Fragwürdiges Planetensystem
Rainer Kawa über "Wilhelm Meister und die Seinigen"
Von Ursula Homann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSeit langem bemüht sich die Goethe-Forschung, Zusammenhänge, Verschlüsselungen, symbolische Bezüge und kontextuelle Botschaften in Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" aufzudecken. "Es sei ja alles nur symbolisch zu nehmen und stecke überall noch etwas anderes dahinter", soll schon Goethe am 8. 6. 1821 zu Friedrich von Müller gesagt haben. Einen Beitrag zur Entschlüsselung von Goethes wichtigem Werk leistet Rainer Kawa mit seinem Band. Auch er hat verborgene symbolische Bezüge ausfindig gemacht. Dabei geht es vor allem um das reich gegliederte Figurenensemble, das schon Schiller wie "ein schönes Planetensystem" vorkam.
Gerade die weiblichen Hauptgestalten des Romans bieten Einsichten in die Antriebe und Leitbilder des Helden. Die Haupt- und Nebengestalten der "Lehrjahre" verweisen, oft mehrsinnig auf mythologische, historische und literarische Gestalten, so dass sich der Roman am Ende immer weniger als Bildungs- oder Sozialroman erweist, sondern als "Transzendentalroman", als Reflexion von wesentlichen kulturellen Konstrukten oder Ideen der Kunstperiode im Medium ihrer mythologischen oder literarischen Vorgeformtheit. In "Wilhelm Meisters Lehrjahre" werde nämlich nicht erzählt, sondern auf ironische Weise Erzähl-Material bearbeitet, um neuen Sinn aus ihm zu schlagen.
Zu einzelnen Gestalten der "Lehrjahre" werden historische Vorbilder benannt, Aurelie zum Beispiel verweist auf Charlotte Ackermann, die Schöne Seele auf Susanna Katharina von Klettenberg. Eine zweite Ebene der Intertextualität betrifft die Mythologie. Das Material, das Goethe hierfür bearbeitet hat, stammt aus der Bibel und aus der antiken Mythologie. Bei Wilhelm lassen sich sogar Verweise auf Christus entdecken.
Durchweg spiegeln die Gestalten der "Lehrjahre" Urbilder aus dem Umkreis der antiken Mythologie. Die Mythologie aber werde deshalb zitiert, glaubt der Autor, weil diese geeignet sei, die familiale Thematik des Romans deutlicher zu konturieren. Denn was im modernen Sinn als pervers gilt und nicht darstellbar ist, könne durch den Umweg über die Mythologie aufgerufen werden. Sie sei die Repräsentation des Verdrängten, das Aussprechen des Unausgesprochenen. Auch die Ideen von Seelenwanderung können durch den Bezug auf die Mysterien von Eleusis zum Sprechen gebracht werden.
Zur mythologischen Grundierung des Romans gehört ferner das Vogel-Motiv, insbesondere das Motiv vom Paradiesvogel. Es dient offenbar zur Kennzeichnung des Dichterischen und des Dichters. Unverkennbar ist auch hier immer wieder Sinnstiftung durch Namengebung.
Kawa beginnt mit einem morphologischen Streifzug und stellt dabei den "Umweg Philines" in den Mittelpunkt, während er Wilhelm Meisters Gesellen Laertes unter dem Gesichtspunkt seiner Beziehung zu Merkur betrachtet und deutlich herausarbeitet, welche Charakterzüge Laertes' im einzelnen auf eine Beziehung zu Merkur hindeuten. Mignon und Felix entziffert er dagegen als Repräsentanten des Dionysos.
Eine dritte Ebene der Intertextualität betrifft Goethes eigene Werke, insbesondere "Götz" und "Werther". Sogar ein naturwissenschaftlicher Text wie die "Farbenlehre" wird im Rahmen der "Lehrjahre" reflektiert. Überdies rückt der Autor Goethes Roman in die Nähe des "Faust" und überlegt, ob die beiden Romanteile und die beiden Teile der Faust-Tragödie wie eine Tetralogie gelesen werden könnten. Shakespeares "Hamlet" bildet für "Wilhelm Meisters Lehrjahre" ebenfalls einen bedeutsamen Hintergrund. Wichtigstes Bindemittel zwischen den beiden Werken sei die Vater-Sohn-Thematik, womit weitere familiale Komplexe verknüpft seien.
Rainer Kawa wartet mit vielen Einzelresultaten auf, die sich ihm jedoch, wie der Verfasser selbst bedauernd eingesteht, "noch nicht zu einem geordneten Bild fügen."