand Literaturverlag, München 2001.
136 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3630620043

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