Judith Butler fordert den Körper zurück

Ein von Ursula Pasero herausgegebener Sammelband fragt nach der Natürlichkeit von Geschlecht

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während sich Judith Butler von bundesdeutschen Soziologinnen immer wieder anhören muss, sie vernachlässige die Bedeutung des Körpers, wolle seine unzweifelhafte Materialität in Text auflösen oder ihn kurzerhand gänzlich abschaffen, womit sie den Feminismus verabschiede, beziehungsweise sich selbst von ihm, überrascht nun ausgerechnet eine Biologin mit einer völlig anderen Interpretation. Butler, so schreibt die am Department of Molecular and Cellular Biology and Biochemistry der Brown University von Providence tätige Wissenschaftlerin Anne Fausto-Sterling unter Verweis auf "Bodies That Matter", fordere den "materiellen Körper für die feministische Denkweise zurück". Sie stelle nicht etwa den materiellen Körper infrage, sondern vielmehr eine "Idee von Materialität", die etwas bezeichne, das zwar "die Konstruktion unterstützen", seinerseits jedoch nicht konstruiert werden könne. Da der Begriff der Materie bereits Vorstellungen von Gender und Sexualität beinhaltet, wie die mit Butler argumentierende Autorin nachweist, könne nicht auf sie zurückgegriffen werden, um 'objektive' Theorien über sexuelle Entwicklung und Differenzierung aufzustellen. Dennoch seien "die den Körper betreffenden Aspekte von Materialität" anzuerkennen und zu nutzen.

Die von der Wissenschaft im allgemeinen und von der Biologie im Besondern postulierten "Wahrheiten" über menschliche Sexualität seien eine "Komponente" der politischen, sozialen und moralischen Kämpfe in der Kultur, die allerdings zugleich - und zwar in einem sehr wörtlichen Sinne "verkörpert", d. h. "mit unserer physiologischen Existenz" vereinigt werden. Fausto-Sterling zeigt auf, wie diese scheinbar miteinander in Widerstreit liegenden, tatsächlich jedoch voneinander abhängigen Behauptungen "funktionieren"; wie WissenschaftlerInnen also Wahrheiten über Sexualität "kreieren"; und wie diese Wahrheiten von den Körpern aufgenommen und bestätigt werden. Es gelte, "den Gordischen Knoten dualistischer Gedanken zu zerschlagen" und zu verstehen, "dass Sexualität eine somatische Tatsache ist, die durch ein kulturelles Ergebnis entstanden ist", das uns "in Fleisch und Blut" übergeht. Anzunehmen, dass sie als Biologin möglicherweise doch einer materialistischen Letztbegründung für Sex und Gender anhängt, wäre verfehlt, betont sie doch, dass jede Anstrengung, die nach einer "einfachen physiologischen Basis für sex" sucht nur umso deutlicher macht, dass Sex "keine rein physische Kategorie" ist. Die Genitalien, so Fausto-Sterling, sind die "sichtbarsten, äußeren Anzeichen" nicht etwa von Sex, sondern von Gender. Denn gerade an ihnen lässt sich zeigen, wie Sex "buchstäblich konstruiert" wird: "ChirurgInnen entfernen Teile und benutzen Plastiken, um 'passende' Genitalien für Menschen zu schaffen, die mit nur unter Schwierigkeiten als männlich oder weiblich identifizierbaren Körperteilen geboren wurden."

Fausto-Sterlings instruktive Ausführungen entstammen einem Auszug aus ihrem Buch "Sexing the body. Gender politics and the construction of sexuality" (2000), den Ursula Pasero und Anja Gottburgsen aus guten Gründen ihrem Sammelband "Wie natürlich ist Geschlecht?" vorangestellt haben. Die anschließenden Beiträge gehen auf ein Symposion zur Geschlechterforschung zurück, das im November 2000 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel stattgefunden hat. Behandelt wurde der Zusammenhang von Gender und der Konstruktion von Natur und Technik. "Alles, was über gender für wahr gehalten wurde", stellen die Herausgeberinnen fest, müsse "auf den Prüfstand". Sie betonen insbesondere, "dass gerade die Humanbiologie keinesfalls das Kriterium bereitstellt, das die Geschlechter eindeutig unterscheidet". Vielmehr zeige sich, dass die verschiedenen naturwissenschaftliche Geschlechtsbestimmungen "keineswegs kongruieren müssen".

Fausto-Sterlings luzidem Text schließen sich Erörterungen der am "Rosa-Luxemburg-Institut für Interdisziplinäre Forschung und Praxis in den Naturwissenschaften/Technik/Medizin" tätigen Wissenschaftlerin Margarete Maurer über Sexualdimorphismus, Geschlechterkonstruktion und Hirnforschung an. Maurer geht der Frage nach, aufgrund welcher Befunde in der Hirnforschung von einem 'weiblichen' und einem 'männlichen' Gehirn gesprochen wird, wie diese Befunde zu bewerten sind, und mit welchem Recht hinsichtlich der Struktur und Funktion des Zentralnervensystems ein 'Sexualdimorphismus' behauptet werden kann; kurz: "wie 'ge-gendert' (kulturell-gesellschaftlich geprägt)" das 'biologische' Geschlecht ist. Maurer argumentiert genau und geht - im Rahmen, den der Umfang eines Aufsatzes gestattet - ins biologische Detail. Wohl daher ist ihre Argumentation - anders als Fausto-Sterlings auch für Nicht-Biologinnen gut lesbare Arbeit - ohne (molekular-)biologische Grundkenntnisse nicht immer ohne weiteres nachvollziehbar. Die Autorin listet die sechs biowissenschaftlichen Repräsentationen von Geschlecht auf (chromosomal, gonadal, morphologisch oder phänotypisch, hormonell, verhaltensbiologisch, gehirnanatomisch und -physiologisch) und legt für jedes von ihnen dar, dass sie sich "keineswegs" als "so eindeutig" erweisen, "wie sie dem Alltagsbewusstsein erscheinen mögen und wie dies in den Sozial- und Kulturwissenschaften zumeist angenommen wird". Für eine "Geschlechtsbestimmung" genüge nicht die Untersuchung nur eines dieser Kriterien, vielmehr sei ihre Kombination erforderlich, in der die unterschiedliche Kontexte auch unterschiedlich gewichtet und bewertet werden können. Daher handele es sich bei der vermeintlichen "Zuordnung" eines Individuums zu einem Geschlecht tatsächlich um eine "kontextabhängige Zuschreibung". Bei ihr ist außerdem zu berücksichtigen, dass sich die sechs genannten Kriterien in der 'Natur' "nicht (nur) in dualistisch entgegengesetzter Prägung", sondern in "vielfältige[r] Weise" ausbilden. Eine "stereotype Zuordnung aller Individuen einer Population zu einem von zwei Geschlechtern" lasse sich, so lautet ihr überzeugend belegtes Fazit "biologisch nicht rechtfertigen". Denn Sex stelle "kein fixes Kriterium" dar. Vielmehr handele es sich um "ein fließendes und variables Muster". Das Zwei-Geschlechter-Modell müsse daher zumindest erweitert, wenn nicht gar als hinfällig angesehen werden werden.

Neben der Frage nach der naturwissenschaftlichen Konstruktion von Geschlecht befassen sich weitere Schwerpunkte des Bandes mit "Naturwissenschaften und Technik als 'Männerprojekte'", dem Zusammenhang von Gender und Technologien und schließlich mit Visionen und Fiktionen in den Bereichen der Cineastik und der Literatur. Hier widmet sich Urte Helduser dem Anteil der Fruchtbarkeit als grundlegendem Paradigma für Weiblichkeitskonstruktionen in Literatur und Kulturkritik der vorletzten Jahrhundertwende. Als literarisches Motiv, so Heldusers These, trete sie insbesondere im Bild der 'unfruchtbaren Frau', also in ihrer Negation auf. Anhand verschiedener Bühnenstücken und Werken der europäischen Literatur zeigt die Autorin auf, wie sich das Bild weiblicher '(Un-)Fruchtbarkeit' zu einer "umfangreich einsetzbaren Metapher" im Fortschrittsdenken der Zeit um die Wende von 19. zum 20. Jahrhundert entwickelte und zugleich der "Naturalisierung weiblicher Emanzipation" diente.

Einem im Fin de Siècle noch ganz unbekannten Genre wendet sich hingegen Dunja M. Mohr zu, deren Interesse der wohl bekanntesten Cyberpunk-Novelle aus der Feder einer feministischen Autorin gilt: Marge Piercys "He, She and It". Während die Autorinnen des jüngst von Mary Flanagan und Austin Booth herausgegebenen, sehr lesenswerten Sammelbandes "Reload. rethinking women + cyberculture" Einspruch gegen die Euphorie der feministischer Netz-Theoretikerinnen wie Sadie Plant und Sherry Turkle erheben, denen sie das dystopische Moment feministischer Cyberpunk-Romane entgegenhalten, beleuchtet Mohr in ihrer Untersuchung der intertextuellen Beziehungen zwischen Piercys dystopischer Netzphantasie einerseits und Donna Haraways "cyborg theory" sowie den Thesen der "media theorist" Sadie Plant andererseits, "the transformative function that the transgressive cyborg metaphor acquires via its literary representation".

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Ursula Pasero / Anja Gottburgsen (Hg.): Wie natürlich ist Geschlecht? Gender und die Konstruktion von Natur und Technik.
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002.
333 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3531136704

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