Zu Gast bei Jacques Derrida

Eine kleine Lektüren über die Gastfreundschaft

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Von der Gastfreundschaft" sprach Derrida 1996 in seinem Pariser Seminar. Zwei Sitzungen dieses Seminars sind nun in dem gleichnamigen Buch im Wiener Passagen-Verlag zusammengefasst und mit einem kleinen ergänzenden Kommentar versehen worden. Das ist eine kleine Ausbeute der Derridaschen Gedankenführung zum Thema. Bloß zwei Seminarsitzungen auf nur 90 Seiten und das, nachdem der Suhrkamp Verlag im Jahr 2000 bereits die fast 500 Seiten starke "Politik der Freundschaft" herausgegeben hatte, das sieht nach keinem großen publizistischen Ereignis aus.

Dennoch hat das Buch seinen eigenen Wert und in mehrfachem Sinn kann sich der Leser darin als willkommener Gast fühlen. Zunächst ist er selbstverständlich Gast in einem spezifischen Diskurs, einer besonderen Form der Lektüre und der theoretischen Produktion. Das Seminar bezeugt das vergleichsweise junge Interesse Jacques Derridas am Begriff der Freundschaft und verspricht insofern trotz des geringen Umfangs und trotz vorangegangener Veröffentlichungen etwas Neues, Hilfestellungen zumal, um Einstiege in die politische Ethik der Dekonstruktion zu finden. Zudem lädt das Büchlein den Leser ein, an einem Seminar Derridas teilzunehmen, und damit dem Gestus seines Sprechens, Lehrens und Denkens zu folgen.

"Einladung" nennt auch Anne Dufourmantelle ihre Erläuterungen, die den dritten Teil des Buches bilden. Sekundäre Erläuterungen stiften im Falle dieser "Einladung" allerdings nur sekundäre Verwirrung. Einer Reihe von Unbescheidenheiten macht sich dieser schwammige Text schuldig, nicht zuletzt, weil er, wo er Derrida huldigt, sich insgeheim mitkommuniziert - ferner, weil er in seinen stilistischen Umwegen wenig gehaltvolles zum Ausdruck bringt. Die "Einladung" Dufourmantelles bündelt raumgreifende Bemerkungen zu eigenen Lektüren, die allerdings nicht weiter systematisiert werden. Diese Einladung ist, in mehrfachem Sinne, eher ausladend.

Man tut daher gut daran, sich dem eigentlichen Gastgeber zu widmen. Wohler wird sich bei ihm fühlen, wer einigermaßen weiß, mit wem er es zu tun hat. Denn die Frage nach der Gastfreundschaft steht im Zusammenhang eines Denkens, das sich in den letzten zehn Jahren vermehrt Aporien und Widersprüchen des Rechts, der Gerechtigkeit, der Gabe und des Geschenks gewidmet hat. Das Ereignis oder das Unentscheidbare zu denken, das der Ökonomie des Tausches, der Zeichen, der juridischen Regeln oder der Zeit widersteht, war schon in "Gesetzeskraft", "Falschgeld" oder eben der "Politik der Freundschaft" das zentrale Bemühen. Damit kamen durchaus neue Aspekte der Dekonstruktion zum Tragen und die Idee einer Ethik der différance nahm zunehmend Gestalt an.

Die zwei Meditationen zum Begriff der Gastfreundschaft, die in dem kleinen Bändchen zusammengefasst sind, verdeutlichen durchaus zentrale Momente dieser Ethik der Dekonstruktion. In der ersten der beiden Lektüren wird die Unterscheidung von bedingter und unbedingter Gastfreundschaft eingeführt. Differenziert wird zwischen einer Gastfreundschaft, die den Fremden als Rechtssubjekt in ein Spiel von Rechten und Pflichten hinein nimmt und einer absoluten Gastfreundschaft, die ihm jenseits der rechtlichen Vereinnahmung namen- und bedingungslos die Pforte öffnet, "ohne von ihm Gegenseitigkeit zu verlangen". Gastfreundschaft als stiftende gemahnt daher an die Performanz der Gabe jenseits einer Ökonomie des Pakts und des Rechts. Vor dem Hintergrund, dass "einladen" im Hebräischen den Doppelsinn von "Zeit schaffen" hat und die zeitliche Kontinuität des Denkens durch das Ereignis der Gastfreundschaft durchbrochen wird, tritt der Stellenwert der Gastfreundschaft im Kontext der Dekonstruktion noch etwas deutlicher hervor.

Die zweite Lektüre Derridas, die den Titel "Schritt" trägt, macht zudem auch Verwandtschaftsbeziehungen der Dekonstruktion deutlich. Eröffnet Derrida ein Feld der Unentscheidbarkeit, absolute Gastfreundschaft in ihrer Un-Logik gegenüber der Ökonomie des Paktes, aus der durch einen "Schritt" herauszutreten wäre, so bewegt sich Derrida ganz in der Tradition von Søren Kierkegaard. Das existentielle Pathos der ungesicherten Entscheidung hieß dort existentieller Sprung und fand später im politischen Dezisionismus von Carl Schmitt einen prominenten Niederschlag. In Analogie zum berühmten Slogan der Dekonstruktion, dass die Bedingung der Möglichkeit zugleich auch die Bedingung der Unmöglichkeit ist, weil Bezeichnung Aufschub und Verräumlichung Verzeitlichung einschließt, ließe sich im Kontext einer Ethik der Dekonstruktion nun umgekehrt schreiben, dass die Bedingung der Unmöglichkeit - Unentscheidbarkeit - eben auch Bedingung der Möglichkeit ist - nämlich der Möglichkeit einer nicht schon vorentschiedenen Entscheidung - eines Schritts oder existentiellen Sprungs im starken Sinn.

Gabe, Ereignis und Gastfreundschaft zu denken, hat darüber hinaus für Derrida nun immer auch einen sprachtheoretischen Sinn. "Sprache ist Gastlichkeit", heißt es an einer Stelle, und die Performanz des Schreibens und Sprechens wird in ihrem stiftenden Charakter gedacht, weil sie sich nicht auf den Pakt und Austausch vorgefertigten Sinns beschränken lässt. So werden in dieser kleinen Schrift "Von der Gastfreundschaft" mindestens drei zentrale Aspekte der Dekonstruktion deutlich, ohne die sich wohl auch die größeren Schriften nicht so recht verstehen lassen würden.

Insgesamt lesen sich die Meditationen zur Gastfreundschaft sehr leicht und schön. Man ist gerne zu Gast bei Derrida. Allerdings, etwas blasphemisch gesagt, zu beißen gibt es bei ihm nicht viel. Von handfester Politik und manifesten Übergängen zu den praktischen Diskursen sozialer Kämpfe bleibt diese Ethik der Dekonstruktion denkbar weit entfernt. Daran ändern auch die sporadischen Hinweise auf aktuelle Asyl- und Flüchtlingspolitik nicht viel.

Titelbild

Jacques Derrida: Von der Gastfreundschaft.
Herausgegeben von Peter Engelmann.
Übersetzt aus dem Französischen von Markus Sedlaczek.
Passagen Verlag, Wien 2001.
156 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3851655117

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