Der Märtyrer des Glücks

Der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Elisabeth Lenk lässt den Geist der 60er Jahre wieder aufleben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vierzig Jahre nachdem Elisabeth Lenk als junge Doktorandin ein erstes Schreiben von ihrem Lehrer Theodor W. Adorno erhielt, hat sie die 101 Briefe umfassende Korrespondenz veröffentlicht - inklusive einiger weniger Schreiben von und an Adornos Frau Gretel und von seiner Sekretärin Elfriede Olbrich.

Unmittelbar nach dem Examen hatte Lenk 1962 Frankfurt verlassen, um in Paris zu promovieren. Aus der so entstandenen Notwendigkeit der schriftlichen Klärung einiger Fragen bezüglich des Gutachtens, das Adorno für seine ehemalige Studentin geschrieben hatte, entstand eine Korrespondenz, die bis zu Adornos Tode 1969 dauert.

Schon bald wird das Verhältnis zum Lehrer von Diskussionen auf gleicher Augenhöhe begleitet, die im Laufe der Zeit immer mehr dominieren und in denen Sachliches und Persönliches ineinander fließen. Deutlich wird das etwa an der Erörterung des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft. Auf ein kurz zuvor stattgefundenes Gespräch Bezug nehmend schreibt Lenk 1964, der Adressat habe sie mit Recht vor den "Gefahren einer solchen Doppelexistenz" gewarnt. Adorno antwortet mit einem persönlichen Bekenntnis: "Das Verhältnis von theoretischem Bewusstsein und künstlerischer Produktivität ist für mein geistiges Schicksal zentral, und das will sagen, immer noch ungelöst."

Die beiderseitige große - fachliche wie auch persönliche - Wertschätzung ist unverkennbar und wird wiederholt zum Ausdruck gebracht. So bekennt etwa Adorno mit allerdings leicht sexistischem Zungenschlag, er habe "noch nie eine Frau getroffen, die ich für so genial begabt halte, wie Dich, in den Bereichen, die mir am nächsten sind".

Der renommierte Mitbegründer der Frankfurter Schule protegierte die weit überdurchschnittlich begabte Nachwuchswissenschaftlerin über die Jahre hinweg und versuchte ihr eine Assistentenstelle für Literatursoziologie bei Peter Szondi zu vermitteln. Das Unternehmen scheiterte allerdings, da die Ausschreibung der Stelle am marxistischen Zeitgeist ausgerichtet war, dem Literatur nichts weiter als Widerspieglung gesellschaftlicher Verhältnisse bedeutete, und der, wie Lenk Adorno schrieb, "statt der Werke selbst die unvermeidlichen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen" bearbeitete. Lenk aber lag "weder an derartigen Fakten - und dummerweise vergesse ich sie daher schnell - noch überhaupt an der 'Einordnung' eines Werkes in seine Epoche". Erst in den 70er Jahren, lange nach Adornos Tod, sollte sie dann allerdings doch noch Szondis Assistentin werden.

Das Gespräch zwischen Lenk und Szondi, in dem ihre Assistenz besprochen und verworfen wurde, fiel in den Spätsommer 1967, dem Jahr des kalifornischen summer of love und wenige Wochen nachdem Benno Ohnesorg in Berlin während einer gegen den Schah von Persien gerichteten Demonstration von dem Polizisten Kurras erschossen worden war. Von nun an steht die Korrespondenz nahezu gänzlich im Zeichen der studentischen Revolte, in die Adorno und Lenk auf verschiedene Weise involviert waren. Adorno durchlitt die Zeit als, wie Lenk in einer Anmerkung schreibt, "Wegweiser, der zur Enttäuschung der Studenten nicht in die Richtung marschierte, in die er zeigt". Er fühlte sich wiederholt und offenbar zunehmend von studentischer Seite genötigt, Solidarität zu bekunden. "Aus den Studentenangelegenheiten könnte man ganz leicht einen full time job machen", klagte er bereits im Juni 67, es bedürfe "schon einiger Brutalität, um sich gegen die sittliche Forderung zur Wehr zu setzen. Nachdem ich mein Soll an Solidarität erfüllt habe, fällt es mir nicht schwer, diese Brutalität zu entwickeln." Und wenige Wochen später berichtet er nach einem Vortrag in Berlin von einem "kleinen Skandal", den er mit dem dortigen SDS hatte, weil er sich geweigert hatte, "unter Druck ein Gutachten über Herrn Teufel zu schreiben". Elisabeth Lenk berichtet ihrerseits in einem ausführlichen Brief von der "Schreckensnacht" des 10. auf den 11. Mai 1968, in der "gegen 2 Uhr nachts" das von Studierenden besetzte Quartier Latin durch die Polizei geräumt wurde, und zwar, wie sie schreibt, mit besonderer "Brutalität gerade den Schwächeren gegenüber: Kindern, Mädchen, Alten". "Die Ereignisse überschlagen sich", trägt sie zwei Tage darauf nach. Inzwischen hätten die Arbeiter "fast überall in Frankreich die Fabriken besetzt". Oft werde der Direktor zum "Gefangenen" erklärt. Unterdessen diskutiere man an der Sorbonne "in der Regel bis morgens früh, die Nacht ist, im Moment jedenfalls, abgeschafft". Adorno bezeichnet in seinem Antwortschreiben ihren langen Brief nicht von ungefähr als "eine Art Tagebuch". Doch es ist nicht nur die Zeit politischer Aktionen. So fand Lenk, das - wie sie optimistisch formuliert - "Interim nach der missglückten Revolution" habe auch "seine Reize: ein Wildwuchs an sehr merkwürdigen Kommunen". Einem dieser Experimente neuen Zusammenlebens schloss sie sich vorübergehend an und berichtet Adorno aus dieser Zeit allerlei Absonderliches und Skurriles; während der Pariser Mai für sie allerdings noch ein unerfreuliches Nachspiel hatte: Weil sie Studierenden eine Hochschuldenkschrift des SDS gegeben und ihnen ihre Schreibmaschine zum Abtippen zur Verfügung gestellt hatte, bekam sie ihre Stelle nach Ende des Semesters nicht verlängert.

Nach Adornos Tod drückt Lenk in einem Kondolenzschreiben an seine Witwe Gretel ihre Trauer um den Mann aus, dem sie ihre "geistige Existenz" verdanke. "Die zugleich persönliche und sachliche, einzigartige Beziehung, in der die schwierigsten Probleme ganz leicht wurden, ist für mich verloren."

Elisabeth Lenk hat die Briefe mit Anmerkungen versehen, die eine Fülle von sachlichen - und gelegentlich auch persönlichen - Informationen, Hinweisen und Erläuterungen bieten, ohne dabei je in einen trockenen Stil zu verfallen, der solche Apparate oft nur schwer lesbar macht. Hier ist das Gegenteil der Fall. Auch nutzt Lenk die Gelegenheit zur Richtigstellung ihr aus heutiger Sicht ungerecht erscheinender Bemerkungen, beispielsweise über René König, oder sie zitiert ausführlich aus weiteren bislang unpublizierten Dokumenten. So etwa aus einem Traumprotokoll Adornos, in dem er bekennt: "Ich bin der Märtyrer des Glücks."

Titelbild

Theodor W. Adorno / Elisabeth Lenk: Briefwechsel 1962-1969.
edition text & kritik, München 2001.
227 Seiten, 25,60 EUR.
ISBN-10: 3883776874

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