Körper von Gewicht

Eine Leipziger Forschungsgruppe untersucht die Literalität der Leiblichkeit

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit Jean Strarobinski seine "Kleine Geschichte des Körpergefühls" vorgelegt hat, ist der Körperbezug zu einer Konstanten innerhalb der Gesellschafts- und Kulturwissenschaften geworden. Es gibt nicht nur umfangreiche Studien zu Körperbild und Körperdiskurs, Körperidentitäten, Körpererfahrung und Körperpolitik. Man hat regelrecht den Eindruck, als würde inzwischen die gesamte Kulturgeschichte systematisch nach Haut und Haaren, Fleisch und Blut durchsucht und umgedeutet. Mal mit literaturwissenschaftlichem oder ethnologischem, mal mit psychologischem oder feministischem Erkenntnisinteresse.

Der ungebändigte Körper ist im Laufe der Zivilisationsgeschichte immer weiter ins Abseits gedrängt worden. Er galt jahrhundertelang als Austragungsort der Sünde und wurde so weit gezügelt und durchgeistigt, bis von ihm nichts als eine neutrale Hülle für die Seele übrig war. Heute, da die Transzendenz allenthalben an Bedeutung verliert, schließen Natur und Kultur einander nicht länger aus. Das Interesse am Körper ist rehabilitiert und die wechselseitige Durchdringung von Körper und Kultur gilt als zeitgemäßer Forschungsgegenstand. Im Zuge der wieder entdeckten Leiblichkeit wagt nun eine interdisziplinäre Forschungsgruppe aus Leipzig eine Bestandsaufnahme: Das ehrgeizige Ziel des von Angelika Corbineau-Hoffmann und Pascal Nicklas herausgegebenen Bandes "Körper/Sprache" ist ein Tableau der vielfältigen Ausdrucksformen von Körperlichkeit in Kunst und Wissenschaft.

Haben die Gender Studies auf die Ursprünge des Schreibens hingewiesen und Körperlichkeit als soziales und kulturelles Phänomen interpretiert, so geht es hier vor allem um die künstlerische "Verwendung" des Körpers, um die Verlebendigung des Kunstwerks. Die Schwierigkeit, die sich aus einem derart quer durch die Forschungsbereiche angelegten Konzept ergibt, ist offensichtlich: Zwar gelingt es den versammelten Beiträgen fraglos, das Körperverständnis in ihren jeweiligen Kontexten exemplarisch zu deuten. Was jedoch fehlt, ist ein umfassendes Resümee, eine fruchtbare Diskussion, welche die gewonnenen Erkenntnisse zu einer neuen Theorie der Körperlichkeit amalgamiert.

So stehen die einzelnen Aufsätze mehr oder minder unvermittelt nebeneinander: Der Archäologe Hans-Ulrich Cain berichtet über den Herakles Farnese, der Gräzist Kurt Sier erläutert die Zeichenhaftigkeit des Körpers in der griechischen Philosophie, die Medizinerin Ortrun Riha untersucht psychosomatische Dichtung, der Germanist Ludwig Stockinger nähert sich Leib, Sprache und Subjekt unter der Folter. Sein Fachkollege Hans-Christian von Herrmann analysiert die Entliterarisierung des Theaters um 1900, der Kunsthistoriker Frank Zöllner betrachtet das Ende des Körpers bei Paul Klee, wohingegen sich der Theologe Wolfgang Ratzmann Gedanken über die Rolle der Leiblichkeit im evangelischen Gottesdienst macht. Die Geschlechterforscherin Ilse Nagelschmidt weiht uns in die Leiden der Brigitte Reimann ein, während der Germanist Thomas Naumann Körperlichkeit in Texten der Prenzlauer-Berg-Literatur aufspürt. Allesamt gewichtige, anregende Einzelstudien von ausgewiesenen Experten in den jeweiligen Disziplinen. Auch zeigt der vorliegende Sammelband gewiss auf, wie breit der Bedeutungshorizont in den Kulturwissenschaften gefasst werden muss. Doch gerade wenn der Schwerpunkt von den alten Griechen bis zum Prenzlauer Berg reicht, wünscht sich der Leser eine Art hermeneutischer Führung: Kann die Kunst wirklich Aufschluss über das Körpergefühl geben? Und in welchen formal-ästhetischen Konstellationen? Was ergibt sich aus den vielfältigen Bedeutungsdimensionen, aus der symbolhaften Aufladung des Körperlichen in der Literatur? Und wie ist es um die historische Situiertheit von Körperkonzepten bestellt? Diese und andere zentralen Fragestellungen können im vorliegenden Band, trotz Pascal Nicklas' ausführlicher Studie über literarische Repräsentationen des Körpergefühls, allenfalls gestreift werden. Zudem ist hier eine entscheidende Debatte ausgeblendet - die der wechselseitigen Abgrenzung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften.

Wie das Vorwort der Herausgeber erläutert, herrschen am Schnittpunkt der Hemisphären Natur und Kultur nicht nur Verständigungsprobleme, sondern bisweilen gar regelrechte Sprachverwirrungen. Obwohl der Körper selbst nichts anderes ist als ein Produkt der Kultur, verträgt sich das körperliche Idiom der Natur nicht mit der über-individuellen Begriffssprache. Erstaunlich, aber vielleicht auch ein Stück weit symptomatisch, dass in einem interdisziplinären Forschungsband zum Thema Körper dessen biologische Situierung überhaupt keine Rolle spielt. Die Naturwissenschaften sind hier auf eine Weise ausgeschlossen, als wolle man sich von ihrem positivistischen, kausalen Denken nun endlich befreien.

Korrespondieren hingegen Körper und künstlerische Ausdrucksform, dann lässt sich das Thema sowohl symbolisch als auch authentisch erfahren. In ihrem anregenden Beitrag "Text-Corpus und Körperdiskurs" verbindet Angelika Corbineau-Hoffmann die Körperlichkeit mit der spezifischen Beschaffenheit des Text-Körpers. Anhand des Verhältnisses von Leiblichkeit und Sprache in Oscar Wildes "Salomé" zeigt sie die parallel verlaufende Prozesse der Semiotisierung des Körpers und der Somatisierung der Kunst auf. So wird auf eindrucksvolle Weise deutlich, dass nicht nur Körperliches Sprache gewinnen, sondern auch die Sprache selbst Körperlichkeit erlangen kann.

Titelbild

Angelika Corbineau-Hoffmann / Pascal Nicklas (Hg.): Körper / Sprache. Ausdrucksformen der Leiblichkeit in Kunst und Wissenschaft.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2002.
324 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-10: 3487116820

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