Wie vergesslich ist die Erinnerung?

Karl Heinz Bohrer gerät wieder einmal in Ekstase

Von Jan-Holger KirschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Holger Kirsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Literaturwissenschaftler und "Merkur"-Herausgeber Karl Heinz Bohrer ist ein erfahrener Exzentriker, dem intellektuelles Format kaum abzusprechen ist. Planvoll und gewohnheitsmäßig verstößt er gegen Normen der politischen Korrektheit; so kritisiert er seit Jahren eine angebliche "Annihilierung" nationalgeschichtlicher Perspektiven. Im Frühjahr 2001 hielt Bohrer an der Universität Heidelberg drei Vorlesungen zu Ehren Hans-Georg Gadamers, von denen die erste rasch in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht wurde und einigen Wirbel auslöste. Zwar hatte Bohrer seine Klage über einen Gedächtnisverlust der Deutschen bereits im Kontext der "Walser-Bubis-Debatte" ganz ähnlich vorgetragen, doch wurde offenbar erst nach der Heidelberger Rede erkannt, welche Provokation damit verbunden war. Die Gadamer-Vorlesungen sind nun - ergänzt um drei weitere Essays - als Buch erschienen. In einem fulminanten Verriss hat Friedrich Wilhelm Graf von "kulturpessimistischem Geraune" gesprochen und sich gegen Bohrers nationaltherapeutischen Duktus gewandt. Um eines sportlichen Meinungsstreits willen hat Joachim Landkammer demgegenüber versucht, Bohrers Positionen stark zu machen (Rezension der Vorlesungs-CDs, https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5919).

Was steht inhaltlich zur Debatte? Bohrers Ästhetik und Philosophie des Zeitbewusstseins, die um die Begriffe "Plötzlichkeit" und "Negativität" kreist, müssen Kundigere beurteilen. Aus meiner Sicht - als Historiker - sind es die beiden ersten Texte des Bandes, die besondere Aufmerksamkeit verdienen: zum einen die erwähnte Heidelberger Eröffnungsvorlesung mit dem Titel "Erinnerungslosigkeit", zum anderen der 1999 entstandene Vortrag "Historische und poetische Trauer". Schon die Titelillustration des Buchs rechtfertigt es, das Verhältnis von Erinnern und Vergessen als ein Kernthema herauszugreifen. Periit pars maxima, "der größte Teil ist verlorengegangen", lautet der Sinnspruch eines Motivs von 1610; wir erkennen, dass der dünne Flaschenhals der Memoria nur einige Tropfen dessen aufnehmen kann, was an potentiell Erinnerungswürdigem vom Himmel herabregnet.

Unter "Erinnerungslosigkeit" versteht Bohrer die "Nichtexistenz eines Verhältnisses zur geschichtlichen Ferne, das heißt zur deutschen Geschichte jenseits des Bezugsereignisses Nationalsozialismus". Die Vergangenheit werde auf die ominösen zwölf Jahre reduziert, während alles Übrige lediglich als Vor- oder Nachgeschichte interessiere. "Die drei Jahrhunderte der frühen Neuzeit zwischen Reformation und Französischer Revolution finden im deutschen Geschichtsdenken seit längerem fast nicht mehr statt. Das Mittelalter ist dem Publikum trotz Arno Borst, Arnold Esch und Heinz Thomas vollends entrückt." Um diese Kritik zu erhärten, geht Bohrer auf die Europa-Utopie, den Verfassungspatriotismus und die Holocaust-Symbolik ein. Die "historisch-kulturelle Identität" sei zugunsten eines "naiven Universalismus" aufgekündigt worden, und die Fokussierung auf den Holocaust als "negativen Gründungsmythos" schaffe statt eines Gedächtnisraums "eine neurotisch wirre Zone". Bohrer lässt keinen Zweifel daran, wer für die behaupteten Schieflagen verantwortlich sei - "eine sich sozialwissenschaftlich begreifende Historik und eine hermeneutikkritische Philosophie". Namentlich Karl Otto Apel, Jürgen Habermas, Hans Mommsen und Hans-Ulrich Wehler sei "die Emphatisierung einer historischen Nahbeziehung" zuzuschreiben.

Da eine "Erinnerung der langen Zeit" fehle, dürfe man sich nicht wundern, dass das öffentliche Gedenken auch und gerade an den Nationalsozialismus von einer permanenten Formschwäche gekennzeichnet sei. Hier schließt Bohrer nun Überlegungen zur Problematik der Trauer an. Zwischen poetischem und historischem Gedächtnis bzw. zwischen poetischer und historischer Trauer sei strikt zu trennen; die gelungenen Beispiele poetischer Trauer könne man nicht ohne weiteres in den staatlich-politischen Symbolraum überführen. Eine historische Trauer habe zwei miteinander verbundene Voraussetzungen: die Existenz eines historischen Langzeitgedächtnisses und die Verfügbarkeit ritueller Formen. Beides sei in der Bundesrepublik nicht gegeben, so dass öffentliche Trauerbekundungen "häufig auf eine Form des intellektuellen Kitsches" hinausliefen. Dabei präsentiert Bohrer eine interessante Deutung von Martin Walsers Friedenspreisrede: Walser sei nicht etwa vorzuhalten, dass er das Holocaust-Gedenken in den Hintergrund drängen wolle, sondern dass auch ihm ein breiteres Zeitbewusstsein abgehe. In Ermangelung ritueller Formen habe Walser "die Pathetisierung seiner Innerlichkeit" betrieben.

Bohrers provokative Argumentation bietet manche Anregungen, und speziell für seine Kritik einer gründungsmythischen Holocaust-Erinnerung lassen sich durchaus Belege anführen (vgl. Jan-Holger Kirsch, "Nationaler Mythos oder historische Trauer?", 2003). Gleichwohl sollte man sich von Bohrers suggestivem, mitunter schwadronierendem Stil nicht vorschnell mitreißen lassen. So wäre beispielsweise genauer zu prüfen, ob die "Amnesie des Kontinuums geschichtlicher Zeit" tatsächlich "das Bestimmungsmerkmal des bundesrepublikanischen Menschen" ausmacht. Das breite Interesse an historischen Ausstellungen tut Bohrer ohne hinreichende Begründung als "Voyeurismus" und als "postmodernes Phänomen" ab; die Vielfalt der populärwissenschaftlichen Buchproduktion ist ihm keine Erwähnung wert. Um Bohrer fundiert zu widersprechen, wären freilich breite Untersuchungen zur Empirie des Geschichtsbewusstseins vonnöten (die übrigens auch Geschichtsbilder von Immigranten einbeziehen müssten, statt einen bundesrepublikanischen Durchschnittsbürger vorauszusetzen).

Einen anderen Aspekt haben Aleida und Jan Assmann sowie Jan Philipp Reemtsma Bohrer entgegengehalten: Die Zentralität des Nationalsozialismus im deutschen und internationalen Zusammenhang ist kein Ausdruck irgendwelcher Neurosen, sondern verweist auf die besondere Virulenz und Normativität gerade dieser Vergangenheit. Die "erheblichen Einflussressourcen" linksliberaler Professoren überschätzt Bohrer in geradezu grotesker Weise; bei allem Respekt vor Habermas und Wehler ist es abwegig, politisch-kulturelle Prägungen primär auf deren "Geschichtspädagogik" zurückzuführen. Wie schon die erwähnte Titelillustration verdeutlicht, sind Gedächtnisprozesse stets Auswahlprozesse: Vergangenheitsbestände werden im öffentlichen Bewusstsein nicht gleichmäßig archiviert, sondern nach ihrer je aktuellen Bedeutsamkeit gewichtet - und dass der NS-Zeit besondere Bedeutung zukommt, bestreitet auch Bohrer nicht.

Vielleicht muss die Kritik aber noch grundsätzlicher hergeleitet werden. Hängt die Formunsicherheit des deutschen Gedenkens nicht auch mit den Eruptionen der Gegenwart und dem Verlust positiver Zukunftsutopien zusammen? Christian Meier hat in derselben Buchreihe argumentiert, dass ein epochenübergreifendes Geschichtsbewusstsein eine gewisse Konstanz der Gegenwart und Erwartbarkeit der Zukunft voraussetze ("Das Verschwinden der Gegenwart", 2001). So betrachtet wäre die von Bohrer beklagte Gedächtnisverkürzung nicht das eigentliche Problem, sondern eher ein Folgephänomen aktueller Instabilitäten. Historiker neigen leicht dazu, die aus der Vergangenheit beziehbare Orientierungskraft zu überschätzen, und Bohrer schließt sich dem an. Zu wünschen wäre vielmehr eine politische Selbstverständigung, die um historische Erbschaften weiß, die Geschichtsdiskurse aber nicht als Ausweichmanöver betreibt.

Titelbild

Karl Heinz Bohrer: Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung.
Carl Hanser Verlag, München/Wien 2003.
134 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446203206

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