Poetik der Beschneidung oder Wie dekonstruktiv kann man Celan lesen?

Ein Blick auf neue Celan-Literatur

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum Sprachgitter vernetzte Worte und Verse, die sich an den Rand des Verstummens sprechen, dazu Wortwende auf Wortwende, die sich gegen das Verstehen des Lesers zu richten scheint. Auch mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Tod und einer kaum noch zu überschauenden Zahl an Deutungen fasziniert das einzigartige Werk des aus Czernowitz in der Bukowina stammenden Paul Celan. Viele seiner Gedichte erscheinen als schwer zugänglich, gar als vollkommen unverständlich. Nun war Celan gewiss ein diskreter Mensch, und, wie er vielen Bekannten gegenüber mitteilte, kein "Freund der Vergesellschaftung des Innenlebens". Doch erklärt das kaum die schwere Zugänglichkeit zumindest seiner späteren Gedichte, die gleichzeitig immer erahnen lassen, dass ihnen eine gewichtige Erfahrung, eine Verstörung des Schreibenden und der Schrift zugrunde liegt. In einem Gespräch mit Hugo Huppert äußerte Celan vielsagend: "Ich stehe auf einer anderen Raum- und Zeitebene als mein Leser; er kann mich nur 'entfernt' verstehen, er kann mich nicht in den Griff bekommen, immer greift er nur die Gitterstäbe zwischen uns."

Die Frage, warum Celan nur "entfernt" verstanden werden, weshalb er "Gitterstäbe", ein "Sprachgitter" also, zwischen sich und seine Leser legen wollte, beschäftigt die Celan-Forschung seit ihren Anfängen. Rasch erkannt wurde, dass sich Celan in seinen Texten um die Darstellung von Erfahrungen bemüht, die als unverarbeitet und traumatisch im Gedächtnis haften bleiben und sich durch keine Anstrengung des Bewusstseins erinnern lassen. Erkennbar wird dessen Aufgabe, literarisches Zeugnis von dem Schmerz und der gewaltigen intellektuellen wie kulturellen Krise abzulegen, die von der Shoah ausgelöst wurde. Wie aber manifestiert sich diese unaufhörliche, über drei Jahrzehnte anwesende traumatische Zeit- und Ortserfahrung in der Lyrik Celans? Wie sind 'Einschreibung' und 'Umschrift' des Erlebten in die Gedichttexte hinein vollzogen? Haben sich letztere, wie vielfach behauptet wurde, in toto vom biographisch Erlebten entfernt, müssen sie also auch getrennt davon als 'reine Kunstwerke' gelesen werden? Oder muss Celans bewusste Loslösung von seinem traditionellen kulturellen Umfeld und die Reflexion darüber, welche Voraussetzungen für eine ungebundene künstlerische Produktion gewährleistet sein müssen, auf die persönliche und historische Situation des Dichters zurückgeführt werden, wie dies jüngst Jean Bollack vorgeschlagen hat? Sollte man gar so weit gehen wie Roland Reuß in seiner kürzlich erschienenen Sammlung von drei Einzelinterpretationen Celanscher Gedichte, der er den prätentiösen Untertitel "Celan-Provokationen" eingetragen hat, wenn er behauptet: "Die Wahrnehmung des Entzugs: daß mir Wissen fehlt, ist notwendiges Motiv (Beweg-Grund) der Auseinandersetzung mit den Celanschen Gedichten. Hierdurch sind sie von vornherein Provokationen: Sie rufen das Bewußtsein eines Mangels hervor, das, läßt man es frei gewähren, einen in die Sphäre des Gedichts hinein- und zugleich in die Sprache hinauszuziehen vermag." Oder: "Die Celanschen Gedichte erbitten den Umweg über die Lektüre anderer Texte, Artikel, literarischer Quellen, man könnte auch sagen: Sie setzen die Institution Bibliothek voraus, Gänge, die gemacht werden müssen [...]."

Versucht man die schier unglaubliche Vielfalt der Beiträge zu Celans Dichtung in den letzten dreißig Jahren thematisch zu bündeln, so zeigt sich die Frage nach der Interdependenz von Hermetik und Engagement als eines der zentralen Anliegen der Forschung. In den Debatten um Celans Lyrik begegnet ein grundsätzliches Spannungsfeld zwischen autonomer Kunsterfahrung und gesellschaftlicher Wirkung, wobei die Bestimmung der außerpoetischen Bezugspunkte durch die Frage nach den Ausdrucksformen, die diese Lyrik für die geschichtliche Zäsur der Shoah findet, zusätzliches Gewicht erhält. Gilt der Begriff der Hermetik, wie Thomas Sparr detailliert gezeigt hat ("Celans Poetik des hermetischen Gedichts", Heidelberg 1989), zum einen als Schlüsselbegriff der Moderne, der Lyriker wie Paul Celan und Ingeborg Bachmann sowohl in die Linie der französischen Lyrik Charles Baudelaires und Stéphane Mallarmés einschreibt, als auch über Rilke und Trakl mit der Tradition der deutschen Romantik verbindet, so mischt sich in die Rede von der spezifischen Dunkelheit moderner Lyrik für die Beschäftigung mit Celan immer auch die Frage, inwiefern diese Finsternis, die in seinen Texten ansichtig wird, weniger sprachliches Merkmal der modernité, als vielmehr schmerzlicher Ausdruck der geschichtlichen Ereignisse und somit Wundmal der Texte ist. Entscheidender Ansatzpunkt für die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Gedichten Paul Celans sollte dementsprechend die Frage sein, wie sprachlich geformte Erinnerung an die ermordeten Juden angesichts der totalen Vernichtung möglich ist und wie man eines Ereignisses eingedenk bleiben kann, an dem das abendländische Denken selbst so entscheidend mitgewirkt und dieses Denken an seine Grenze geführt hat.

Hilfreich für den Blick auf Celans Werk ist die in der Forschungsdiskussion mittlerweile etablierte Dreiteilung der Werkphasen, die aber, wie vieles andere auch, durchaus zu hinterfragen ist. Die erste Werkphase zeichnet sich nach dem in der Celan-Philologie vorherrschenden Konsens dadurch aus, dass das Sprachverständnis in ihr von der Gewissheit geleitet wird, das sprachliche Zeichen repräsentiere etwas anderes. Auch die zunehmende Bedeutung des Schweigens ab "Von Schwelle zu Schwelle" lässt sich nach dieser Periodisierung noch in dieses Grundschema integrieren, da es sich als Übergangsstadium auf das prinzipiell erfüllte, aber abwesende Wort richtet. Die große Zäsur in der Entwicklung der Texte bildet der "Atemwende"-Band, in dem das sprachliche Zeichen nicht mehr benennt, sondern die Problematik des Bezeichnens selbst reflektiert. An diese Autoreflexion knüpft sich nach Thomas Sparr ("Zeichenreflexion in der Lyrik Paul Celans", in: "Datum und Zitat bei Paul Celan", hg. von Chaim Shoham und Bernd Witte, Bern u.a. 1987) in der dritten Werkphase die "innere Verknüpfung geschichtlicher Erfahrung mit dem Status des sprachlichen Zeichens", also die Konstellation von Geschichte und Sprache.

Mit einigem Recht hat allerdings Anja Lemke kürzlich darauf verwiesen, dass sich diese grundlegende Verknüpfung auch dort zeigen lässt, "wo den Zeichen außersprachliche Referenzpunkte eingeräumt werden, indem die Gedichte parallel zu diesen Wirklichkeitsbezügen durch graphische Zäsuren im Text nach anderen Verweisstrukturen zu suchen beginnen". In diesem Sinne bereitet schon der Band "Sprachgitter", wie anfangs bemerkt, mit der Entfaltung sprachlicher Gitterstrukturen das kristalline Moment der Sprache vor. Am deutlichsten ist der Band "Die Niemandsrose" durch eine solche syntaktische und graphische Darstellung der Zäsur-Erfahrung gekennzeichnet, da er, wie Wilfried Menninghaus bemerkt hat ("Paul Celan. Magie der Form", Frankfurt am Main 1980), als eine Art Doppelpunkt zu lesen ist, "ein interpunktorisches Signal, das die bis zu ihm gegebenen Bestimmungen versammelt und auf seiner anderen Seite [...] eine Konsequenz dieser Bestimmungen erwarten läßt." Die Figur der Unterbrechung erfährt mit dem "Atemwende"-Band dergestalt eine Erweiterung, als hier nicht nur das Verhältnis von Sprache und Schweigen, von Buchstaben und graphischen Satzzeichen in den Blick kommt, sondern verstärkt die Frage nach dem Verhältnis von Rede und Schrift. Mit einigem Recht spricht Anja Lemke im Zusammenhang der Texte Celans von einer "Poetik der Atemwende", die, so möchte ich diese These erweitern, gleichzeitig auch eine Poetik der Beschneidung ist, da sie doch wesentlich von den Wunden am Text-Körper bestimmt wird.

Der Rang von Celans Texten lässt sich sinnvoll nur ermessen, wenn man von den Binnendiskussionen der Germanistik absieht und vergleichend arbeitende Kritiker stärker als bisher zur Deutung heranzieht. So behauptet der diesjährige Börne-Preisträger George Steiner, dass "die Lyrik Paul Celans unter die größten der westlichen Literatur gerechnet werden muß, weil sie den Geltungsbereich der Lyrik erweitert hat". Jacques Derrida verleiht Celan seinen literarischen Rang mit den Worten, daß "Celan schließlich [...] alles enthält", und Harold Bloom situiert den "erstaunlichen [...] Celan" auf einer Höhe mit den größten deutschen Dichtern. Maurice Blanchot markiert Celans Position am Ende der Tradition feinsinnig, indem er ihn zu einem Dichter erklärt, der in mancher Hinsicht als letzter spricht: Er ist "le dernier à parler". Emmanuel Lévinas siedelt Celan historisch als einen der wenigen Schriftsteller an, deren Werk es uns als Zeugnisse des Endes unserer eigenen Moderne erlauben, "hinter brüchigen Aussagen zwar das Ende der einen Verstehbarkeit (Intelligibilität), aber auch den Morgen einer anderen zu erahnen". Für Lévinas führt Celan eine Rationalität herauf, die weder die nichtsemantischen Aspekte der Sprache als bedeutungslos ausschließt noch, wie so häufig in der modernen Lyrik und wie so oft in der ihr antwortenden Theorie, sie zu "Wortleichen [...] mit Etymologischem aufgebläht, des Logos entkleidet und von der Brandung der Texte getragen" degenerieren lässt. Für Paul Auster ist Celan "ein Dichter des Exils, ein Außenseiter selbst der Sprache seiner eigenen Gedichte gegenüber". Sein gesamtes Werk ist von der Frage nach den Möglichkeiten der Darstellung der Shoah geprägt. "Das Unsagbare bringt", nach Auster, "eine Poesie hervor, die ständig die Grenzen des Sagbaren zu sprengen droht". Ulrich Baer zufolge ist Celan "der letzte Dichter der Moderne, weil er seine Gedichte der diskursiven Flut der Postmoderne preisgibt, ohne dabei die deutliche auktoriale Erzählhaltung und Introspektion zu verlieren, die für die literarischen Werke der Moderne typisch sind. So gelangt er zu einer Bestimmung dessen, was das Ende der Tradition ausmacht, und markiert seine literarische Position innerhalb eines Diskurses, der die bloße Vorstellung einer einnehmbaren Position unhaltbar macht."

Ein Teil der neueren Forschungsliteratur konzentriert sich auf Celans Versuch, Zeugnis von der moralischen Verfälschung abzulegen, der die Sprache während und in Folge der Shoah zum Opfer gefallen ist. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei Celans Versuch, die Destruktion geschichtlicher, sprachlicher, psychologischer und kultureller Bezugsrahmen im Laufe der Shoah zu bezeugen. Die jeweiligen Arbeiten gelangen dabei doch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Baers Untersuchung "Traumadeutung" kreist um das für manche Leser wohl überraschende Vertrauen, das Celan in die Fähigkeit der Sprache setzt, die zerschlagene Vorstellung einer "Welt", an der alle gemeinsam teilhaben, wieder zusammenzufügen und die Möglichkeit der Zeugenschaft aufzubauen. Er versucht zu zeigen, wie Celan einer nichtauthentischen und verfälschten Sprache zum Trotz in seinem Werk den Anspruch auf die An-Rede als Möglichkeit der Zeugenschaft postuliert. Im Gegensatz zu anderen Ansätzen verdeutlicht Baer, wie sich Celans Lyrik weniger an dem Versuch abarbeitet, das "Unsagbare" auszudrücken, sondern sich eher dem Bruch in und mit der Sprache widmet, zu dem es im Verlauf der Shoah gekommen ist. Unter Rückgriff auf Gedichte Celans, die expressis verbis den materiellen Überbleibseln, den Gedenkritualen und Gedächtnisstrukturen sowie den Aspekten der Sprache gewidmet sind, zeigt sich in Baers Arbeit, dass die Stärke der rhetorisch orientierten und dekonstruktiven Interpretationen, die das Verhältnis zwischen den buchstäblichen und übertragenen Bedeutungsebenen der Sprache untersuchen, nicht nur darin liegt, Aufschluss über solche Gedichte zu geben, in denen das Funktionieren der Sprache selbst zum Thema wird. Es gelingt ihm anschaulich zu machen, wie die vagen Momente rhetorischer Unentschiedenheit mit dem Eintreten und den Wirkungen seelischer oder historischer Krisen in Verbindung gebracht werden können.

Das wesentlich Neue dieser dekonstruktiven Celan-Leküre besteht in der Herausarbeitung einer Poetik, deren Kernpunkt ein sich wechselseitig potenzierender, nicht zu schlichtender Streit zwischen Materialität und Sinn ist, wobei der Verstehensprozess immer wieder durch die Unzulänglichkeit der Materialität unterbrochen und an seine eigene Grenze geführt wird. Im Mittelpunkt dieses Wechselspiels von Verstehen und Befremden steht das, was Derrida mit dem Begriff der Quasi-Metaphorik beschrieben hat. Gemeint ist damit eine invertierte Metaphorik, der es nicht mehr darum zu tun ist, Unbekanntes durch die Übertragung eines bekannten Begriffs vertrauter zu machen, sondern umgekehrt Vertrautes durch die Umkehrbewegung unheimlicher werden zu lassen. Celans Dichtungskonzeption lässt sich weder auf eine hermeneutisch geleitete Auslegung des Sinns festschreiben noch kann sie auf der reinen Sinn-dissémination verortet werden. Vielmehr hält sich die dichterische Rede für ihn im "Zwischen" von Aussagemöglichkeit und deren Erschütterung, indem sie am begrifflichen Sprechen festhält und dieses gleichzeitig von Innen aufzubrechen sucht.

Dieses von Heidegger entlehnte 'Denken des Zwischen' hat Derrida exemplarisch im Kontext seiner 1986 veröffentlichten Arbeit über Celan ("Schibboleth - pour Paul Celan") exemplarisch gezeigt, in deren Zentrum die Reflexion über die Beobachtung steht, dass Celan seinen Gedichten sehr häufig spezifische Daten und Namen als Verweise auf die entsprechenden Situationskonstellationen ihrer Entstehung eingeschrieben hat. Die Unfähigkeit der Efraimiter, das Wort "Schibboleth" richtig auszusprechen ist nach Derrida keine mentale, die unter der aktuellen Todesbedrohung durch Training oder Konzentration, also durch Willen oder Verstand überwunden werden könnte, sondern eine körperliche, 'Verkörperung' einer Differenz, einer (Nicht-)Zugehörigkeit, Verwundung des Körpers und der Sprache sowie des Körpers durch die Sprache und damit der Beschneidung strukturanalog. Für seine eigenen Überlegungen zu Celans Datierungen eröffnet Derrida ein Register von Termini, die die Texte in ihrer Materialität, in ihrer Körperlichkeit erscheinen lassen: 'einschreiben', 'ritzen', 'vernarben', 'beschneiden'. "[U]ne seule fois: la circoncision n'a lieu qu'une fois", lautet dementsprechend der erste Satz von "Schibboleth". Im Namen eines Plädoyers für die Wiedereinschreibung der verletzten Leiblichkeit in das abendländische Denken weist Derrida darauf hin, dass an der Beschneidung wie an der Schrift der Versuch einer Spiritualisierung scheitert: Die Beschneidung des Wortes ist unleugbar ein Ereignis des Körpers. Das "beschnittene Wort" Celans ist in Derridas Lesart zunächst das lesbare Wort. 'Beschneiden' heißt markieren, (sich) unterscheiden, sprechen und auch segnen. Der beschneidende Rabbiner, der Mohel, markiert mit Hilfe der mit Schriftzeichen bedeckten Beschneidungswerkzeuge den Körper des Beschnittenen und damit diesen als Individuum, als dem jüdischen Glauben zugehörig, also als jemanden, der den Namen Gottes nicht aussprechen darf, obwohl er ihn aussprechen kann. Der Anschein des Einmaligen verliert sich jedoch, wenn man die Beschneidung als datierte versteht, das heißt als einen Jahrestag, als ein ringförmig wiederkehrendes Datum. Hier zeigt sich das zentrale Problem jeder Datierung: Zum einen kann nur datiert werden, was sich durch Einmaligkeit und Einzigartigkeit auszeichnet, zum anderen geht aber solche Einzigartigkeit, indem sie datiert wird, gerade in einer allgemeinen symbolischen Ordnung auf, schreibt sich ein in den Kreislauf des Kalenders und wird der Wiederholbarkeit anheim gegeben. Jedes Ereignis verliert im Moment seiner Datierung das, was Anlass zur Datierung gab: seine Einmaligkeit.

Tatsächlich beschreibt auch Celan selbst seine Gedichte in der Büchnerpreis-Rede "Der Meridian" (1960) als "aktualisierte Sprache" und verweist auf die ihnen eingeschriebenen Daten. Er erwähnt die prekären Beziehungen des Gedichts mit dem Anderen und die Möglichkeit, sich im Gedicht auf Um-Wegen selbst zu begegnen. Die Gewissheit eines gemeinsamen Wohnens in der Sprache ist für die Dichtung Celans verloren gegangen. Seine Gedichte sind "Bemühungen dessen, der [...] auf das unheimlichste im Freien" steht, "Richtung" und "Sinn" zu gewinnen, wie er selbst in der "Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen" formuliert. Sie sind unterwegs, ohne dabei noch einmal einen Ort zu erreichen, an dem der Mensch heimisch werden könnte. Zwar betont Celan, dass allein die Sprache "[e]rreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste [...]. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah [...]." In der hier hörbar werdenden Unterbrechung geht es um die schmerzhafte dichterische Erfahrung der Verlöschung der Einmaligkeit im Moment der Sprachwerdung. Dies geschieht nicht, indem das Gedicht davon spricht, sondern indem es sich selbst an den Rand des Verstummens bringt. Auf diese Weise versuchen Celans Texte immer wieder, den direkten sprachlichen Verweis auf den Mord an den europäischen Juden durch ein sterbendes Verstummen des Sprechens selbst zu geben und damit, worauf Werner Hamacher mehrfach hingewiesen hat, den Performanzcharakter der Sprache gegenüber dem Moment der Repräsentation in den Mittelpunkt zu rücken. Die Zäsur der Shoah wirkt insofern absolut, als an keine der alten Bedeutungen mehr angeknüpft werden kann, ohne dass dieser Verbindung der Bruch mit eingeschrieben wäre. Immer wieder wenden sich Celans Gedichte der Frage nach ihrer Sprachlichkeit zu, tasten mit "Schreibfingern" das Wesen der Sprache ab, loten aus, was sich mit ihr und an ihr zu Tage fördern lässt.

Anja Lemke hat in ihrer vergleichenden Arbeit zur poetischen und geschichtlichen Zäsur bei Heidegger und Celan hervorgehoben, dass Celan "an das poetologische Konzept der Zäsur als momenthafte Unterbrechung der Rede als die einzige noch verbleibende Darstellungsform [anknüpft], die der Erinnerung an ein nicht fixierbares Ereignis zu entsprechen vermag." Die zentralen, nicht von einander zu trennenden Fragen für eine Untersuchung des Verhältnisses von Sprache und Zeitlichkeit bei Celan sind daher die Frage nach dem Datum Auschwitz, die Frage nach der Form seiner Erinnerung und die Frage nach der Form der Darstellung dieser Erinnerung. Georg Christoph Tholen hat zu Recht bemerkt, dass die drei Passwörter "Auschwitz", "Shoah" und "Holocaust", die jeweils für das unvollständige Begreifen der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten stehen, "als je bevorzugtes Schibboleth die Grenzen des Verstehens markieren und zugleich verdecken. Denn indem mit ihnen die bleibende Unzulänglichkeit eines einmaligen Zivilisationsbruchs definiert und datiert werden soll, ist zugleich eine Aporie zwischen Datum und dem, was sich diesem entzieht, gegeben." ("Anamnesen des Undarstellbaren. Zum Widerstreit um das Vergessen(e)", in: Elisabeth Weber/ders. (Hg.): Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997, 225-238). Um exakt diese Aporie kreist auch Celans Poetik. Im Mittelpunkt steht dabei das Ringen um eine Zeitkonzeption, die Auschwitz weder als ein Datum unter vielen in das Kontinuum der Zeit einreiht und so zu einem versteh- und fixierbaren Ereignis werden lässt, noch die Shoah zu einer der Geschichte auf ewig entzogenen Leerstelle erklärt. Die Shoah ist eine Zäsur, die nicht als Bruch in der Zeit, sondern als Bruch der Zeit alle Daten durcheinander bringt und nie in einer gesicherten Vergangenheit zu fokussieren ist. Sie ist ein Bruch, der im geläufigen Schema der Zeit nicht nur nicht aufgeht, sondern dieses Schema kontinuierlicher Abläufe selbst nachhaltig immer wieder in Frage stellt, indem sie sich dem Verstehen als Aufschub einschreibt.

An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass das Thema der "Zäsur" sich im Denken vieler deutscher Juden wie Walter Benjamin, Gershom Scholem und Hannah Arendt als eine zentrale Figur ihrer Reflexion über die Moderne eingezeichnet hat. Einerseits akkulturiert und von der eigenen jüdischen Tradition bzw. von den Formen, in denen diese sich in der Gegenwart manifestierte, entfremdet, wurde ihnen andererseits die Berechtigung abgesprochen, die deutsche Kultur, in deren Sprache sie sich ausdrückten, in deren Begriffen sie dachten, als die ihre zu betrachten. Ihr Denken ist, ähnlich wie es dann auch bei Celan begegnet, durchzogen von Figuren des Schnitts, des Umwegs, der Verborgenheit, des Sprechens bei gleichzeitigem Schweigen. Die Erfahrung der Moderne steht unter dem Zeichen der Unterbrechung, des Fragments. Jene Erfahrung, die Benjamin in seinen spätesten Aufzeichnungen "Über den Begriff der Geschichte", ohne ihr künftiges Ausmaß kennen zu können, vorausahnte, steht unter dem Zeichen der disiecta membra, das im "Trauerspielbuch" analysiert wurde und dessen Figur die Wirklichkeit in den Todeslagern kennzeichnen sollte. Die Atomisierung, die Diskontinuität, die schockartige Unterbrechung und die Zersplitterung, die er in seinem späten Werk analysiert, wurden für die Opfer der planmäßigen Vernichtung zu einer ad absurdum geführten Lei(d)terfahrung. Das Darstellungsproblem ist für Celan damit ähnlich wie für Benjamin, den dieser ausführlich las und dessen Gedanken sich in viele Gedichte eingeschrieben haben, in erster Linie ein Sprachproblem. Die Sprache, mit deren Hilfe erinnert werden soll, ist in das, was geschah, durch und durch verstrickt. Sprechen "nach Auschwitz" geschieht in einer Sprache, die das Geschehen selbst in sich trägt und damit die Möglichkeit ausschließt, ein historisch Vergangenes aus der Distanz zu beschreiben. Die Sprache selbst ist Teil der diskontinuierlichen zeitlichen Struktur, die das "Datum Auschwitz" kennzeichnet.

Celans Dichtung kann somit weder als Zeugnis für die Sagbarkeit noch für die Unsagbarkeit der Shoah gelesen werden. Bekanntlich werden seine Texte im Ausschlussverfahren vorrangig nach diesen Kriterien sortiert. Weder dient ihr das Unsagbare nur als Alibi, noch vollzieht sie einen Paradigmenwechsel von der Frage nach der Darstellbarkeit der Shoah zur Frage nach den Modi der Darstellung, wie ihn neuere Gedächtnistheorien proklamieren. In Celans Texten geht es um ein Eingedenken, das im Gedicht stattfindet, aber nicht von der Sprache des Gedichts selbst thematisiert wird, gleichwohl aber auch nicht einfach auf das Undarstellbare mit bloßem Schweigen antwortet.

Erinnerung wird, worauf Anja Lemke unter Rekurs auf Jean-Luc Nancys Text "Un Souffle/Ein Hauch" (in: Nicolas Berg/Jess Jochimsen/Bernd Stiegler (Hg.): Shoah. Formen der Erinnerung: Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst, München 1996, 122-130) verweist, "erfahrbar im Hauch, in der Atemwende als Moment zwischen Systole und Diastole. In diesem Sinne handelt es sich immer um einen gegenwärtigen Moment, nicht um Repräsentation von Vergangenem." Nach Ansicht Nancys müsse man den Terminus Shoah, "dieses ungeheure, unbestimmte und zugleich deutliche Murmeln, zunächst nicht als eine Ansammlung von 'Worten über' im Dienst des Gedenkens und eines klaren Bewußtseins hören, sondern als einen Hauch, der nicht wirklich spricht, einen Hauch nach einem Wort und vor einem anderen Wort. Das Zwischen von Ausatmen und Einatmen, ein 'ersticktes Wort' (Sarah Kofman). Dieses Zwischen hängt weder vom Gedenken noch vom Vergessen ab. Es ist nicht in der Dimension unserer Geschichte. Es ist in der Gegenwart: es bestimmt unsere Gegenwart, es zeigt sie insgesamt in der Schwebe, eine lange Ohnmacht des Sinns. Shoah oder die Stillstellung der Gegenwart. Es gab eine Nachkriegszeit und dann eine Zeit nach der Nachkriegszeit, aber es gibt keine Nachshoahzeit. Sie widersetzt sich der Zeit, aber nicht wie eine Vergangenheit, die in der Erinnerung gegenwärtig ist, sondern als die Gegenwart, die weitergeht."

Übrig bleiben lediglich die Zerbrechlichkeit und eine zerbrochene Sprache. Sprechen und Erinnern sind für Celan nicht identisch. Vielmehr verliert das Datum mit dem Eintritt in die Ökonomie der Sprache seine Einmaligkeit, es wird kommunikativ austauschbar und allgemein verständlich. Das Gedicht muss, um das Datum zu bezeugen, Kunst werden. Aber diese Sprach-Kunst wendet sich immer wieder zurück auf ihren eigenen Grund, das Gedicht spricht vom Abgrund des Datums, dessen Eingedenken ins Verstummen führt. "Das Datum wird", wie Derrida in "Schibboleth" treffend bemerkt, "indem es sich einfach ereignet, durch Einschreibung eines Merkzeichens 'erinnerungshalber' das Schweigen der puren Einzigartigkeit gebrochen haben. Doch um vom Datum zu sprechen, muß man es auch löschen, es jenseits seiner Einzigartigkeit, von der es spricht, lesbar, hörbar, wahrnehmbar machen." In diesem Moment findet für Derrida die Verwundung statt. In Analogie zum jüdischen Beschneidungsritus heißt es vom Gedicht: "[e]s verwundet sich zu allererst an seinem Datum": ein Datum, das einen Einschnitt, eine Einkerbung darstellt, "welche das Gedicht wie ein Gedächtnis, wie manchmal sogar mehrere Gedächtnisse in einem, wie ein Ursprungsmerkmal einer Herkunft, einer Zeit oder eines Ortes, in seinem Leib trägt".

In Celans Texten wird nicht die Erinnerung selbst sichtbar, sondern die Versehrtheit der Erinnerung. Die Wieder-Holung der Vergangenheit in der Gegenwart des Textes gelingt nicht. Die Dichtung kann den vergangenen Mord an über 6 Millionen Menschen nicht durch Wiederholung vergegenwärtigen oder durch die Stiftung eines Erinnerungsraumes, der zum Textgrab wird, und auf diese Weise den unbestatteten Toten eine letzte Ruhestätte einräumt, aufarbeiten. Uta Werners ("Textgräber. Paul Celans geologische Lyrik", München 1998) durchaus interessante These von einer "nachträglichen Bestattung der Toten durch einen zweiten Tod im Gedicht", auf die sich die vorgenannten Annahmen beziehen, übersieht die Unmöglichkeit, Singularität durch Wiederholung zurückzugeben. Es ist diese Unmöglichkeit, die Celans Lyrik zu veranschaulichen sucht.

Was bei Celan in der Zäsur der Sprache sichtbar wird, ist nicht der vergangene Mord, sondern der elementare Riss, der dem Erinnern durch die Vernichtung der Sprache eingeschrieben ist. So fügt der kurze Augenblick der Zäsur im Rhythmus der Sprache - die Atemwende - dem Gedicht selbst eine Wunde zu und führt es an den Abgrund seiner selbst. Nicht die Toten sterben einen zweiten Tod, sondern die Sprache selbst wird mit ihrem eigenen Abgrund konfrontiert. Bezeichnenderweise heißt es in einer Notiz Celans vom 26. März 1969: "La poésie ne s'impose plus, elle s'expose." Sehr scharfsinnig hat dies Paul Auster bemerkt: "Celans Gedichte widersetzen sich einer direkten Exegese. Sie verlaufen nicht linear, bewegen sich nicht von Wort zu Wort, von Punkt A nach Punkt B. Eher stellen sie sich dem Leser als kompliziertes Netzwerk semantischer Finessen dar. Mehrsprachige Wortspiele, versteckte persönliche Anspielungen, absichtlich falsche Zitate, bizarre Neologismen: Das ist der Stoff, der Celans Gedichte zusammenhält. [...] Es gibt in seinem Werk nichts Zufälliges, nichts Überflüssiges, das den Blick auf das Gedicht verstellen könnte. Man liest gewissermaßen mit der Haut, wie durch Osmose, unbewusst resorbiert man Nuancen, Zwischentöne, syntaktische Sprünge, die für sich selbst ebenso sehr den Sinn des Gedichtes ausmachen wie sein analytischer Inhalt."

Um ein vorläufiges Fazit zu ziehen, kann man sagen, dass die frühe Lyrik Celans noch weitgehend dem Gestus der Wirklichkeitssetzung durch Sprache folgt, doch schon mit dem Band "Sprachgitter", spätestens jedoch mit "Atemwende" hat Celan seine Texte unter die radikale Bedingung der Sprach-Verzeitlichung gesetzt, die stabile Bedeutungen auflöst und das Subjekt dezentriert. Ansichtig werden dekonstruktive Textbewegungen, die in den vorhergehenden Gedichtbänden nur vereinzelt auftauchen, nun aber zum zentralen Ausdrucksmittel werden wie Doppelpunkte, Gedankenstriche und Leerzeilen. Die Darstellung der Zäsur führt zu einer Erschütterung der eingefahrenen Sprachbedeutung durch Verschiebung, Destruktion, Wunden am Text-Körper und Verstummen, um den einstmals gesicherten semantischen Gehalt der Worte in Frage zu stellen. "Statt Sprache zu haben wird das Subjekt Sprache sein", wie Werner Hamacher in einem der wichtigsten Beiträge zur Frage nach einer möglichen dekonstruktiven Lesart der Texte Celans ("Die Sekunde der Inversion. Bewegungen einer Figur durch Celans Gedichte", in: "Paul Celan", hg. von Werner Hamacher und Winfried Menninghaus, Frankfurt am Main 1988, 81-126) treffend festgestellt hat.


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Hans-Michael Speier: Celan-Jahrbuch 7.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1999.
362 Seiten, 85,90 EUR.
ISBN-10: 3825306402

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Jean Bollack: Paul Celan. Poetik der Fremdheit.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2000.
416 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3552049762

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Marko Pajević: Zur Poetik Paul Celans: Gedicht und Mensch - die Arbeit am Sinn.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2000.
310 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-10: 3825310507

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Astrid Poppenhusen: Durchkreuzung der Tropen. Paul Celans "Die Niemandsrose" im Lichte der traditionellen Metaphorologie und ihrer Dekonstruktion.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2001.
308 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-10: 3825312836

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Roland Reuß: Im Zeithof. Celan-Provokationen.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
182 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3878777779

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Theo Buck: Celan und Frankreich.
Rimbaud Verlagsgesellschaft, Oldenburg 2002.
112 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3890867405

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Anja Lemke: Konstellation ohne Sterne. Zur poetischen und geschichtlichen Zäsur bei Martin Heidegger und Paul Celan.
Wilhelm Fink Verlag, München 2002.
596 Seiten, 60,00 EUR.
ISBN-10: 3770537556

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Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Paul Celan. Text und Kritik, Heft 53/54.
edition text & kritik, München 2002.
185 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-10: 3883777056
ISBN-13: 9783883777054

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Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan.
Herausgegeben von Peter Engelmann.
Übersetzt aus dem Französischen von Wolfgang S. Baur.
Passagen Verlag, Wien 2002.
150 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3851655443

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Ulrich Baer: Traumadeutung. Die Erfahrung der Moderne bei Charles Baudelaire.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Johanna Bodenstab.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
300 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-10: 3518122533
ISBN-13: 9783518122532

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Hans-Michael Speier (Hg.): Celan- Jahrbuch 8.
Herausgegeben von Hans-Michael Speier.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2003.
440 Seiten, 85,00 EUR.
ISBN-10: 3825312518

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