Ein historisierendes Erwachsenenverwirrspiel

Peter O. Chotjewitz' neuer Roman "Machiavellis letzter Brief"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kurz vor seinem Tod soll er seiner Tochter noch etwas diktiert haben, doch fast hundertfünfzig Jahre wusste niemand etwas von Machiavellis letztem Brief. Nun, im Jahre 1664, wird der Text des berüchtigten Autors der Bibliothek in Wolfenbüttel zum Kauf angeboten. Die Handschrift zu prüfen und im Echtheitsfall zu erwerben, schickt der regierende Fürst den jungen Gelehrten und Schriftsteller Christian Weise aus Zittau los.

Beinahe zwanzig Jahre begleitete Peter O. Chotjewitz das Machiavelli-Projekt, aus dem nun sein neuer Roman wurde. Zweifellos verdient der geniale Florentiner die lange Zeit der Recherche, der kritischen Lektüre und der Sonderung von Tatsachen und Rezeptionsmüll, lebt Niccolò Machiavelli (1469-1527) doch heute als Schlagwort fast ohne Bezug zum Werk. Kaum jemandem außerhalb der eifrigen Universitäten scheint es nötig, wenigstens das Hundert-Seiten-Opusculum "De principatibus" ("Der Fürst"), mit dem sich Machiavelli ewigen Weltruhm einhandelte, zu studieren; glaubt man doch alles über die Lehre des zynischen Machttheoretikers und Vaters der Politologie zu wissen. Die Strahlkraft seines Namens und die wenig bekannten biografischen Umstände in und um das Florenz der Renaissance machen ihn also zum idealen Sujet für einen historischen Roman.

Der Leser darf denn auch Figuren vom Schlage der kunstsinnigen, brutalen Medici oder des terroristischen Mönchs Savonarola erwarten, politische Intrigen, diplomatische Verwicklungen, Folter, Sex, Mord, prächtige Paläste, liebliche Landschaften und herrliche Kunstwerke. Doch Chotjewitz wollte keine Romanbiografie Machiavellis schreiben. Das Phänomen des Nachlebens, die Frage nach Original und Fälschung reizte ihn mindestens so sehr wie die faszinierende Konstellation in Florenz um 1500 und was davon nach eineinhalb bzw. nach fünf Jahrhunderten übriggeblieben ist. Damit entgeht er den typischen Problemen historischer Romane, deren Verfasser die Distanz zur Vergangenheit bagatellisieren.

Chotjewitz schickt den Leser mit Christian Weise (1642-1708) auf die Suche nach Machiavellis Hinterlassenschaft. Die anstrengende, ereignisreiche Italienische Reise bietet dem Autor Gelegenheit, das Nachkriegsdeutschland zu schildern, in dem sich die Spuren des über dreißigjährigen Wütens erstaunlich schnell verwischt haben. Weise kommt schließlich bei der Urenkelin Ippolita Machiavelli an und wird dort in eine Intrige verwickelt, aus der er mit Müh und Not, doch ohne Manuskript und ohne das Geld für den Kauf entkommen kann.

Der Roman besteht aus sieben Büchern, zumeist Briefen, Tagebuchauszügen oder Berichten Weises für den Fürsten von Braunschweig-Wolfenbüttel, welche - ohne chronologische Strenge - die Reise bis und die Ereignisse in und nahe Florenz schildern. Daneben gibt es längere Abschriften von Machiavellis letztem Brief und aus seinem Tagebuch, die sich allerdings im Verlauf der Handlung als Fälschungen im Auftrag der Urenkelin herausstellen. Im letzten Teil, der nur scheinbar die faktische Basis des Romans erläutert, jedoch Tatsachen und Fiktionen mischt, meldet sich Chotjewitz selbst zu Wort und zweifelt an, ob Weise die geschilderten Erlebnisse im Hause Ippolitas und in Florenz wirklich erlebt, ob er sie sich nicht ausgedacht habe, um zu vertuschen, dass er das Geld für das Manuskript in Italien durchgebracht habe. Chotjewitz rekurriert damit auf sich selbst, hat er doch Weises Reise erfunden (welcher in diesen Jahren in Leipzig lehrte) und die 1664 seit 51 Jahren tote Urenkelin Ippolita extra für den Roman auferstehen lassen.

Um noch deutlicher zu machen, wie sehr ihn das Spiel mit Fiktion und Authentizität reizt, verwendet Chotjewitz eine - zuweilen etwas lieblos wirkende - historisierende Orthografie und Schreibweise, die wenig bis nichts mit Weises hypotaktischem Stil zwischen Spätbarock und Frühaufklärung zu tun haben. Ähnlich steht es um die inkonsequenten typografischen Spielereien (neben Doppelstrich-Wörtern auch wirre Versali- und Kursivierungen). Zusätzlich verfremdet er die Weise-Passagen mit einer Fülle von Anachronismen. Dazu gehören Zitate aus Rilkes oder Goethes Werken (natürlich auch der "Italienischen Reise"), ja Weise trifft sogar Goethe. Aktuelle Erscheinungen von Massentourismus über Devotionalienkitsch bis Geflügelpest fügt der Autor in Weises Reflexionen und Beobachtungen ein, außerdem Film- und Romantitel (von Spengler, Grass, Walser u. a.), moderne Begriffe wie "Soldatenrat", "Holding" oder "Wolken=Kratzer". Als intimer Kenner von Florenz beschreibt Chotjewitz schließlich ausführlich die Stadt und ihre Kunstwerke, mit Machiavellis und Weises Augen gesehen. So gehen Renaissance, Spätbarock und Gegenwart, Romanhandlung und Reiseliteratur merkwürdig ineinander über. Eine Gedächtnisauffrischung für den Autor ist hier angebracht, schreibt er doch am Ende des Romans, er habe den Namen der Verfasserin eines Literatur-Reiseführers von Florenz vergessen. Es ist Heide Hollmer, deren Machiavelli-Kapitel für jeden, der vor Ort die Stätten des Romans aufsuchen will, sehr zu empfehlen ist.

Weil es bei Chotjewitz überall etwas zu entdecken gibt - Kafkas "Urteil", Newtons Fallgesetze, die Montagsdemos - macht die Lektüre Spaß, aber immer wieder strengt die Überfülle der Verweise, Gags und Anachronismen auch an. Genauso übrigens wie der unentschiedene Ton, die kitschnahen Beschreibungen und das zu häufig flachsinnige Philosophieren, das Chotjewitz Weise unterschiebt.

Am stärksten gelangen ihm die Szenen auf dem Erbgut der Machiavellis, wo die Enkelin mit dem Nachlass des berühmten Vorfahren umgeht wie Elisabeth Förster-Nietzsche mit dem ihres Bruders. Hier gönnt Chotjewitz seinem Helden eine schöne Affäre mit einem Buckligen, und wenig später erlebt er in Florenz, wenn man ihm denn glauben darf, eine Räuberpistole à la Schillers "Geisterseher". Die im Buch ausgebreiteten Machiavelli-Tagebücher und der titelgebende Brief überzeugen dagegen nicht. Da hilft es auch wenig, wenn im Roman auf die Fälschung hingewiesen wird, hätte ein Fälscher doch zuvörderst den genialen Stil Machiavellis imitiert. Stattdessen liest man über die komplexe Materie der Machtwechsel in Florenz und Italien in umgangssprachlichen Wendungen wie: "Ich hab' mein Amt, juchhu!" Solche und andere Formulierungen nimmt man weder Machiavelli noch Weise ab. Beide Schriftsteller missbraucht ihr Autor auch zu oft als Funktionsfiguren, die wider die Wahrscheinlichkeit in ihren Briefen oder Tagebüchern nur zu dem Zwecke Sachverhalte erläutern, um den Romanleser zu informieren.

Nicht ganz verständlich ist schließlich, warum Chotjewitz nicht mehr auf die tatsächlichen historischen Verbindungen zwischen Weise und Machiavelli einging, unterschied sich die Rezeption des Zittauers doch von der durchweg plumpen Verdammung Machiavellis durch die Zeitgenossen. Weise plädierte in seiner späteren Funktion als Rektor des Zittauer Gymnasiums, ähnlich wie der Florentiner, dafür, dass man als Mensch ein Recht auf Bildung habe, pragmatisch leben, improvisieren und flexibel sein, die moralische Integrität jedoch möglichst bewahren müsse. In einem seiner bekanntesten Stücke, "Bäurischer Machiavellus" (1679), den Chotjewitz nur kurz erwähnt, zeigt Weise, dass er erkannt hatte, wie schon zu seiner Zeit "Der Fürst" und sein Verfasser zu einem Vorwand wurden, unmoralisch zu handeln. In Weises Drama spricht Machiavelli als Angeklagter im Jenseits von seiner eigentlichen damaligen Absicht, dass er "durch eine Satyrische Schrifft die gewöhnliche Tyranney der Italiänischen Fürsten vor der gantzen Welt prostituiren wolte" und dass nicht er daran schuld sei, wenn "Der Fürst" missbraucht werde: "... die Boßheit der verkehrten Welt wird meinem geringen Buche zugeschrieben: allein ich will die Klage leicht von mir weltzen / wenn ich spreche die Bauern sind nach dem Innhalt der eingegebenen Klage die ärgsten Machiavellisten / und ich will mich hoch verwetten / daß kein eintziger meine Schrifft gelesen und dergestalt den Nahmen eines würcklichen Machiavellisten verdienet hat."

Aller Einrede zum Trotz bleibt "Machiavellis letzter Brief" ein Roman, gedanken- und ereignisreich, dessen besonderer Vorzug darin besteht, im Spiel mit Fiktion und Fakten, mit Vergangenheiten und Gegenwart, mit Politik und Literatur die Lust auf die Originalschriften Machiavellis wie Weises angefacht zu haben.

Titelbild

Peter O. Chotjewitz: Machiavellis letzter Brief. Roman.
Europa Verlag, Berlin 2003.
447 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3203760193

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