Literaturwissenschaft ohne Literatur

Ulrich Horstmanns neues Buch "Ausgewiesene Experten"

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was versteht die Literaturwissenschaft unserer Tage vom Eigensinn des literarischen Kunstwerks, was versteht sie von Sprachmagie und dem Zauber der Fiktionen? So gut wie nichts, denn die betriebsamen Philologen sind längst zu "Abdeckern" der Poesie geworden. Wo einst die fruchtbaren Ländereien der literarischen Phantasie bestellt wurden, wird heute ein "Schindanger" verwaltet.

Wer als Angehöriger des Wissenschaftsbetriebs so daherredet, outet sich zwangsläufig als Nestbeschmutzer. Doch Ulrich Horstmann, Kleist-Preisträger des Jahres 1988 und Hochschullehrer für Anglistik und Amerikanistik an der Universität Gießen, weiß, wovon er spricht. In seinem neuen Buch "Ausgewiesene Experten" beschreibt er die konzentrierten Fehlentwicklungen, die er in seiner Hausdisziplin beobachten kann.

'Ausgewiesenen' Kennern der Literatur ist, wie die doppelsinnige Bezeichnung nahe legt, die Innenperspektive verschlossen. Wer mit Horstmann genauer hinsieht, der könnte bemerken, dass hinter der Fassade des hochspezialisierten Sachverstandes und der philologischen Imponierrhetorik das autistische Selbst- und Irrläufertum der Metadiskurse am Werk ist. Über ihre wahnhafte Theorieproduktion hat die Literaturtheorie den Gegenstand ihrer Bemühungen - die Literatur - nämlich längst aus dem Blick verloren.

Eine Anklage in vierter, nein in fünfter Instanz. Schon in der Studie "Parakritik und Dekonstruktion" (1983) prangert Horstmann die Entstofflichung des poetischen Textes zum einförmigen Rauschen der Zeichenströme an. Auch der Aufsatz "Der Literaturwissenschaftler als Verdächtigungsvirtuose" (1992) zeugt nicht unbedingt von kollegialer Rücksichtnahme. Das Geschäft des professionellen Textverwerters, so ist hier zu vernehmen, ist eines der übersteigerten Fürsorge, ja der zwanghaften Kontrolle und Entmündigung.

Noch eine Spur handfester geht es in Horstmanns Aphorismen zu. "Was die Zensur begonnen hat, das wird die Sekundärliteratur glücklich vollenden", heißt es in "Infernodrom" (1994). Und im phantastischen Roman "Das Glück von OmB'assa" (1985) ist der Einzug eines Forschungszweigs der Germanistik in die Leichenhalle eines Atomschutzbunkers ein untrügliches Zeichen dafür, dass diese Wissenschaft aus dem Fleische in den status cadaveris übergewechselt ist und fortan die Existenz eines akademischen Zombies zu führen gedenkt.

Ein Leichenbegängnis der anderen Art zelebrieren die postmodern monologisierenden Experten, indem sie den Autor aus der Interpretationspraxis entfernen, um den Platz des werten Verblichenen gleich anschließend wieder neu zu besetzen: durch die zur Kunstform stilisierte Wissenschaftsrhetorik selbst. Wo einst dichterische Freiheit herrschte, plappern die gelehrten Kommentatoren, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist - willkürlich, ohne Rücksicht auf Begriffsdefinitionen und Begründungen.

Wem das alles noch zu abstrakt klingt, dem erteilt Horstmann sogleich den nötigen Anschauungsunterricht: Verstiegenheit, Größenwahn, Scheuklappendenken und eine Gesprächsverweigerung gegenüber dem Künstler und seinem Werk sind heute ebenso wissenschaftsorganisatorisch verankert wie eine zur wissenschaftlichen Umweltverschmutzung tendierende Massenproduktion. Jede unausgegorene Publikation öffnet das Ventil für das nächste Stück Makulatur ein wenig mehr.

Auch wenn der "Fachmann" Gefahr läuft, zum "Flachkopf" zu werden, kann Horstmann aus seinem ernüchternden Befund noch Funken der Hoffnung schlagen. Zum Beispiel, indem er zwecks Austreibung der papiernen Theoriegespenster Auskunft bei drei Insidern (David Lodge, Terry Eagleton und Malcolm Bradbury) einholt, denen die literarische Primärerfahrung noch nicht unter den Füßen weggebrochen ist. Und die sich, nicht anders als auch ihr Gießener Fürsprecher, aufgrund ihrer Doppelbegabung unversehens zwischen den Stühlen wiederfinden.

Die rare Spezies der Schriftstellerwissenschaftler zeigt, wie die arrivierte Philologie von ihrem hohen Ross heruntersteigen und theoretisch 'absatteln' könnte. In dieser Demutshaltung erst würde sie den Kunstwerken die verdiente Hochachtung und Bewunderung zollen und sich - wer weiß - vielleicht auch der von Horstmann mit funkelndem Sprachwitz vorgetragenen Selbstironie befleißigen.

Titelbild

Ulrich Horstmann: Ausgewiesene Experten. Kunstfeindschaft in der Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
160 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3631508875
ISBN-13: 9783631508879

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