Dichter und Verdichter
Paul Wühr "leibhaftig"
Von Lutz Hagestedt
Seine Gedichte sind schlanke Stelen, errichtet aus Wörtern und Syntax. Er verzichtet auf alles Ausschmückende, Vergleichende, Überladene. Paul Wühr, der 1927 geborene Bäckerssohn aus München, zieht in der Lyrik die verschlungene frugale 'Brezn' der opulenten Torte vor:
Lüge ich wenn ich
sage ich habe
mit ihr nicht
geschlafen
oder hätte ich
gelogen
wenn ich nicht
mit ihr
geschlafen hätte
oder log ich
als ich mit ihr
schlief
Ein Liebesgedicht in rhetorischer Frageform: Das Sprechen über den Beischlaf (in der Situation des Gesprächs und im Gedicht) und der Beischlaf selbst sind hier, in der Verdichtung, Kommunikation. Man kann die Unwahrheit sagen, wenn man mit jemandem schläft, sei es, weil der Beischlaf selbst als Liebesbekenntnis gilt, das dem Sprecher jedoch nicht über die Lippen käme, weil - eine Lesart - sein Begehren nur körperlich ist, oder sei es, dass er sein Begehren nur dann 'wahrhaftig' kommunizieren kann, wenn er den Beischlaf vollzieht.
Paul Wührs Lyrik ist opulent dort, wo sie sich in Lesarten auffächert, wie in diesen unerhört reichen, filigranen, eleganten und gedankenscharfen Gedichten. Die Leiblichkeit, die Fleischwerdung des Wortes ist eines der zentralen Themen seiner Lyrik, seit er in frühen Großzyklen ("Mysterium Trinitatis", entstanden Ende der vierziger/Anfang der fünfziger Jahre, bislang nur privat und auszugsweise gedruckt) das Gespräch mit Gott suchte, dann, in den späten Sechzigern, zum Originalton-Hörspiel und dann auch - 1973 - zum Originaltext-Buch fand und 1970 sein Stadtbuch "Gegenmünchen" vorlegte.
Die Auswahl der hundert Gedichte unter dem Titel "Leibhaftig" führt von der Mitte der 70er Jahre ("Grüß Gott", 1976) über den sprachlich und inhaltlich konsistenteren Band "Rede" (1979) zu "Sage" (1988), um dann in die gigantischen, je 600 Seiten umfassende Großpoeme "Salve Res Publica Poetica" (1997) und "Venus im Pudel" zu münden. Einziger Nachteil des vorliegenden Bandes: Die einzelnen Texte werden nicht mehr im ursprünglichen Kontext sichtbar, den Paul Wühr stiftet, darin konsequent auf Zyklopoiesis setzend, auf den Wechselgesang, den einzelne Gedichte und Zyklen mit ihren textuellen Umgebungen anstimmen, sich dabei wechselseitig erweiternd und interpretierend.
Eines der schönsten Gedichte dieses Bandes spricht vom Lesen, vom vorliegenden Buch und davon, dass Literatur immer auch aus Literatur entsteht:
Lesen
Du liegst vor mir geschrieben
ich lese dich ab
ich hör mich von dir sagen
viel Worte schön
dich hör ich so liebreich
liegen
ich denk ich deck die Worte
zu
so mußt du in mir noch
verstummen
so schläfst du auf diesen
Zeilen
still ist das Blatt ich kann
dich
nicht mehr lesen so schön du
bist
da fallen ganz andere Wörter
herein
die sind von mir nicht
geschrieben
sie liegen vor mir auf den
Zeilen
ich lese sie ab ich hör von
ihnen nichts sagen
mich schweigen sie zu die Augen
lesen
ich sehe Wörter die laufen sie
immer nur ab
für uns steht da nichts mehr
geschrieben
Fremdheit, Schönheit, Vertrautheit sprechen aus dieser Dichtung, Leiblichkeit und Geistigkeit stiften eine Welt, in der Blick und Gebärde, obszönes Bild und liebliche Rede fast spirituelle Wirkungen entfalten.