Kritik der Kunstgeschichte
Didi-Huberman über Bildbeschreibungen
Von Volker Deubel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDem Hanser Verlag ist es zu danken, dass "Devant l'image", Georges Didi-Hubermans bereits 1990 erschienenes und inzwischen vergriffenes Plädoyer für eine andere Kunstgeschichte, in einer deutschen Übersetzung einem breiteren Publikum bequem zugänglich wird. Dies ist zu begrüßen auch angesichts der grundsätzlichen Fragen, die das Buch aufwirft. Sie betreffen Probleme einer verkürzenden Präsentation kultureller Überlieferung, das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst und die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis kultureller Artefakte. So empfiehlt sich das Buch nicht nur der Disziplin Kunstgeschichte, sondern der Gesamtheit der interpretierenden und analysierenden Kulturwissenschaften und nicht zuletzt auch den Liebhabern der Kunst.
Der Aufbau des Buchs ist weniger systematisch als didaktisch gemeint: Es beginnt mit der Praxis (der Beschreibung eines Bilds von Fra Angelico), lässt theoretische, historische Kapitel folgen und kehrt am Ende zurück zu künstlerischen Beispielen und der Praxis ihrer Analyse und Interpretation.
Gegenstand der Kritik ist die gegenwärtige Situation der Universitäts-Disziplin Kunstgeschichte, die weit über die Grenzen des Fachs hinaus bedenkliche Wirkungen entfalte, als organisatorische Instanz der Museen und Ausstellungen diene, als Triebwerk des Kunstmarkts fungiere, und bei all dem durch ihre Form der Präsentation kultureller Überlieferung einem breiten Publikum eine höchst einseitige Wahrnehmung von Kunstwerken vermittle. Anstoß erregt bereits der "Ton der Gewißheit", der vorherrsche in der "schönen Disziplin der Kunstgeschichte", wo Bücher den "Eindruck von einem Gegenstand vermitteln, den man wirklich in all seinen Aspekten erfasst und erkannt hat wie eine bis ins letzte ausgeleuchtete Vergangenheit", wo eine "apodiktische Semiologie" herrsche, die alles Sichtbare zu lesen und zu dechiffrieren in der Lage scheint. Kern der Kritik ist ein zu enger Begriff von Wissenschaft, die "ihrem Gegenstand ihre eigene spezifische Diskursform aufgezwungen" und diesen "um seine eigene Entfaltung oder spezifische Strömung gebracht" habe.
Diese Kritik wird nun nicht durch einen Forschungsbericht, sondern eine relativ globale wissenschaftsgeschichtliche Skizze belegt, die im Wesentlichen nur Ursprung und Endpunkt der Entwicklung genauer ausführt. Ein Kapitel des Buchs befasst sich mit dem Ursprung, dem Werk von Giorgio Vasari, der im 16. Jahrhundert die Kunstgeschichte begründet und dieser auf lange Zeit gültige "implizite Zielsetzungen" verordnet habe. Im Zentrum des Kapitels steht eine Lektüre der "Vite" (1550/1568) als "Erfindung" der Kunstgeschichte. Neben dem Bemühen Vasaris, Kunstgeschichte als Institution und akademische Disziplin zu fundieren, wird auf die Vieldeutigkeit und Verflechtung der Grundbegriffe Mimesis, Disegno (Zeichnung), Idea abgehoben. Alles diene der Absicht, das "Feld eines Wissens über die Kunst" abzugrenzen, das als Gegenstand nur "eine als Wissen konzipierte Kunst" zulasse: "Kunst als eine Gleichung aus Sichtbarem und Idee", als "Unterwerfung unter die Tyrannei der 'Zeichnung'" und Verleugnung all dessen, was im Buch als die "visuellen Potenzen" der Kunst bezeichnet wird.
Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der geschichtlichen Entwicklung der Disziplin, ihrer Migration von den Akademien zu den Universitäten sowie den Versuchen, sie dort unter Berufung auf Kant als Wissenschaft zu konstituieren. Als kritischer Endpunkt dieser Bestrebungen gilt das Werk Erwin Panofskys. Die Bestrebungen Panofskys, der Kunstbeschreibung das 'objektive' Fundament einer (neukantianischen) Wissenschaft zu verleihen, bilden gleichsam das negative Gravitations-Zentrum des Buchs. Immer wieder werden Verluste dieses Vorgangs moniert, der das künstlerische Bild auf die intelligiblen Inhalte reduziere und es seiner "irrationalen Ökonomie" und "sinnlichen Einzigartigkeit" beraube. Ein Schlaglicht wirft eine kurze Fußnote zu Panofskys "berühmter Interpretation" der "Allegorie der Klugheit" von Tizian: Er habe, heißt es dort, nicht das Gemälde betrachtet, "sondern ein Schwarzweißbild".
Positives Gravitationszentrum des Buchs bildet dagegen das Projekt, der Kunstgeschichte eine Alternative zu weisen. Ein theoretisches Fundament soll im Anschluss an Freuds "Traumdeutung" von 1900 erstellt werden. Eine Lektüre der "Traumdeutung", die metapsychologisch auf Bloßlegung des zu Grunde liegenden Netzes der Begriffe zielt, soll Ansätze liefern, um die überkommenen Konzepte zu relativieren. Geeignet scheinen die "Paradigmen der Darstellbarkeit und des Symptoms". So wird - mit einer nicht immer transparenten Begrifflichkeit - dem "üblichen Lesbarkeitsmodell" ein Modell von Interpretation entgegengestellt, in dem das Paradigma der Repräsentation durch das der 'Darstellbarkeit' (Freuds Konzept der Traumarbeit mit den Operationen von Verschiebung, Entstellung und Verdichtung) substituiert ist, wobei an der Stelle des Symbols das Paradigma des 'Symptoms' (das "alles und sein Gegenteil" symbolisiert) erscheint.
Beispiele sollen den Theorie-Ansatz illustrieren. Ein ganzes Kapitel des Buchs füllt eine Beschreibung von Fra Angelicos "Verkündigung", eines Freskos, das um 1440 in einer weiß getünchten Zelle des Klosters San Marco zu Florenz entstanden ist: Das Weiß der Zelle wird für die Interpretation von ziemlicher Bedeutung sein. Kaum eine Rolle spielen soll dagegen der Aspekt des "Lesbaren" (das "Drehbuch über die Verkündigung"). "Vielleicht war das Sichtbare und das Lesbare nicht gerade die Stärke des Fra Angelico, das Unsichtbare und das Unaussprechliche aber war seine Sache." Vorausgesetzt wird, "daß Bilder ihre Wirksamkeit nicht ausschließlich der Vermittlung eines - sichtbaren, lesbaren oder unsichtbaren - Wissens verdanken, sondern daß im Gegenteil ihre Wirksamkeit im Geflecht, wenn nicht im Wirrwarr von übermitteltem und zerlegtem Wissen, von erzeugtem und umgewandelten Nicht-Wissen zum Zuge kommt." Der Fokus der Beschreibung liegt somit nicht auf dem dargestellten Wissen, der Geschichte und den Figuren. Die Verkündigung war den Zeitgenossen weder Thema, noch Begriff, noch Geschichte: "eher eine geheimnisvolle, virtuelle Matrix unzähliger Geschehnisse." Entsprechend richtet sich das Augenmerk auf scheinbar periphere Dinge, wie die weiße Farbe des Bild-Hintergrunds, an der gleichwohl kontextuelle Bedeutungen haften. Dieses Weiß wird aber nicht Gegenstand einer 'Lektüre' (die etwa "das Fleisch werdende Wort mit einer Lichtintensität vergleicht"), sondern es ist als Element einer assoziativen Ordnung gefasst, einer Reihung von Bedeutungen, zu dem anderes Weiß (etwa das Weiß des abgebildeten Dominikanergewands) gehört, auch jenes, das (wie die weiße Mauerfläche der Klosterzelle; das dominikanische Weiß der Kleidung seiner ursprünglichen Betrachter) 'vor dem Bild', also in seinem historischen Kontext liegt. Das Bild scheint also nicht eigentlich "wie ein (isolierbares) Bild oder Symbol zu funktionieren, sondern als Paradigma: als eine Matrix von Bildern und Symbolen". Dass erneut der Begriff "Matrix" begegnet, ist kein Zufall: Nur die nicht-lineare Ordnung der Inhalte scheint ein Wirkungs-Potenzial zu ermöglichen, in dem Paradoxa wie das christliche Geheimnis der Fleischwerdung erfahrbar werden.
Weitere Bildbeschreibungen, deren Gegenstände ebenfalls vornehmlich dem Bereich der christlichen Kunst (Fleischwerdung) entnommen sind, deuten in dieselbe Richtung: Auch sie relativieren Begriffe wie das Sichtbare, Lesbare, und die - wenn man so will - künstlerische Wissens-Repräsentation. Interessant dagegen jeweils das "Visuelle", der "Riß", das Paradox, welches das Sichtbare, Lesbare, Kognitive, die Domäne des Wissens zwar nicht aufhebt, aber doch durchkreuzt und nicht-lineare, nicht-diskursive Strukturen entstehen lässt. Dass Kunst- und Geistesgeschichte sich dieser Dialektik von Wissen und (wie auch immer naiv-ironischem) Nicht-Wissen weiter öffnen sollten, bezeichnet das eigentliche Anliegen des Buchs, das übrigens dieser Dialektik in gewissem Sinne selbst nicht ganz entzogen ist. So ist die Darlegung von Begrifflichkeit und Methode teilweise durchaus schwierig, nicht immer unmittelbar verständlich. Die Lesbarkeit der Übersetzung wäre durch ein Glossar oder Begriffs-Register mit Sicherheit sehr verbessert worden.
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