Die Wüste beim Namen genannt

Raoul Schrotts Erzählung "Khamsin"

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Stephan Kleiner
In Michael Ondaatjes Roman "Der englische Patient" findet sich, gleich zu Anfang, eine seitenlange Aufzählung der Winde der Wüste. Der khamsin, erfahren wir, ist ein Sandsturm, der fünfzig Tage anhält, benannt nach dem arabischen Wort für fünfzig. "Khamsin" heißt auch Raoul Schrotts neues Buch. Den schmalen Band, gerade 60 Seiten stark, hat der Autor in zwei Hälften unterteilt, in eine Erzählung und einen Essay, "Die Namen der Wüste".

Zu diesen gehören auch die Namen der Winde, doch noch viele mehr: die Namen des Sandes und von Orten mit und ohne Wasser, Zeltdörfern, Trampelpfaden. Wie es kam, dass einer dieser Pfade jetzt den Namen Raoul Schrotts trägt, das ist nur ein ganz kleines von vielen Geheimnissen der Wüste, die hier gelüftet werden.

Wo die Wüste Namen trägt, da wird sie greifbar, da verliert sie an Weite und damit an Schrecken, an - eben namenloser - Bedrohung.

Das wissen auch die vier Soldaten, die in der Erzählung durch die Wüste irren. 500 Kilometer müssen sie zu Fuß zurücklegen, wollen sie ihr Sicherheit verheißendes Ziel erreichen. Der Krieg hat sie in das unwirtliche Gebiet verschlagen und ihre Reise beginnt buchstäblich im Schrott, in vom italienischen Gegner abgeschossenen Jeepwracks. Den Feind im Rücken, entschließen sie sich für den wahnsinnig erscheinenden Marsches.

Drei Mitglieder einer neuseeländischen Schwadron und ein Ire, drei von ihnen verwundet, und nur ein Kanister mit 20 Litern Wasser: sie sind ohne Chance, bevor sie überhaupt loslaufen, und sie wissen es. Doch sich dem Feind zu ergeben, ist keine Option, und so bleibt nur eine Möglichkeit: die Wagenspuren zurückzuverfolgen nach Tekro, von wo sie gekommen sind.

Was folgt, ist eine bei aller Komprimiertheit ungeheuer detailreiche Schilderung vor allem ihres Innenlebens. Die Stille der Wüste wirft sie erbarmungslos auf sich selbst zurück, verstärkt die Isolation untereinander und führt zu geistigen Rückkopplungen. In Gedanken teilen sie das Ödland in Kreise und Linien, in Zahlen und Skalen; jeder Schritt eine Rechenaufgabe, das Ticken der einzigen Uhr wird zum Maß für die Wirklichkeit, wird Zeit und Raum. Die Gedanken kreisen, lenken ab von dem großen Übergeordneten, dass sie ständig in Kleinstteile herunterbrechen, und vom eigenen, verdurstend sich dahinschleppenden Körper.

Alles was sonst noch bleibt, ist Wille: der Wille, immer weiterzugehen. Doch nach und nach erliegen die Männer Hunger, Durst und ihren Verletzungen, einer nach dem anderen bleibt zurück.

Die Sprache, mit der Schrott diese Torturen schildert, ist ungeachtet der schrecklichen Vorgänge, die sie da beschreibt, ungeheuer poetisch, so dass die Erzählung trotz ihres geringen Umfangs oft beinahe ausschweifend wirkt; sie ist bildhaft und sinnlich im besten Sinne, unwahrscheinlich reich an Vergleichen und Metaphern.So bleibt der Hunger nicht Hunger, er wird zum "Tier, das man in sich trug", das "hornig den verknöcherten und verknorpelten Rücken mit seinen ledrigen Schuppen an der Bauchdecke wetzte."

Und die Oberflächenbeschaffenheit einer Senke, die ein weniger sehender Mensch vielleicht als "karg" beschrieben hätte, wird hier "graue Pottasche in einer Lauge aus Salz", ist "eine verworfene Haut, die auf Spitzen von Granit und Gneiß stak". In atemlosen Mammutsätzen von teils über einer Seite Länge geraten Schrott seine Landschaftsbeschreibungen zu spannungsgeladenen Manifesten, die nicht anders als furios zu nennen sind, die die plane Wüstendecke als das Ergebnis übermenschlicher Kämpfe darstellen; sie allein rechtfertigen schon den Kauf dieses Buches.

Doch auch die verschiedenen sensorischen Halluzinationen, die unglaublichen Strapazen, die die Männer erleiden müssen: Raoul Schrott erzählt davon mit einer plastischen Authentizität, die den Leser direkt ins Buch hineinzieht, die eigene Kehle austrocknet. Besonders eindrucksvoll sind seine Schilderungen tatsächlich, wenn er die verzweifelte Situation der Wüstenwanderer schildert, die Qualen, die sie erleiden. So etwa der neuseeländische Kommandant, der sich in Agonie als letzter aufrecht dahinschleppt, er ist nur noch Wille, ein delirierender Don Quixote, der matt nach seinen Rettern schlägt, weil er sie für schwarze Hunde hält, und der nur noch eins im Sinn hat, weiter, immer weiter zu gehen.

Jede Interaktion der Charaktere tritt hinter der Beschreibung dieses Leidens zurück. Gesprochen wird so gut wie nicht, wörtliche Rede fehlt ganz. Es entbrennt kein Streit um die letzten Tropfen Wasser, niemand verläuft sich auf dramatische Weise, selbst das Zurückbleiben bzw. die Rettung der einzelnen Männer wird fast beiläufig inszeniert. Und dennoch mangelt es nicht an Spannung. Obwohl Schrott auf die üblichen Register verzichtet, haucht er seiner Erzählung durch seine glasklaren Beobachtungen Leben ein.

Zum Schluss gibt es dann eben nicht mehr die Wüste, sie wird aufgefächert in Tausende von Farben und Myriaden von Nuancen dieser Farben, so viele Orte, und jeder anders.

Der zweite Teil, "Die Namen der Wüste" zeigt dann auch, dass Raoul Schrott genau weiß, wovon er da schreibt. Es wird klar: Er kennt sie, diese Namen, wahrscheinlich sogar alle, er kennt die Unterschiede und benennt sie.

Zehn kleine Beiträge zu Stichworten wie "Zazura" und "Wadi Hamra". Wie kurze Mikroessays oder lange Lexikoneinträge vermitteln sie faktisches Wissen, allerdings immer vor dem realen Hintergrund des persönlichen Erlebnisses.

Raoul Schrott hat sich, in einem Team von Wissenschaftlern unterschiedlicher Profession, in die Wüste begeben.

Wie der Graf Almasy vor ihm auch er wird hier erwähnt, sein Name ist nicht zuletzt durch den Roman "Der Englische Patient" hinreichend bekannt, dem er hier tatsächlich zu folgen scheint, durchmisst er doch selber die verschiedenen Landschaften, eine Reise, die bei ihm zur semiotischen Expedition gerät. Und wieder profitiert der Leser von der Fragelust des Autors. Wissensdurstig und vor allen Dingen fasziniert von Sprache zeigt sich Raoul Schrott, geradezu sprachversessen. Dass er selbst auch Übersetzer ist (vornehmlich babylonischer Texte, zuletzt des Gilgamesh-Epos), das kann man erahnen, man merkt es an der beinahe didaktischen Begeisterung, mit der er den Namen nachspürt, den griechischen, arabischen, semitischen Namen für die Wüste; sie werden nicht einfach nur dahingeschrieben, sie werden vom Autor für uns abgeleitet und erklärt, so schafft er Vernetzungen und Sinnzusammenhänge und lässt so eine geistige Karte eines Phänomens entstehen, er ist ein etymologischer Kartograph.

Die Fakten, die Gegebenheiten, die Überlebenstricks werden nicht nur genannt, sie werden erzählt, und Schrott das in der schönen Tradition der Geschichtenerzähler: Er fabuliert, er schmückt aus, so dass das Erlebte stellenweise wie ein Wüstenmärchen wirkt.

Das kann mitunter fast zuviel werden, und es droht die Gefahr, sich zu verlieren in den Satzketten, den Wortkaskaden, den immer neuen Beschreibungen, die auf Beschreibungen folgen, bis sie sich schließlich selber auftürmen wie Dünen, immer noch eine hinter der anderen. Doch man verliert sich gern in diesem erzählerischen Ton, und wenn man den Sätzen ganz langsam folgt, ist man plötzlich selber auf der Reise. Und selbst wenn die Gefahr der Überfrachtung immer präsent ist, scheint der Autor immer noch die Kurve zu kriegen; vor allem, und das ist ebenso wichtig wie leider nicht selbstverständlich, rutscht er niemals in den Kitsch ab.

Das Einzige, was man diesem Büchlein also ernsthaft vorwerfen könnte, wäre also, dass es zuviel Wissen vermittelt, zuviel weiß über die Geschichte der Sahara, der ägyptischen Wüste, über die englischen Soldaten, über Almasy und Laing, über Wüstenglas, über die Troglodyten, die Farben und die Sprache, so dass man nach der Lektüre so viel mehr erfahren hat, als man vielleicht überhaupt hatte wissen wollen, oder eben gleich alles wieder vergisst. Ein bisschen eingeschüchtert bleibt man zurück, so wie man vor einem Lehrer Respekt hat und auch ein bisschen Angst.

Gleichwohl, oder gerade deswegen: ein Buch, aus dem man ewig zitieren oder das man einfach nur vorlesen möchte.

Titelbild

Raoul Schrott: Khamsin. Die Name der Wüste Erzählung und Essay.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
60 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3100735404

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