Von den Anfängen bis zur Biermöslblosn

Über die zehnbändige dtv-Anthologie deutscher Lyrik

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mit nahezu 4000 Gedichten von etwa 1000 Autoren ist diese zehnbändige Ausgabe die umfassendste deutschsprachige Lyrik-Sammlung. Alle Gedichte sind nach den Handschriften und Erstdrucken in zeitlicher Folge ediert und zeigen repräsentativ die ganze Breite der Poesie von den Anfängen bis zur Gegenwart" - so wird diese Anthologie in der Werbung angekündigt, und das ist nicht übertrieben. Tatsächlich handelt es sich nicht nur um die umfangreichste, sondern auch um die verlässlichste Anthologie deutscher Gedichte des Gesamtzeitraums, die hier in der Schreibweise der Handschriften bzw. der Erstdrucke und mit präzisen Quellennachweisen wiedergegeben werden. Diese Unternehmung kann man kaum nachdrücklich genug empfehlen.

Nur die Älteren werden sagen: Das hatten wir doch schon mal! - Richtig: Die Sammlung erschien zuerst in den Jahren 1969 bis 1978 im gleichen Verlag unter dem Titel "Epochen der deutschen Lyrik" und war lange Zeit vergriffen. Auch damals umfasste sie zehn Bände, wobei der 10. Band, herausgegeben von Dieter Gutzen und Horst Rüdiger, in drei Teilbänden Übersetzungen von Gedichten aus fremden Sprachen ins Deutsche vom 16. Jahrhundert bis 1973 enthielt, überwiegend mit den Texten in den Originalsprachen. Dieses Filetstück der früheren Sammlung wurde leider nicht in die Neuedition übernommen. Stattdessen aktualisiert der nunmehrige 10. Band die damalige Anthologie, die nur bis 1960 reichte, um die Jahre 1961-2000.

Die übrigen neun Bände blieben unverändert; sie tragen sogar jeweils den Vermerk "Unveränderter Reprint", obwohl sich vereinzelt in den Vorworten Zusätze, Korrekturen oder Kürzungen finden. In den Textteilen jedoch sind sie, wie Stichproben zeigen, mit ihren Vorgängern seitengleich identisch: Band 1, herausgegeben von Werner Höver und Eva Willms, führt "Von den Anfängen bis 1300"; Band 2, herausgegeben von Eva Willms und Hansjürgen Kiepe, umfasst den Zeitraum von "1300-1500"; Band 3, herausgegeben von Klaus Düwel, enthält Gedichte von "1500-1600"; Band 4, herausgegeben von Christian Wagenknecht, bietet Gedichte des Barockzeitalters von "1600-1700"; Band 5, herausgegeben von Jürgen Stenzel, versammelt die Lyrik der Aufklärung von "1700-1770"; den Zeitraum von "1770-1800" dokumentiert der 6. Band, herausgegeben von Gerhart Pickerodt; Band 7, herausgegeben von Jost Schillemeit, schließt sich mit Gedichten von "1800-1830" an; es folgt mit Band 8, herausgegeben von Ralph-Rainer Wuthenow, der Zeitraum von "1830-1900"; der umfangreichste, seinerzeit in zwei Teilbänden gebundene 9. Band schließlich, herausgegeben von Gisela Lindemann, führt Gedichte von "1900-1960" vor. Seinerzeit waren diese Teilbände einzeln erhältlich, heute muss die ganze Kassette abgenommen werden.

Ein Blick noch auf die Novität der Anthologie, also auf den 10. Band mit Gedichten des Zeitraums von 1961 bis 2000, herausgegeben von Gerhard Hay und Sibylle von Steinsdorff unter Mitarbeit von Ulrike Ehmann. Hier wurde ganz offensichtlich versucht, möglichst viele Autoren - es sind nicht weniger als 133 - zu präsentieren; keiner ist mit mehr als vier, die meisten sind dagegen nur mit einem oder mit zwei Gedichten vertreten. Vier Gedichte steuern bei: Sarah Kirsch, Friederike Mayröcker und Heinz Piontek; das sind gewissermaßen die Vier-Sterne-Lyriker dieses Zeitraums. Zu den Drei-Sterne-Lyrikern zählen: Arnfrid Astel, Ingeborg Bachmann, Wolf Biermann, Volker Braun, Hans Magnus Enzensberger, Rolf Haufs, Peter Huchel, Ernst Jandl, Wulf Kirsten, Karl Krolow, Günter Kunert, Kurt Marti, Christoph Meckel und Guntram Vesper. Doch bevor man an dieser Hierarchie Anstoß nimmt, sollte man den 9. Band vergleichend heranziehen, in dem nicht wenige Autoren des 10. Bandes bereits mit mehreren Gedichten vertreten sind; so etwa Günter Grass mit 6, Bobrowski und Karl Krolow mit 4 und Erich Fried mit 3 Gedichten.

Gelegentlich hätte man sich gewünscht, solche Gedichte in dieser Sammlung nachlesen zu können, mit denen die Lyriker einiges Aufsehen erregt oder einige Aufmerksamkeit der Interpreten gefunden haben, wie z. B. Volker Brauns "Das Eigentum". Andererseits ist ein fortschreitender Kanonisierungsprozess schon jetzt unverkennbar: Viele der hier ausgewählten Texte finden sich auch schon im neuen Conrady, in dem auch die jüngsten Lyrikerinnen und Lyriker dieses Bandes - mit Ausnahme von Ulrike Draesner - bis hin zu Dirk von Petersdorff und Albert Ostermaier bereits begegnen.

Dass es auch offensichtliche Lücken gibt, sei - obwohl sich darüber stets streiten lässt - nicht verschwiegen: Die "Konkreten" sind deutlich unterrepräsentiert; es fehlen aber auch - um nur einige zu nennen - Thomas Brasch, Franz Josef Czernin, Elke Erb, Manfred Peter Hein, Jan Koneffke, Johannes Kühn, Werner Söllner und sogar Wolf Wondratschek. Dafür darf man das mundartliche kabarettistische Randglossenpoem des Hans Well, eines Mitglieds der "Biermöslblosn", aus der "Süddeutschen Zeitung" über das Karlsruher Kruzifix-Urteil genießen - was wohl als ulkig gemeinte Duftmarke des bayerischen Herausgeberteams gemeint ist.

Im Unterschied zu allen anderen Bänden, denen sehr lesenswerte und teilweise umfangreiche Essays der Herausgeber vorangestellt wurden, fehlt diesem Band schließlich auch eine "Einleitung", so als gäbe es zur Lyrikentwicklung des Zeitraums zwischen dem Mauerbau und dem Übergang ins neue Millennium gar nichts zu sagen. Dieser Mangel gibt dem Band, der ohnehin schon der weitaus schmalste der ganzen Kassette geworden ist, das ein wenig betrübliche Aussehen eines um der Aktualität willen eilig angefertigten Lückenbüßers. Schade drum. Trotzdem gilt die Empfehlung: Ein Werk für die Handbibliothek jedes Lyrikenthusiasten.

Titelbild

Walther Killy (Hg.): Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart.
dtv Verlag, München 2001.
4160 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3423590521

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