Winnetous Blutsbruder
Karl May in neuer Sekundärliteratur
Von Manu Slutzky
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"May, Carl Friedrich, vormal. Schullehrer aus Ernstthal [...], welcher sich wegen zahlreicher Verbrechen in Mittweida in Untersuchung befindet, ist heute auf dem Transport von St. Egydien nach Bräunsdorf unter Zerbrechung der Fessel entsprungen. Es ist Alles zu seiner Wiedererlangung aufzubieten. M. ist 72 Zoll lang, schlank, hat längl. Gesicht und Nase, dunkelblondes nach hinten gekämmtes Haar, schwachen Bartwuchs (trägt auch falsche Bärte), graue Augen, starren stechenden Blick, krumme Beine. Er spricht langsam, in gewählten Ausdrücken, verzieht beim Reden den Mund, hat auch häufig ein Lächeln um den Mund. Er ist mit Tripperkrankheit behaftet."
Der Steckbrief aus dem "Königlich Sächsischen Gendarmerieblatt" vom 27. Juli 1869 darf als trauriger Höhepunkt der Ganovenkarriere Karl Mays gelesen werden. Sein Bräunsdorfer Pferdediebstahl und andere leichtsinnige Gaunereien und Hochstapeleien hatten dem Wiederholungstäter nicht nur einen übertrieben schlechten Leumund eingetragen, sondern auch eine Zuchthausstrafe von vier Jahren, die der spätere Autor als Züchtling No. 402 in der Strafanstalt Waldheim verbüßen musste.
Wie soll man es darstellen, das Leben Karl Mays, das selber einem Abenteuer glich? Karl-May-Biographien haben einen nicht ganz leichten Spagat zu vollziehen: sie müssen für die jungen und 'jugendlichen' unter ihren sachkundigen Lesern ebenso lesbar und lehrreich sein wie für die erwachsenen. Der zweiten Karl-May-Biographie aus Christian Heermanns Feder, "Winnetous Blutsbruder", gelingt diese Übung vorzüglich, wenngleich das Buch eher für die 'reifere Jugend' gearbeitet ist und auch dem wissenschaftlichen Diskurs genügen möchte: Das Werk ist auf dem neuesten Forschungsstand und kombiniert Biographie und Werkgeschichte. In der Darstellung des May'schen Œuvres, seiner Entwicklung, Wirkung und Rezeption argumentiert es knapp und überzeugend, und wenn es noch seine Quellen und Zitate nachgewiesen hätte, könnte es beinahe den Forschungsbericht ersetzen: Bis Mitte 2002, bis zum Erscheinungsjahr also, hat Heermann alles Wissens- und Erwähnenswerte aus den Ergebnissen der Karl-May-Philologie ausgewertet. Der jüngste Fund, im Juni vergangenen Jahres publiziert, betrifft einen amerikanischen Raubdruck der beiden Erzählungen "Die Rose von Kahira" und "Die Goliaths" (einer Titelvariante des "Waldkönigs").
Überhaupt ist erstaunlich, was die Karl-May-Forschung 90 Jahre nach dem Tod des Autors immer noch zutage fördert:
- Erst 1999 publizierte Hans-Dieter Steinmetz ("Karl May auf sächsischen Pfaden") Auszüge der "Untersuchungsacten wider den ehemaligen Schullehrer Karl Friedrich May aus Ernstthal"; diese Unterlagen galten als vernichtet, seitdem Klara May, die zweite Ehefrau des Schriftstellers, einen entsprechenden Antrag 1922 durchgesetzt hatte. Woldemar Lippert jedoch, damals Direktor des Sächsischen Hauptstaatsarchivs in Dresden, erkannte "den historischen Wert der Dokumente und ließ vor dem Autodafé wichtige Teile der Akten abschreiben".
- Im Jahr 2001 analysierte Gabriele Wolff Mays Bekenntnisbuch "Mein Leben und Streben" (heute Band 34 der Gesammelten Werke, "Ich") in bezug auf seinen Wahrheitsgehalt.
- 1994 wurden in einem "Lectionsbuch" der Solbrigschen Fabrikschule die frühesten Belege für Karl Mays Alltagshandschrift entdeckt.
- Und 1992 ermittelte Wolfgang Hallmann die standesamtlichen Unterlagen zu Mays erster Ehe mit Emma Pollmer: Im Februar 1880 wurde das Aufgebot bestellt, im August 1880 traten Karl und Emma im Ernstthaler Rathaus vor den Standesbeamten.
Andere Funde liegen länger zurück:
- Im Sächsischen Landesarchiv Dresden wurden, 80 Jahre nach Mays Verurteilung wegen Amtsanmaßung, die Prozessunterlagen des Königlichen Gerichtsamts Stollberg aufgespürt und dokumentiert: May erhielt damals drei Wochen Gefängnis, sein Gnadengesuch wurde ebenso abgewiesen wie seine neuerlich Petition, "ihm wenigstens die Schmach einer Strafverbüßung in der Heimatstadt zu ersparen".
Karl May wuchs als fünftes Kind eines Webergesellen in ärmlichsten Verhältnissen auf. Die Ehe der Eltern funktionierte, aber von den neun Geschwistern, die dem kleinen Karl noch folgten, starben fünf innerhalb der ersten Wochen bzw. Monate nach der Geburt. Von den 14 Geschwistern erreichten neun nicht einmal das zweite Lebensjahr. Selbst Karl war ein kränkliches Kind, und wenn es stimmt, was er in seiner Autobiographie schreibt, so verlor er als Kleinkind das Augenlicht und erlangte es erst vier Jahre später wieder.
Seit wenigen Jahren erst wird diese Erblindung von Fachgelehrten neuerlich diskutiert; mittelbar beigetragen hat dazu der Sportmediziner Johannes Zeilinger, der 1999 mit einer Arbeit über "Karl Mays Psychopathologie und die Bedeutung der Medizin in seinem Orientzyklus" promoviert wurde. Sein Buch ("Autor in Fabula") unternimmt eine Neuinterpretation der May'schen Psychopathographie nach aktuellen Diagnosekriterien, diskutiert aber auch die historischen Erklärungsversuche für Mays Kreativität, die manche, darunter der Autor, tatsächlich auf eine zeitweilige Erblindung in der Kindheit zurückführen wollen bzw. wollten: Da die äußere Welt dem Knaben verschlossen war, so die Lesart, musste er sich eine "Innenwelt" erschließen. Da in dieser Innenwelt Dichtung und Wahrheit nicht streng zu trennen waren, wird jeder Biograph zum psychologischen Fährtensucher, und je besser seine Kenntnis des Œuvres, so die Vermutung, desto ertragreicher und zuverlässiger wird seine Spurenlese ausfallen.
Christian Heermann ist ein verlässlicher Kenner des Werks und der Werkgeschichte. Schon in seiner erste Karl-May-Biographie, "Der Mann, der Old Shatterhand war" (1988), orientierte er sich an dem durchaus spannenden und bewegenden Lebenslauf des sächsischen Volksschriftstellers, ohne einem naiven Biographismus zu huldigen. So sollte der Titel seines ersten biographischen Versuchs, vom Verlag der Nation in grünes Leinen gewandet, ursprünglich "Der Mann, der sich Old Shatterhand nannte" lauten.
Bei Heermann sind in den Hauptstrang der Lebensgeschichte immer auch thematische und systematische Leitfäden eingewirkt, die etwa den literaturgeschichtlich wichtigen Aspekt der Kolportage betreffen oder - am Beispiel der späten Reiseaktivitäten - das kulturelle Wissen der Zeitgenossen über das "Morgenland" oder die Indianer Nordamerikas rekonstruieren. So ist hier zu erfahren, wie deutscher Kolonialbesitz in China zum Auslöser für Mays Orienterzählung "Et in terra pax" wurde oder wie der Autor über die Juden dachte. Auch die Entstehung der "Gesammelten Werke" aus den Zeitschriftenveröffentlichungen zeichnet der Biograph überzeugend nach, seine Kenntnisse des zeitgenössischen Buch- und Zeitschriftenmarktes wirken profund, seine Verlegerporträts (Friedrich Ernst Fehsenfeld, Heinrich Gotthold Münchmeyer) sind sachkundig und ausgewogen: Während Münchmeyer seinen Autor mittels nicht abgerechneter 'Plusauflagen' beschiss, kam Fehsenfeld ihm, zumal er viel an ihm verdiente, bei den Honoraren auch anteilig entgegen.
Wer von Karl Mays Werk handelt, darf die zahlreichen Bearbeitungen von berufener und unberufener Seite nicht verschweigen. Diese Bearbeitungen waren, der Karl May Verlag weiß es aus eigener Erfahrung, immer schon ein Stein des Anstoßes. Folgt man der kürzlich veröffentlichten Aufsatzsammlung "Der geschliffene Diamant" (der Titel spielt auf das bearbeitete Œuvre des Meisters an), so gibt es überhaupt keinen 'originalen' Karl May, da vermutlich schon in die Erstveröffentlichungen eingegriffen worden ist. Als gesichert kann dies für Mays Arbeiten im Münchmeyer Verlag gelten, da Bearbeitungen im Kolportagebuchhandel üblich waren, doch da Mays Handschriften überwiegend verloren sind, ist für einen Großteil seines Werkes letzte Textsicherheit weder für die Erstdrucke noch für die Buchausgaben zu erlangen.
Die Geschichte der Bearbeitungen ist eine Geschichte der Bearbeiter und verlagshistorisch höchst aufschlußreich. Der Zeitgeschmack und die politischen Verhältnisse haben sich hier ebenso ausgewirkt wie philologischer Sachverstand und persönliche Idiosynkrasien:
"Im 'Pflaumendieb' habe ich die Geschichte gestrichen, wie Leopold die Butterfrau, die vom Fürsten für das Butterstückchen drei Pfennige über dem Marktpreis verlangt, von seinen Köchen mit ihren Butterklößen bombardieren lässt. Die Szene [...] erscheint mir roh und eines Fürsten unwürdig."
Adolf Volck aus Dessau, der unter anderem den "Alten Dessauer" zu bearbeiten hatte und dem Karl May Verlag seine Kenntnisse als Kartograf zur Verfügung stellte, erweist sich hier als Philister erster Ordnung, und wenn derlei Eingriffe in die Textgestalt möglich waren, war der Korrumpierung des May'schen Werkes Tür und Tor geöffnet. Viele Eingriffe waren eher schlecht als recht motiviert, andere unverzeilich, etwa als völkisch-nationalistisch verirrte Karl-May-Freunde daran gingen, seinem Werk zeittypische Tendenzen beizumischen. Deutlich wird dies bei den Bearbeitungen Otto Eickes, der 1918 zum Karl May Verlag stieß, im 'Dritten Reich' parteipolitisch aktiv wurde und seiner Ideologie die Zügel schießen ließ, als er die Bände 33 ("Winnetous Erben") und 65 ("Der Fremde aus Indien") bearbeitete. Eicke, ein guter Kenner der Kolportage, überzeichnete Mays Judenfiguren in Band 74 ("Der verlorene Sohn") mit klischeehaft negativen Eigenschaften. Im Gegenzug wurde Mays Pazifismus abgemildert, wohl auch deshalb, weil seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten immer wieder ein Verbot des pazifistischen Spätwerks gefordert worden war: "NS-Zensurbehörden verlangten die Streichung aller Stellen, die irgendeine 'Rassenmischung' befürworteten." So wurde im ersten Kapitel von "Winnetous Erben" eine Passage entfernt, in der May die Vereinigung aller Völker und Nationen, aller Stämme und Rassen forderte.
Wie die Beiträger des Sammelbandes "Der geschliffene Diamant" zur Entstehung und Bearbeitung der "Gesammelten Werke" ausführen, gehörte es zeitweilig zu den Strategien des Karl May Verlages, mehrbändige Werke zu straffen, sachliche Fehler auszubessern oder Sprachpuristen, die sich gegen übermäßigen Fremdwortgebrauch wandten, zu befrieden. Zudem wurden die Textausgaben für die Jugend bearbeitet, indem man aus Mays Kolportageromanen das Anzügliche (resp. "Eingriffe von fremder Hand") entfernte und sie wieder marktfähig machte.
Nicht alle Bearbeitungen gerieten demnach zum Nachteil des May'schen Œuvres. So gilt der Umbau von Band 46 als besonderer Glücksfall: "Die Juweleninsel", als Doppelroman zusammen mit "Scepter und Hammer" in der Zeitschrift "Für alle Welt!" 1879/1880 und 1880-1882 erschienen, dürfte vor ihrer Bearbeitung durch Franz Kandolf eine der "schwächsten Schöpfungen" (Christoph F. Lorenz) des Dichters gewesen sein. Doch gelang es dem mit der Textrevision betrauten Lektor durch vergleichsweise maßvolle Veränderungen, Streichungen ebenso wie Hinzufügungen, die Romanhandlung logisch zu entwickeln und mit dem zweiten Roman "Scepter und Hammer" sinnvoll zu verknüpfen: Die ersten drei Kapitel der Radebeuler (und heutigen Bamberger) Ausgabe folgen inzwischen der Urfassung; das vierte und das elfte Kapitel wurden vollständig neu geschrieben, und das siebte ist zur Hälfte neu, um die indischen bzw. amerikanischen Abenteuer in die übrige Romanhandlung einzubinden; die beiden weiteren Kapitel sind diskrete Varianten der früheren Kapitel vier und fünf; die Gestalt des Bowie-Paters wurde, als unerheblich für die Ereignisfolge der "Juweleninsel", ausgekoppelt und gesondert veröffentlicht; und die Schlusskapitel wurden umsichtig bearbeitet, so daß Mays Stärken in der Substanz erhalten blieben, die erzählerischen Schwächen aber verschwanden oder abgemildert wurden. Kandolf ging es also darum, dem zeitweilig offensichtlich überforderten Autor beizuspringen und dasjenige nachzuholen, was jeder halbwegs kompetente Lektor in einem akzeptablen Literaturverlag vor der Drucklegung der Manuskripte ohnehin geleistet hätte.
"Der geschliffene Diamant" enthält einige faksimilierte Seiten aus der Bearbeitungspraxis der Lektoren, darunter solche aus der Werkstatt Hans Wollschlägers, der als Bearbeiter der Münchmeyer-Romane mit Streichungen und Hinzufügungen offenbar keineswegs zimperlich gewesen ist. Hinter all diesen Eingriffen stehen nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen, denn nur als Bearbeitungen sind Mays Texte noch urheberrechtlich geschützt. Sie bilden folglich die Grundlage für die Sonderstellung des Bamberger Karl May Verlages und die Basis seines wirtschaftlichen Erfolges. Mays Œuvre selbst ist im Prinzip längst gemeinfrei - und kann von jedermann nachgedruckt werden.
Das Bamberger Unternehmen wußte seine Bearbeitungen gegen Nachdrucker zu schützen und obsiegte in den vergangenen zwei Jahrzehnten in etlichen juristischen Auseinandersetzungen. "Der geschliffene Diamant" ist insofern auch als Verteidigungsschrift zu lesen, geht es den Beiträgern doch darum, die Verdienste des Hauses um Mays Œuvre herauszuarbeiten. Auch Christian Heermann spricht pro domo, wenn er schreibt: "Jedwede Diskussion wäre hinfällig, wenn es die bearbeiteten Leseausgaben nicht gäbe, denn dann gäbe es heute wohl auch keinen Karl May mehr." Sang Heermann in seiner ersten Karl-May-Biographie von 1988 noch das Hohelied des Sozialismus, so singt er jetzt das des Karl May Verlages.
Karl Mays Leben war spannend und voller Spannungen, und Heermann versteht es, diese Spannung für sein eigenes Buch nutzbar zu machen. Die durchschnittliche Kundenbewertung bei Amazon.de gibt Heermanns Biographie derzeit fünf von fünf möglichen Sternen. Weshalb man nicht mehr als vier geben sollte, hat einen einfachen Grund: Der Band verzichtet auf Fußnoten, auf eine Bibliographie der ausgewerteten Sekundärliteratur und weist insofern seine Quellen nur unzureichend nach. Nicht dass Zweifel bestünden an der Verlässlichkeit des Zitierten, aber für den interessierten Leser, der mit dieser Biographie arbeiten und sich selbst ein Bild von der Quellenlage machen möchte, reichen die von Heermann gegebenen Hinweise oft nicht aus, die Literatur und die entsprechenden Zitate aufzufinden.
Sein Buch ist gleichwohl empfehlenswert: Es will May nicht heroisieren und Mays Gegner nicht verteufeln; es stellt dar, wie verletzend der Schriftsteller handeln konnte (etwa gegenüber Marie Hannes), und ist weder blind für die erzählerischen Schwächen des Œuvres noch unempfindlich für die geschickten Kunstgriffe des Autodidakten, der sich exotische Welten erschloß, obgleich er aus den heimischen Gefilden nie herausgekommen war. Heermann zeigt auf, woher May sein landeskundliches Wissen bezog, nämlich teils aus einschlägigen Zeitschriften, teils aus Lexika, und vielfach auch aus Romanlektüren (James Fenimore Cooper, Friedrich Gerstäcker oder Eugene Sue), die er umsichtig für seine Zwecke auswertete.
Der Karl May Verlag hat in den letzten Jahren seine Anstrengungen intensiviert, seine Markführerschaft auf dem Feld der Karl-May-Literatur auszubauen. Etliche Konkurrenten wurden aus dem Feld geschlagen oder konnten sich am Markt nicht durchsetzen. Neben dem Ausbau der "Gesammelten Werke" (mittlerweile 84 Bände) gehört es heute zu seiner Strategie, Monographien, Reprints, Sonder- und Großbände aufzulegen, ferner Biographien, Bibliographien, Lexika und themenbezogene Aufsatzbände zu planen und zu realisieren. Ein Karl-May-Atlas von Hans-Henning Gerlach vollzieht die (fiktiven) Reisewege von Karl Mays Figuren nach, ein Filmbuch von Michael Petzel präsentiert Bilder aus der "deutschen Traumfabrik", Hartmut Kühne und Christoph F. Lorenz legen Karl Mays Kompositionen vor, Thomas Jeier bietet "Reisereportagen aus dem Wilden Westen". Marie Versini, "Winnetous Schwester", veröffentlicht ihre Autobiographie.
Andere Verlage bemühen sich, hier Schritt zu halten, indem sie andere Medien nutzen oder sich ganz auf Sekundärliteratur verlegen. Eine Auswertung des Wortschatzes von Karl May hat Joachim Dietze übernommen. Sein Frequenzwörterbuch zum "Waldröschen" (1882-1884) und zu "Ardistan und Dschinnistan" (1907-1909), einem frühen und einem späten Werk also, basiert auf den reprographischen Nachdrucken des Olms Verlages bzw. den "Freiburger Erstausgaben" im Karl May Verlag. Es sortiert die Lemmata nach dem Alphabet, nach dem rückläufigen Alphabet und nach ihrer Frequenz und kommt zu dem Befund, daß die stilistische Nachlässigkeit des Vielschreibers Karl May auch zu häufigen Lexemwiederholungen geführt hat. Dies gilt insbesondere für attributiv gebrauchte Adjektive und für Mays stereotype Phraseologie. Im Dialog dominiert die direkte Wechselrede, da auf diese Weise Spannung produziert wird und sich die Akteure griffig charakterisieren lassen. Im Alterswerk werden die Syntagmen komplexer und häufen sich die Tropen, insbesondere die Metaphern. Die Frequenzstatistik ergibt für "Waldröschen" etwa 7.000 Lemmata und für "Ardistan und Dschinnistan" etwa 7.500 Lemmata. Im Vergleich: Friedrich Wilhelm Hackländers Roman "Der Augenblick des Glücks" enthält 6.238 Lemmata, "Der Nachsommer" von Adalbert Stifter 10.396 Lemmata. Dietze läßt offen, ob es möglich ist, auf dieser Basis eine Aussage über den Stilisten Karl May zu treffen, doch stellt er eine Fülle von Mängeln fest, die für dessen Sprachgebrauch kennzeichnend sind, darunter der fehlerhafte Gebrauch des Numerus beim Prädikat, wodurch des öfteren die Kongruenz gestört wird. Positiv hingegen fällt auf, daß May ausgefallene, ungewöhnliche, unfeste verbale Fügungen bevorzugt, die seinem Stil etwas Dynamisches geben, zum Beispiel "vorwärtsschreien" (durch Schreien sich Bahn brechen), entgegendonnern (mit lauter Stimme) und zurückscherzen.
Die Vorteile eines modernen Speichermediums demonstriert eindrucksvoll die CD-ROM von Directmedia, die umgerechnet 70.000 Seiten Karl May im Originaltext für die Benutzung am Rechner aufbereitet. Sie bleibt nur insofern hinter den technischen Möglichkeiten zurück, als sie eigentlich alle historischen Karl-May-Ausgaben mit sämtlichen Textvarianten hätte berücksichtigen müssen. Mit Systemen wie "Tustep", dem Tübinger System von Textverarbeitungsprogrammen, hätte man dann die Varianten quasi auf einen Blick sichtbar machen können. Doch einer solchen Aufgabe steht offenbar - noch - das Urheberrecht im Wege, und so müssen wir uns mit dem begnügen, was wir haben, und das ist für einen Autor wie Karl May doch beachtlich.
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