Suchbild II

Christoph Meckels Porträt seiner Mutter

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christoph Meckels "Suchbild. Über meinen Vater" (1980) hat in den achtziger Jahren erhebliches Aufsehen erregt. Unter den sogenannten ,Vaterbüchern', die damals en vogue waren, schockierte es durch die radikale Schonungslosigkeit und durch die poetische Kraft, mit der Christoph Meckel seinen Vater, den Schriftsteller Eberhard Meckel, als nationalsozialistisch infizierten Schöngeist entlarvte und ihn zugleich als Poeten überwand. Der Vater wurde ihm nachträglich (aufgrund nachgelassener Aufzeichnungen Eberhard Meckels) zum Paradigma einer in jeder Hinsicht versagenden und scheiternden Generation der verführbaren Intellektuellen. Ihrem falsch verstandenen Idealismus und Ordungsdenken entsprachen die "verwelklichen Verse", die sie schrieben. "Seit ich seine Kriegstagebücher las, kann ich den Fall nicht auf sich beruhen lassen; er ist nicht länger privat", schrieb Christoph Meckel.

Und die Mutter? Annemarie Meckel, die Ehefrau Eberhard Meckels, hat zwar im Anschluss an Christoph Meckels "Suchbild" ebenfalls Auszüge aus ihren Tagebüchern der Jahre 1944 bis 1947 publiziert ("Das Bild des Gefangenen", 1982), doch geben diese Aufzeichnungen keinerlei Veranlassung, ihre Verfasserin als "Fall" öffentlich zu verhandeln. Repräsentativ dagegen sind diese Tagebuchnotizen der Mutter allemal. Denn sie dokumentieren eine Situation, in der sich damals Millionen deutscher Frauen befanden: Sie warteten mit ihren Kindern (bei den Meckels waren es drei Söhne) auf die Rückkehr ihres Mannes aus dem Krieg oder der Kriegsgefangenschaft (Eberhard Meckel befand sich in einem französischen Kriegsgefangenenlager am Rande der Sahara), sie erfuhren Bombardierung, Flucht und Vertreibung, Hunger und Kälte, sie mussten Phantasie und Organisationsgeschick entwickeln für das Überleben ihrer Familie, und sie mussten die Erziehung der Kinder allein übernehmen. Das ist die Perspektive, die Annemarie Meckel dem Vater-"Suchbild" ihres Sohnes hinzufügte, nicht etwa entgegenstellte: unaufdringliche, schlichte, spröde Annotationen, geprägt von der Not und der Pflicht, von den Anforderungen des Tages und von der (christlich grundierten) Hoffnung auf die Heimkehr des Mannes. Eberhard Meckel kam im Frühjahr 1947 als Schwerkriegsverletzter (Kopfschuss) heim. Er war fortan keiner der Aufgaben (als Vater, als Ehemann, als Schriftsteller) mehr gewachsen, die er übernahm. Er starb 1969. Seine Frau überlebte ihn um mehr als dreißig Jahre.

Das ist der Hintergrund des zweiten "Suchbilds" von Christoph Meckel, niedergeschrieben noch zu Lebzeiten der Mutter, nun, kurze Zeit nach ihrem Tod, publiziert. Warum ein zweites Suchbild, wenn doch diese Mutter kein "öffentlicher Fall" war und ist? Das wird schon nach wenigen Zeilen unmissverständlich ausgesprochen: "ich habe meine Mutter nicht geliebt". Es ist diese Defizit-Erfahrung - nicht geliebt zu haben und nicht geliebt worden zu sein - die dieses "Suchbild" ausgelöst hat: "Es hat keinen Sinn, einer Mutter den Vorwurf zu machen, der Ursprung fehlender Liebe gewesen zu sein. Das Fehlende suchte nach einer lebendigen Form". Literatur also als Gegenwehr gegen das Vakuum, als Sublimation des Vermissten, als produktive Reaktion auf permanente Destruktionserfahrungen, als Selbstbehauptung mithin durch das Mittel des Porträts der Mutter. Meckels zweites Suchbild eignet sich auf eine geradezu paradigmatische Weise als Exempel solcher literaturpsychologischer Fragestellungen, die sich nicht damit begnügen, in den dargestellten ,Fällen' lediglich ,Urszenen' menschlicher Verhaltensweisen wiederzuerkennen oder den Darstellenden selbst im Hinblick auf seine unterdrückten oder artikulierten Wünsche zu analysieren, sondern die sich auch und vor allem der gewählten literarischen Form zuwenden, die in diesem Fall das Porträt ist.

Es ist ein Porträt von großer Schärfe, und mit ,Schärfe' ist hier die Präzision der Darstellung ebenso gemeint wie ihre Unbarmherzigkeit. Beides wird hier auf untrennbare Weise miteinander verbunden zu einem Bild der kultiviert-gebildeten Dame Annemarie Meckel, das vermutlich nicht gar so anachronistisch ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Sie schien für die Zeiten und Umstände, mit denen sie sich im Krieg und in der Nachkriegszeit arrangieren musste, nicht geschaffen. Sie war als promovierte Anglistin allem Schönen in Literatur und Kunst zugetan, an geistreicher Konversation mit gebildeten Gästen interessiert, aber nicht an der Politik, die gleichwohl ihr Leben bestimmen sollte. Sie war geprägt von ,richtigen' moralischen, zunehmend christlich definierten Grundsätzen und Auffassungen über gesellschaftliche Milieus und Hierarchien, verfügte stets, wie es sich gehörte, über ein "Dienstmädchen" (zuletzt war es Lucie, eine Französin) und hatte für Erscheinungsformen der groben Sinnlichkeit, der Sexualität gar, aber auch der Ausbruchsphantasien keinerlei Verständnis. Im Urteil des Sohnes, der hier auch die Partei des Vaters nimmt, ist das "frigide Körperlichkeit", Kälte, unüberwindliche Fremdheit. Ihre Selbstgerechtigkeit war die Kehrseite ihrer permanenten Überforderung. "O der Augenblick, wo die Verantwortung von mir genommen wird", zitiert Meckel aus den oben erwähnten publizierten Tagebuchaufzeichnungen der Mutter.

Das Porträt der Mutter ist zugleich, wie sich versteht, das Negativ des Selbstporträts Christoph Meckels. Die Lieblosigkeit und bürgerliche Durchschnittlichkeit führte ihn von der Enttäuschung zum Protest und schließlich zur Gleichgültigkeit: Was ging ihn, der im Widerstand gegen die Autoritäten auf dem Wege war, autodidaktisch zu sich selbst zu finden, noch die Mutter an; sie war für ihn schließlich nicht mehr als eine hohle Instanz, anspruchsvoll und ignorant, eine Verdrängungs- und Selbsttäuschungskünstlerin. So wurde sie "älter, noch einmal älter, wie viele Male älter und schließlich alt". Das knappe Bild der Greisin - sie starb mit 92 Jahren als Pflegefall in einem Freiburger Altersheim - ist ein darstellerischer Höhepunkt am Ende des Buches: Die Mutter bleibt sich gleich, wahrt bis fast zuletzt die Contenance und verändert sich doch mit abnehmender Lebenskraft. Diese Gleichzeitigkeit des immer Gleichen und des sich Verändernden hat Christoph Meckel mit großer Einfühlsamkeit gestaltet. Auch hier - in den Schlusspassagen des Buches - gibt es nicht die Spur von Mitleid oder nachgetragener Liebe, aber doch distanzierte Anerkennung: "Im hohen Alter beginnt sie, zögernd und nicht häufig, von sich zu sprechen. Erst im Zweifel beginnt sie, zugänglich zu erscheinen", liest man da, und "Haltung, Tapferkeit, Ertragenwollen" werden ihr als nicht selbstverständliche (preußische) Tugenden des Alters zugutegehalten. Der Starrsinn nimmt zu, aber seine fordernde Verbindlichkeit lässt nach. Sie rettet sich durch die Kultivierung ihrer Eigenwilligkeit und legitimiert das mit dem Anschein von Toleranz und mit schützender Selbstironie.

Ein meisterhaftes Buch: radikal und kompromisslos im Urteil, genau und sensibel bis in die einzelne Formulierung hinein, und ein wenig traurig stimmend zuletzt: Fast ist man in Versuchung, dieser Mutter im Nachhinein einen anderen Sohn zu wünschen, der bereit gewesen wäre, ihr über ihre Selbsttäuschungen hinwegzuhelfen statt sie erbarmungslos zu demaskieren; oder diesem Sohn eine andere Mutter zu wünschen, die in der Lage gewesen wäre, dem Sohn auf seine Frage "Liebst du mich?" eine andere Antwort zu geben als "Ja, Kind, und nun geh in den Garten". Doch in beiden Fällen hätte es dieses "Suchbild" nicht gegeben.

Titelbild

Christoph Meckel: Suchbild. Meine Mutter.
Carl Hanser Verlag, München 2002.
123 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-10: 3446202196

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