Ein Held am Prenzlauer Berg
Wladimir Kaminer erzählt Geschichten von der "Schönhauser Allee"
Von Silke Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseErzählen Sie mehr, Herr Kaminer! Mehr von Herrn Wan Dong, Erik, Juri oder Olga - mehr Geschichten mit soviel Charme und Herzlichkeiten. Herr Wan Dong ist der vietnamesische Nachbar aus dem Gemüseladen. Er bekommt Post. Jeden Tag. Er nimmt jeden Brief ernst. Er ignoriert konsequent den Karton, den seine Nachbarn nutzen, um die dicken Briefe mit der Aufschrift "Ihre persönliche Million" sofort zu entsorgen. Er kann noch daran glauben, "dem Absender liege etwas daran, speziell ihn anzuschreiben". Er beantwortet jeden Brief. Deshalb ist er jetzt vielleicht stolzer Besitzer der "One More Time Elvis Machine". Neulich bekam er eine Rechnung von der deutschen "Wurlitzer GmbH". Sie gratulierte ihm zu der "One More Time Elvis Machine, in limitierter Auflage, handsigniert von unserem Geschäftsführer, im Original Elvis-Schriftzug [...]. Bestückt mit 120 Elvis-CDs und einem 400-Watt-Verstärker, kann die One More Time Elvis Machine bis zu 1.200 Songs gleichzeitig abspielen. Gewicht: 157 kg".
Nach seinen Lesungen wird Kaminer oft gefragt, ob es "sie" gibt, die Helden in seinen Geschichten, von denen er erzählt und mit denen er so viele andere zum Lachen bringt. Sind sie echt, seine Freunde, die an soviel glauben können? Vielleicht steckt hinter dieser Frage auch ein Wunsch: Lass es sie geben, diese gesunde Naivität, die den unbefangenen, treuherzigen Blick zulässt. Da ist zum Beispiel Erik, der Besitzer des Spielsalons "Pure Freude." Erik ist verliebt in Larissa, will mit ihr ins Kino gehen. Deshalb "schraubt" er einen Automat auseinander, fährt nach Moskau und kauft im Observatorium einen Stern für 500 Dollar. Einen unsichtbaren, denn ein sichtbarer war erst ab 3.000 Dollar zu haben. Dafür hat er jetzt ein Zertifikat und ist der rechtmäßige Besitzer eines Sterns im "Sternbild der Waage". Er kann dem Stern einen Namen geben, ihn weiterverschenken oder verkaufen. Sehen kann er ihn nicht, aber dafür hat er durch diese romantische Geste ihr Herz erweichen können: "Ein Stern namens Larissa".
Es sind auch große Themen, die Kaminer bewegen: "Was gibt es im Kapitalismus alles umsonst", "Die Macht des Entertainments" oder "Den Zerfall des Kulturguts". Er analysiert die "Knüllerkiste" bei der Wohlthatschen Buchhandlung, findet abgewertete Literatur und sieht darin den "Interessenwandel der Gesellschaft" widergespiegelt. Das große rote "Gorbi-Buch" zum Beispiel kostete einst hundert Mark. Jetzt 2,50 Euro.
Der Autor zeigt uns den Alltag in der Schönhauser Allee. Er erzählt, was er sieht. Schildert die kleine Welt eines einzelnen Menschen. Genau das ist Kaminers Stärke: Große Fragen, wichtige Themen erklärt er durch Menschen und ihre Geschichte. Ob Herr Wan Dong, Juri, Olga oder sein Freund Wladimir - alle haben sich ihren "Spleen" bewahren können. Und jede Geschichte überzeugt durch seine besondere Gabe, die Absurditäten dieser Welt zu karikieren. Er hinterlässt Merkwürdigkeiten.
Er benutzt eine einfache Sprache, packt kleine Weisheiten in kurze Sätze: "Je größer eine Familie ist, desto mehr Abfall produziert sie". Oder: "Ein Zeichen des modernen Lebens ist der volle Briefkasten". Er ist ein interessierter Mensch, stellt Fragen und nimmt sich Zeit für kleine Recherchen. Im Mülleimer findet Kaminer zum Beispiel weggeworfene Bücher. Von Neugier gepackt, erforscht er die "Mülleimer-Bibliothek" und fragt sich: "Von welchem Kulturgut verabschiedet sich der zeitgenössische Leser zu Beginn des neuen Jahrtausends?" Seine Untersuchung ist spannend, denn er findet allerhand wichtige Bücher. Neben politischer Literatur wie "Bin ich Verfassungsfeind?", zieht er den Ullstein-Ratgeber "Woher die kleinen Kinder kommen" aus dem Abfall sowie "Das Nein in der Liebe. Abgrenzung und Hingabe in der erotischen Beziehung". In diesem Buch steht sogar eine persönliche Widmung: "Liebe Heike, zum Geburtstag herzliche Grüße. Dein Jörg." Kaminer fragt stutzig: "Heike, wieso wirfst du jetzt alle Bücher weg? So schnell kann man doch seine Vergangenheit nicht entsorgen. Egal wo man landet, muss man sich mit Abgrenzung und Hingabe beschäftigen". Er sagt es in einem unbedarften Ton, klar heraus. Und seine Mülleimer-Recherche lässt dem Hörer Zeit, sich Heike vorzustellen. Heike, die sich von alledem trennen wollte. Heike.
Die Suche nach einem Kindergartenplatz für seine kleine Tochter Nicole ist schon fast tragisch-komisch. In der "Bambini-Oase" wurde sie abgelehnt, bei der "Kleinen Flohkiste", im "Wirbelwind" und auch in "Kitas Räuberbande" konnte sie nicht bleiben. Die Dreijährige fragt sich: "Man hat mich im Kindergarten nicht genommen. Wie soll ich nun weiterleben?" Letztlich durfte sie die "Frechen Früchtchen" besuchen, trotz mangelnder Sprachkenntnisse.
Die Geschichten von Kaminer vorgelesen zu bekommen, ist die beste Art, seinen Humor und seinen Hintersinn zu genießen. Ist es der Charme in seiner Stimme? Sein russischer Akzent? Die besondere Sprachmelodie? Oder sind es diese abgegriffenen Sätze, die so niemand mehr verwendet? Er kann sie jedoch ohne weiteres benutzen, so auch "wie aus der Pistole geschossen" oder " an die frische Luft gehen" oder "es interessiert sich keine Sau für ihn". Er liest in einem getragenen Tempo, fast emotionslos. Seine Stimme täuscht eine gewisse Ernsthaftigkeit vor. Keiner könnte seine Texte amüsanter lesen, denn Stimme und Text gehören hier unweigerlich zusammen. Eine Steigerung wäre lediglich, ihn live zu erleben.
Nach einer Stunde ist der Spaß vorbei. Kaminer ist schon fast ein "Kollega", und man möchte ihn anstupsen und sagen: Erzähl mehr! Noch ein Geschichte. Bitte!
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