Attentate gegen Ihre Gemütsruhe
Helmut Stalder untersucht das journalistische Werk Siegfried Kracauers
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSo ein Blatt wie die "Frankfurter Zeitung" wird es wohl nie wieder geben. Auf dem Höhepunkt der damals auch international renommiertesten deutschen Tageszeitung, in den zwanziger Jahren, hatte sie das aufregendste, das inhaltlich wie formal progressivste Feuilleton der Republik. Auch das politisierteste: Programmatisch verkündete 1929 Ressortleiter Benno Reifenberg: "Das Feuilleton ist der fortlaufende Kommentar zur Politik." Für Joseph Roth, "FZ"-Korrespondent in Paris, war das Feuilleton kein unterhaltsamer Appendix "unterm Strich", sondern der wichtigste Teil des Blattes: "Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Das ist die Aufgabe einer großen Zeitung." Kein Wunder, dass Hitler diese von "jüdischen Zeitungsvipern" gemachte "Schandzeitung", die in bester liberal-demokratischer Tradition die Republik verteidigte, so verhasst war.
Für ihre Redakteure, Autoren und Kritiker wie Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Bernard von Brentano, Ernst Bloch, Friedrich Sieburg und Theodor W. Adorno war Journalismus ein Instrument der soziologischen Gesellschaftsanalyse. Ein Mittel, um die Menschen zu einem tieferen Wirklichkeitsverständnis und veränderten Handeln zu bewegen. Rücksicht aufs Publikum oder die angeschlagene wirtschaftliche Lage der Zeitung wurde nicht genommen; über-, nicht unterfordern, lautete die Devise. Als 1929, nach dem Abdruck von Döblins "Berlin Alexanderplatz", Leser gegen derlei geschmacklose Literatur protestierten, antwortete Kracauer im Namen der Redaktion stolz: "Was wir wollen, ist: Ihnen die Augen öffnen über gesellschaftliche Zustände und menschliche Verhältnisse, von denen Sie morgens am liebsten nichts wissen möchten. An diesen Attentaten gegen Ihre Gemütsruhe ist uns allerdings viel gelegen."
Auf welch intellektuellem wie formal-ästhetischem Niveau hier zum Nutzen des Lesers, um im Bild zu bleiben, "Terrorismus" im Medium der Zeitung betrieben wurde, macht eine jüngst erschienene Züricher Dissertation deutlich. Sie widmet sich dem journalistischen Werk Kracauers, der heute fast nur noch als Filmtheoretiker bekannt ist. Mit ihr hat Helmut Stalder eine profunde, kenntnisreiche Studie vorgelegt, die die Geschichte und Bedeutung der "Frankfurter Zeitung" ebenso nachzeichnet wie die philosophischen Ursprünge des Kulturphilosophen, Soziologen, Kritikers und Literaten. Der Hauptteil ist freilich seinen journalistischen Techniken, Methoden, Themen und Intentionen gewidmet. Keine rein textimmanente Analyse glücklicherweise, sondern eine spannend zu lesende Arbeit aus dem Grenzbereich von Philosophie, Journalismus und Literatur, die Kracauers Werk in den Kontext seines Resonanzraumes, der "Frankfurter Zeitung", stellt und auch ausführlich die von ihm maßgeblich mitgestaltete Feuilletonkonzeption rekonstruiert.
Für Kracauer, den intellektuell Unbehausten, metaphysisch Obdachlosen, der sich stets weigerte, vor dem Relativismus und Nihilismus der Zeit unters schützende Dach einer allein seligmachenden Theorie oder Philosophie zu flüchten, waren seine journalistischen Arbeiten "soziologische Expeditionen": Ausgerüstet mit basalen phänomenologischen, psychoanalytischen und marxistischen Einsichten und Methoden, zog er aus in die Randbezirke und Grenzbereiche der Großstädte, die für ihn unerforschte gesellschaftliche Kontinente waren. Die nach dem Ersten Weltkrieg entstandene moderne Massengesellschaft mit ihrem sich "amerikanisierenden" Kulturbetrieb war sein Afrika. Er flanierte, stets offen für den Erkenntnis bescherenden "Choc", über Frankfurter und Berliner Plätze, erkundete "Übergangsstätten", "Passagen" wie Wärmehallen, Bahnhöfe oder Jahrmärkte, betrachtete Schaufenster, Litfasssäulen und erforschte die Fluchtorte der Zerstreuung der neuen Angestelltenkultur wie Pianobars, Tanzlokale oder Sportveranstaltungen.
Einer jener rasenden Reporter der Neuen Sachlichkeit war Kracauer freilich nicht; seine Texte waren nie bloße mimetische Widerspiegelungen der Realität. "Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion", das wusste er lange vor den Radikalen Konstruktivisten. Deshalb ging er mit seinem Material montierend um, verwendete die Methoden der Verdichtung und Verschiebung, surrealistische Überblendungen, Gleichnisse, Symbole und Allegorien. Er entwickelte eine ganz eigene zeitungsspezifische Form der philosophischen Kurzprosa, das, wie Stalder sie nennt, "Denkbild". In ihm analysierte er scheinbar ephemere Oberflächenphänomene, die er als quasi unbewusste Symptome gesellschaftlicher Tiefenstrukturen verstand. Gezielte gesellschaftliche Experimente, wie Brecht sie forderte, lehnte er dagegen ab: "Die Wirklichkeit ist, vor allem im gegenwärtigen Stadium, schon so provozierend, daß man sie nicht erst noch durch 'Experimente' zu provozieren braucht." Solche Experimente waren eben keine authentischen Äußerungen der Gesellschaft mehr; nur als "unbewusste", vom erkennenden Subjekt unbeeinflusste galten sie ihm als aufschlussreich. "Die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft."
Ein Berliner Vergnügungslokal reüssiert mit Telefonapparaten auf den Tischen und einer Rohrpostanlage - Kracauer führt den Erfolg auf die Zerstreuung suchenden Lohnangestellten zurück, die hier glücklich am Feierabend den Chef spielen, indem sie sich zumindest der Symbolfunktion jener Statusobjekte bedienen können. Tanzrevue und Fließbandarbeit werden in "Das Ornament der Masse" (nach Stalder eine "Keimzelle" der späteren "Dialektik der Aufklärung" Horkheimers und Adornos) überblendet. Die perfekt synchronisierten Bewegungen der Revuegirls sind "Taylorismus der Arme und Beine", ihr ewiges "Öl des Lächelns" ist das "fleischgewordene Gleichnis" vom "Funktionieren einer blühenden Wirtschaft". Namenloses Grauen ruft dagegen der Anblick einer Berliner Bahnhofsunterführung hervor. Zwei Bilder prallen im heimatlosen Flaneur aufeinander, das der festen funktionalen Ordnung toter Materie und das der vereinzelten, nach Sinn suchenden Menschen, "unzusammenhängende Splitter eines Ganzen".
Kracauer, der 1933 nach Paris und später nach Amerika flüchten musste, war von der Wirkung seiner Texte überzeugt. Er sah sich als intellektuellen Anarchisten, dessen Artikel "zusammengenommen [...] einen ganz hübschen destruktiven Effekt" ergäben, der "die gewohnten Alltagsbilder" sprengt, "damit aus den Stücken Bilder montiert werden können, denen Bedeutung innewohnt", und damit die entstehenden "Löcher und Spalten" einen unverstellten Blick auf die Realität ermöglichen.
Heute hat jene Gesellschaft, deren Anfänge Kracauer analysierte, ihr Reifestadium erreicht, scheint die Zerstreuungskultur allgegenwärtig zu sein. Nicht zuletzt in dem unter der wirtschaftlichen Not schmelzenden Feuilleton selbst, das auf den nächsten Aufmerksamkeit bescherenden Literaturstreit oder Skandal hofft. Heute, daran erinnert Stalders Studie nachdrücklich, wären Journalisten vom Schlage Siegfried Kracauers mit seinem "Blick, der durchdringt, wo andere nur berichten" (Ernst Bloch), nötiger denn je. Aber wer weiß, vielleicht gibt es sie ja noch. Nur sitzen sie inzwischen längst auf der Straße.
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