Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Jahrtausendwechsel ist zwar glücklich, d. h. ohne Computerausfälle, überstanden. Gleichwohl grassieren in dem von Film und Literatur imprägnierten kollektiven Unbewussten munter weiter allerlei apokalyptische Albträume und Untergangsszenarien, von denen anzunehmen ist, dass es sich bei ihnen auch um Wunsch- bzw. Selbstbestrafungsphantasien handelt. Entsprechend lassen die widersprüchlichen Reaktionen auf den 11. September darauf schließen, dass die Terroristen nicht nur das World Trade Center, sondern auch ein weit verbreitetes und bislang gut verdrängtes Unbehagen an unserer "Weltgesellschaft" getroffen haben, in der sich die einen das Fett absaugen lassen und die anderen verhungern; vielleicht eine Art "transzendentes schlechtes Gewissen", dem nun mit Ablasskäufen von Büchern über Religion(en) und religiös bestimmten Kulturen zu begegnen gesucht wird. In der obdachlos gewordenen Gesellschaft ist das Interesse für Transzendenz neu erwacht und wird von den Massenmedien bis auf weiteres entsprechend stimuliert und bedient.

Eine Möglichkeit, dieses Phänomen zu erhellen, könnte darin bestehen, es mit Vorläufern in der Kulturgeschichte zu vergleichen. Umfangreiches Material für derartige Vergleiche liefert die von Wolfgang Braungart, Gotthart Fuchs und Manfred Koch herausgegebene dreibändige Aufsatzsammlung "Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden". Sie belegt, dass ein plötzlich epidemisch gewordenes neues Interesse an religiösen Phänomenen und Denkweisen gerade auch im Verbund und Austausch mit Kunst und ästhetischen Erfahrungen, in der sich funktional differenzierenden Gesellschaft in schöner Regelmäßigkeit, und zwar vor allem zum Wechsel eines Jahrhunderts, erwacht. Der zweite Band etwa dokumentiert den für Kunst und Literatur um 1900 grundlegenden Zusammenhang von ästhetischer Religiosität und religiöser Ästhetik. Dem von Nietzsche ins allgemeine Bewusstsein gerufenen Ableben Gottes zum Trotz, bestand der ihm folgende Aufbruch der modernen Kunst auch und gerade in der Suche nach neuen Formen von Religiosität. Die Beiträge, die sich unter anderem mit dem um 1900 zur neuen Legitimationsinstanz avancierten Eros, dem analytisch nicht mehr fassbaren Totalitätsbegriff "Leben", mit dem "Monismus" bezeichneten Brückenschlag zwischen Naturwissenschaft und Kunst und dem etwa bei Thomas Mann zu findenden Interesse für Okkultismus auseinander setzen, erhellen das äußerst vielfältige Spektrum an Positionen und Zeugnissen, mit denen die transzendental obdachlos gewordene Gesellschaft um 1900 einen neuen Menschen, eine neue Sprache, eine neue Kunst, einen anderen Zustand und neue soziale Gemeinschaften suchte.

O. P.

Titelbild

Wolfgang Braungart / Gotthard Fuchs / Manfred Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Band II: um 1900.
Schöningh Verlag, Paderborn 1998.
301 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3506722018

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