Leverkühn im Starfighter

Jochen Missfeldts "Faust"-Roman "Gespiegelter Himmel"

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einem Allgemeinplatz der Literaturkritik zufolge verrät erst der zweite Roman eines Autors seine tatsächliche Eignung zum Schriftsteller. Glaubt man dieser Formel, so steht Jochen Missfeldt mit seinem neuesten Buch diese Nagelprobe bevor. Nachdem sein Romanerstling, die Familienchronik "Sollsbüll" (1989), von der Kritik wohlwollend bis enthusiastisch aufgenommen wurde, legt er mit "Gespiegelter Himmel. Titanvogeltage" nun seinen zweiten Roman vor. Um es gleich vorweg zu sagen: Er besteht die Probe glänzend.

Als Handlungsort des Romans hat Jochen Missfeldt, Jahrgang 1941, Fliegeroffizier a. D. und studierter Musikwissenschaftler, erneut die kleine Ortschaft Sollsbüll gewählt, einen fiktiven Garnisonsstandort irgendwo in Schleswig-Holstein. Hier ist während der 60er und 70er Jahre eine Staffel jener Kampfflugzeuge stationiert, die bereits im Titel poetisch als "Titanvögel" apostrophiert sind. Wir erfahren daher vieles, das nicht zum gängigen Repertoire neuerer deutscher Literatur gehört: Ausführlich wird die Ausbildung der Piloten in Norddeutschland und Arizona geschildert, prägnant werden die Strukturen des sozialen Raums 'Luftwaffe' gegen die Weite des Himmels kontrastiert. Dabei gelingen Missfeldt eindrucksvolle Szenen zwischen Schubkraft und Schwerkraft.

Im Mittelpunkt steht die Geschichte von Gustav Hasse (dem Leser bereits aus "Sollsbüll" vertraut) und Heinrich Zürndorfer, deren Lebensläufe auf vielfältige Weise ineinander verschränkt sind. Zwar haben beide 1962 gemeinsam den Dienst in Sollsbüll angetreten, doch schon bald zeichnen sich gravierende Differenzen zwischen den Flugschülern ab, die nicht ohne Folgen bleiben können. Während Hasse hinter den anderen herhinkt, "weil er nicht die Augen vom Himmel lassen konnte", ist Zürndorfer das As unter den Nachwuchsfliegern. Und mehr noch: Auch die Frauen, die Gustav Hasse liebte, verliert er an den Rivalen. Sowohl sein ehemaliges Kindermädchen Roswitha als auch Hasses zweite Liebe Susanne erwarten ein Kind von Zürndorfer.

Ein Übungsgefecht, wie man es aus Hollywood-Filmen á la "Top Gun" kennt, führt zum Wendepunkt der Handlung. Dieses eine Mal wird Hasse dem Imperativ seines verheißungsvollen Namens gerecht. Durch ein waghalsiges Flugmanöver stößt seine Maschine mit der Zürndorfers zusammen und verursacht deren Absturz. Zürndorfer erleidet eine schwere Kopfverletzung, die zu einer seltsamen psychischen Störung führt. Er hat jedes Bewusstsein für Konventionen und für die Gefühle anderer, vor allem aber für die Bedeutung der eigenen Zukunft verloren: "Zürndorfers Leben zog seinen verunglückten Mann wie in einem ausrangierten Güterwagen über alte Geleise, die in ein unbekanntes Land hineingebaut waren." Dieses Schicksal kettet die Männer aneinander. Auf Weisung der Vorgesetzten - und seines Gewissens - kümmert sich Hasse fortan um den Invaliden.

Lässt sich "Gespiegelter Himmel" also zunächst als ein Roman um Liebe und Eifersucht, Schuld und Sühne lesen, so ist dies doch nur die Oberfläche des Geschehens. Einen markanten Hinweis auf die Tiefendimensionen des Textes gibt die Herkunft Zürndorfers: er ist in einem Lebensbornheim der Nazis in Kaisersaschern aufgewachsen - eben jenem Kaisersaschern, das Thomas Mann in seinem "Doktor Faustus" als Geburtsort für Adrian Leverkühn erfand. Derart einmal auf die literarische Folie aufmerksam geworden, finden sich tatsächlich viele Allusionen, wie z. B. das berühmte Nietzsche-Erlebnis Leverkühns, das sich hier ironisch gebrochen wiederfindet: Während sich die Flieger im Bordell mit Tripper anstecken, steht im Nebenzimmer Kamerad Deutscher am Klavier und spielt "Am Brunnen vor dem Tore".

Vor allem aber ist die Geistesverwandtschaft von "Gespiegelter Himmel" zum "Doktor Faustus" wesentlich: Auch Missfeldt blendet in die Individualgeschichte seiner Figuren eine ganze Epoche ein. Elegant spielt der Text immer wieder in die Nazizeit hinüber, verwebt die Zeiten miteinander und zeigt die Kontinuität des Antisemitismus in der Bundesrepublik auf. So ist das Lager Sollsbüll eine ehemalige Außenstelle von Bergen-Belsen, auf der vom Oberheizer - deutlich als Teufelsfigur gezeichnet - nun "eine Kombination von Gedenkstätte und Tourismusbüro" errichtet werden soll, der Vater Zürndorfers ist ein klumpfüßiger ehemaliger Nazi, der für ein Massaker an polnischen Juden verantwortlich ist usw.

Diese Öffnung des Romans in andere Zeiten und Räume wird erzählerisch durch Stimmen unterstützt, die in die Handlung hineinsprechen. Diese Stimmen, die teils Figurennamen tragen, teils namenlos sind, kommentieren, fragen, widersprechen dem Erzähler und den Protagonisten und gewinnen dabei zunehmend eine Eigenständigkeit, die ihren Höhepunkt in einer wüsten Feier des Fliegerkorps findet - einer in Reimen gesprochenen Ausschweifung, die deutlich an die Walpurgisnacht im "Faust" erinnert.

Jochen Missfeldt hat im intertextuellen Bezugsrahmen des Fauststoffes einen nicht leicht auszulesenden Roman über die norddeutsche Tiefebene geschrieben, in dem sich die Mentalitätsgeschichte dieses Jahrhunderts spiegelt - Arno Schmidt hätte seine Freude daran gehabt.

Titelbild

Jochen Missfeldt: Gespiegelter Himmel. Roman.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2001.
424 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3828601472

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