Verantwortungsbewusster Sozialismus

Oskar Negts Epochengespräch zwischen Kant und Marx

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Als Kant in seiner Vorrede zur 'Anthropologie in pragmatischer Absicht' das Reisen als bestimmende Form für die Erweiterung der Weltkenntnis feierte, musste er [...] feststellen, daß er selbst die Stadt Königsberg nie verlassen hat". In den vier Zeilen, die das Zitat im Original umfasst, hat ihr Verfasser ebenso viele Fehler untergebracht: Zum ersten hat Kant kein Werk mit dem genannten Titel geschrieben, sondern eine "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht"; zum zweiten hat er dort nicht konstatiert, dass er Königsberg nie verlassen hat, was nicht nur in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem seinem Hauptwerk vorangestellten Motto "De nobis ipsis silemus" stehen würde; sondern das - zum Dritten - zudem eine biographisch unzutreffende Feststellung wäre. Weit herumgekommen ist Kant zwar tatsächlich nicht, aber Königsberg verlassen hat er verschiedentlich sehr wohl. Und viertens schließlich kann man kaum sagen, dass Kant an besagter Stelle das Reisen als bestimmende Form der Erweiterung der Weltkenntnis feiert. Vielmehr sagt er nichts weiter, als dass Reisen zu den "Mitteln der Erweiterung der Anthropologie im Umfange" gehört.

Die eingangs zitierte fehlerträchtige Stelle findet sich in dem "Epochengespräch", das Oskar Negt in seiner am 10. 7. 2002 gehaltenen Abschiedsvorlesung zwischen Kant und Marx inszeniert und nun in erweiterter Form publiziert hat. Dass Negt darauf verzichtet, Zitate auszuweisen, um so deren Überprüfung zu erschweren, wird man ihm nicht unterstellen wollen. Jedenfalls aber wartet das schmale Bändchen noch mit einer Reihe weiterer unzutreffender Tatsachenbehauptungen über Kant und sein Werk auf. So findet sich Kants berühmte Frage "Was ist der Mensch?" nicht nur, wie Negt meint, in den Vorlesungen zur Metaphysik, sondern etwa auch in Kants vielzitiertem Brief vom 4. 5. 1793 an Carl Friedrich Stäudlin, in dem Kant die bekannte Frage-Trias der "reinen Philosophie" "1) Was kann ich wissen? (Metaphysik) 2) Was soll ich tun? (Moral) 3) Was darf ich hoffen? (Religion)" in der besagten vierten Frage kulminieren lässt, die er der Anthropologie zurechnet. Unzutreffend ist auch Negts Behauptung, Kant sei von "orthodoxen Christen verschiedener Konfession" als "Alleszermalmer" bezeichnet worden, da er Gott "auf ein bloßes Postulat der reinen Vernunft heruntergebracht" habe. Tatsächlich geht das Wort auf den Aufklärer Moses Mendelssohn zurück, der bekanntlich Jude war, und damit nicht etwa die Zerstörung des Gottesglaubens beklagte, sondern die der Metaphysik begrüßte.

Und Schillers Spott "Gerne dien' ich den Freunden, doch thu' ich es leider mit Neigung, und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin", bezieht sich erkennbar nicht, wie Negt behauptet, auf den Beginn der "Grundlegung der Metaphysik der Sitten", wo Kant schreibt: "Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als ein guter Wille", sondern auf Kants Unterscheidung zwischen bloß moralgemäßem Handeln, das aus Neigung entspringt und dem Handeln aus Moral, also aus Achtung vor dem Moralischen Gesetz.

Was nun den Inhalt der "Kritik der reinen Vernunft" betrifft, so scheint uns Negt einen stark marxistisch durchwirkten Kant zu zeigen. Etwa wenn er feststellt, es gehe dem Transzendentalphilosophen darum, "[d]em überwältigenden Druck im Reich der bloßen Mittel, das durch die sichtbare Ausweitung der Warenproduktion, des universalisierten Tausches die Menschen immer stärker in den Bann schlägt, durch Gesetzte zu begegnen, die auf Freiheit beruhen, aber dieselbe Verbindlichkeit haben, wie Naturgesetze." Wieder falsch? Nein, das ist nun wirklich echter Kant! Und hier setzt Negts Epochengespräch zwischen Kant und Marx ein, wobei ersterer "die Selbstidealisierung der bürgerlichen Welt" verkörpert, und letzterer für deren "radikale Kritik" steht. Es führt den Autor schließlich dazu, im Kategorischen Imperativ einen antikapitalistischen Impuls zu entdecken. "Wie wäre es", fragt er rhetorisch, "wenn Unternehmer oder Manager [...] einmal darüber nachdenken würden, ob sie ihre Arbeiter nicht bloß als Mittel benutzen, um Profit zu machen". Kants "immense Bedeutung" für den Sozialismus sieht Negt denn auch in dessen Ethik. Denn als Marx glaubte, er könne seine Kapitalismuskritik ganz ohne ethische Anleihen allein mit Hilfe des Wissenschaftlichen Sozialismus begründen, sei er einem "grandiose[n] Selbstmissverständnis" aufgesessen, das "leninistisch zurechtgestutzt" später "fatale Folgen" gehabt habe. Kants Ethik eröffnet Negt zufolge demgegenüber die Möglichkeit eines "von Verantwortungsbewußtsein bestimmten Sozialismus". Angesichts des - Negt sicherlich bekannten - Umstandes, dass Kant gerade keine Verantwortungsethik, sondern eine Gesinnungsethik entwickelt hat, mag das überraschen. Doch hat Negt einige gute Gründe für seine Verbindung von Kantischer Ethik und verantwortungsbewusstem Sozialismus auf seiner Seite. Gemeint ist nämlich offenbar ein Sozialismus neukantianischer Prägung im Sinne von "[Hermann] Cohens sozialistischer Rekonstruktion der Ethik Kants" (Harry van der Linden), wie er in Abgrenzung von verantwortungslosem Sowjetmarxismus "exemplarisch" (Helmut Holzhey) von Eduard Bernstein vollzogen wurde.

Titelbild

Oskar Negt: Kant und Marx. Ein Epochengespräch.
Steidl Verlag, Göttingen 2003.
96 Seiten,
ISBN-10: 3882438975

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