Von den Luftkriegskindern

Der Band "Schweigen oder sprechen" versammelt Texte von Dieter Forte über die traumatisierenden alliierten Bombenangriffe auf deutsche Städte

Von Marcel AtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Atze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der Krieg zu Ende war, machte sich Marie Luise Kaschnitz an eine Art essayistische Inventur des zerstörten Deutschlands. So nimmt sie in dem Band "Menschen und Dinge 1945" voller Sorge, aber auch mit Erstaunen die heranwachsende Generation in den Blick, die, so schien es ihr jedenfalls, allein "von der rauchgeschwängerten Luft halbverkohlter Städte" zu leben fähig sei. In dem "Von unseren Kindern" titulierten Teil beweist die Frankfurter Schriftstellerin, die ihre Stadt in Schutt und Asche sinken sah, gleichsam seherische Fähigkeiten. Denn angesichts der Eindrücke kruder Zerstörung und der alltäglichen Mühsal des Überlebens, sei das Verhalten der meisten Kinder bemerkenswert normal. Obwohl diese, so schreibt Kaschnitz, "alle Arten der Todesbedrohung und alle Formen der Heimatlosigkeit durchgekostet haben, obwohl die Kammern ihrer Erinnerung angefüllt sind mit den Bildern brennender Häuser und verstümmelter Leichen, tönt ihr Lachen so unbefangen und heiter wie zu der Zeit, da junge Mädchen auf breiten Schultern durch die Baumwipfel flogen." Doch der Schein trog, das wusste auch Marie Luise Kaschnitz. So erkannte sie, dass im Wesen der Kinder, die die Luftangriffe erlebt und die sich in den Ruinen eingerichtet hatten, etwas liege "von dem brutalen Willen zur Erhaltung der Art, der den empfindenden und leidenden Menschen so oft erschauern lässt, und in ihrer Lebensgier verkörpern sie eine ganze Welt, die nicht untergehen kann und nicht untergehen will." Mit diesem Befund wollte sie freilich nicht verurteilen, sondern vielmehr Verständnis aufbringen und darauf hinweisen, dass die Jugendlichen allesamt Opfer einer Politik seien, für die sie nichts konnten, deren hilfloser Spielball sie waren: "Ehe wir über die Kinder zu Gericht sitzen, bedenken wir doch, welches Erbe wir ihnen überlassen haben. Betrachten wir die Trümmer der Städte, die nur ein Sinnbild sind für die verschütteten und durcheinandergewühlten Schätze des Geistes, die wir nicht zu ordnen und nicht vor der Hand der Gewalt zu schützen verstanden." Das Fazit fiel düster aus. Denn Marie Luise Kaschnitz machte den Betroffenen keine Hoffnung auf eine baldige Bewältigung der traumatischen Erlebnisse in Kellern und Bunkern, in Feuerstürmen und Flächenbombardements. Gleichwohl stellte sie den Luftkriegskindern ein Ende des Alptraums in Aussicht, allerdings in unbestimmter Frist: "Und eines Tages werden auch sie zu fragen beginnen, einer den andern, heimlich und scheu."

Fast 50 Jahre mussten vergehen, bis ein Luftkriegskind namens Dieter Forte die Scheu des Fragens und Redens, natürlich auch jene des Schreibens, überwand. In einer Trilogie, die aus den Romanen "Das Muster" (1992), "Der Junge mit den blutigen Schuhen" (1995) und "In der Erinnerung" (1998) besteht, erfährt der Leser auf eindrückliche Weise, was es für ein Kind bedeutet haben muss, die lebensbedrohlichen Situationen desaströser Luftangriffe nicht nur auszuhalten, sondern auch für den jüngeren Bruder und in einigen Momenten sogar für die Mutter die Verantwortung zu übernehmen, sogar den abwesenden Vater zu ersetzen. Das alles hat Dieter Forte, Jahrgang 1935, im schwer bombardierten Düsseldorf mitmachen müssen: "Ich habe nie mehr richtig geschlafen seitdem, wache oft auf, höre Sirenen, habe auch lange gestottert, war in der ganzen Kindheit und Jugend schwerkrank, bin auch nicht mehr gesund geworden, bin eigentlich immer noch erfüllt mit Panik und Angst." Niederschreiben konnte er das alles nur mit größter Überwindung. Ein Indiz hierfür ist etwa, dass die autobiographischen Texte nicht aus der Ich-Perspektive erzählt werden. Forte verbirgt sich hinter einer Figur, die nur "der Junge" genannt wird und dem Autor eine objektivierende, zurückgesetzte Erzählerposition ermöglicht. Das ergebe, so Fortes Selbstauskunft, "einen Schwebezustand, man ist in der Person und erzählt doch von außen". Zunächst habe er, offenbar in einer Art Eruption von Erinnerungsmagma, das sich, einmal befreit, zu geschriebener Sprache verfestigt hat, etwa 900 Seiten zu Papier gebracht, die allein aus dem Gedächtnis des Luftkriegskindes hervorgingen. "Es bricht alles auf", so resümiert Forte, "plötzlich ist alles wieder da, was man als Kind erlebt und in sich verkapselt hat." Schon Marie Luise Kaschnitz ahnte 1945, dass auch bei den Kindern "die grauenvollen Bilder durch die Schleier der Netzhaut hindurch gesunken sind". Forte bestätigt die Vorhersage: "Ich habe viel gestrichen, weil ich nicht eine Aneinanderreihung von Schrecken wollte, das kann man den Menschen in einem Roman nicht zumuten. Ich habe versucht, aus einer distanzierten Nähe zu beschreiben, fast ikonenhafte Bilder zu finden, Sprachbilder, die meines Erachtens gültiger sind und dauerhafter." So wird das Gesehene präsent, aber auch das Gehörte, das Gerochene und das Geschmeckte. Das alles steht, wie Forte formuliert, für "eine Kindheitsangst, die so groß und so mächtig ist, daß man sie nie verliert".

Zu entnehmen ist dies dem so klugen wie aufschlussreichen Interview "Alles Vorherige war nur ein Umweg", das der Spiegel-Redakteur Volker Hage mit Dieter Forte im Jahr 2000 geführt hat. Hage, der sich seit dem Erscheinen von W. G. Sebalds umstrittenem Buch "Luftkrieg und Literatur" intensiv mit dieser Thematik beschäftigt, etwa eine einschlägige Fernsehdokumentation mit dem Titel "Tabu Vergeltung" initiiert und darüber hinaus Gert Ledigs Roman "Vergeltung" dem Vergessen entrissen hat, zeichnet auch für diesen Band verantwortlich. Auf knapp hundert Seiten findet der interessierte Leser neben einem instruktiven Vorwort des Herausgebers und dem schon erwähnten Interview auch manche bislang unveröffentlichte literarische und publizistische Arbeit von Dieter Forte zum Thema Luftkrieg und die Literaten. Dazu zählt auch die Besprechung von Sebalds Monographie aus dem Jahr 1999. Diesen Wiederabdruck sollte man unbedingt erneut lesen, denn erst mit der Lektüre dieser gesammelten autobiographischen und poetologischen Reflexionen kann man die Empörung verstehen, mit welcher Dieter Forte seinerzeit im "Spiegel" reagierte, als er Sebald vorwarf, die Generation der Kinder in den bombardierten Großstädten übersehen zu haben, "die sich erinnern können, wenn sie es können, wenn sie die Sprache dafür finden, und darauf muß man ein Leben lang warten. Es geht nur in einer Art Ohnmacht, in einer Art Absinken, das tief hinabführt in lang Vergessenes, das aber da ist und über die Sprache in die Erinnerung findet." In "Schweigen oder sprechen" hat sich ein Luftkriegskind für das Sprechen entschieden.

Titelbild

Dieter Forte: Schweigen oder Sprechen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
94 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3100211138

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