Was geht noch rein?

"Richtig fressen", ein Kochbuch der anderen Art

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irgendwo in Nikolai Gogols Klassiker "Die toten Seelen" berichtet der Erzähler von einem ausschweifenden Gelage. Speise um Speise wird herangetragen, bis die Tischplatte sich durchbiegt. Als der übersättigte Gast vor einem mächtigen Fleischstück kapitulieren will, erzählt der Gastgeber - selbst ein großer Fresser vor dem Herrn - die Fabel vom Stadthauptmann.

In einer Kirche sei es einmal so voll gewesen, dass kein einziger Besucher mehr eingelassen wurde. Nicht einmal einen Apfel habe man in diesem Gedränge fallen lassen können. Als jedoch der Stadthauptmann Einlass begehrte, habe sich auf wundersame Weise doch noch ein Plätzchen gefunden. Der Gast solle also die vor ihm liegende Keule einfach als eine Art Stadthauptmann betrachten! Und siehe da, auf einmal passt noch etwas hinein, wo zuvor nichts mehr hineinging.

Warum erzähle ich das? Vielleicht, weil das literarisch verbürgte Vertrauen in die eigene Unmäßigkeit in Zeiten kollektiver Auszehrung endlich wieder Mut macht. Mut, ein fingerdick mit Käse belegtes Baguette der Länge nach zu vertilgen. Oder eine doppelte Portion Pasta mit einem ganzen Liter Rotwein hinunterzuspülen. Seelischen Beistand für all diejenigen, denen das nächtliche Durchstöbern des Kühlschranks (idealerweise bis in die doppelte Isolierschicht hinein angefüllt mit allerlei Köstlichkeiten!) nicht unbekannt ist, gibt es jetzt auch aus anderer Richtung.

"Richtig fressen" - das sind Rezepte, Geschichten und Anleitungen zum Sattwerden. Zusammengetragen und aufgeschrieben von zwei passionierten, ach was, begnadeten Essern. Immer nach dem Motto: Wenn's gut ist, kann's auch viel sein. Richtig satt werden bedeutet für den Schauspieler Jürgen Tarrach und seinen Freund und Co-Autor Klaus Ortner, mit Genuss satt zu werden. Und der kann überall stattfinden: Im Vier-Sterne-Lokal oder zu Hause am Küchentisch. Mit einem Teller Pasta auf dem Balkon ebenso wie mit einem Tafelspitz beim Leichenschmaus. Anlässe zum hemmungslosen Schlemmen gibt es glücklicherweise immer.

Die versammelten Rezepte reichen von einer mit Zwiebeln verfeinerten Tiefkühlpizza über stark duftendes Knoblauchbrot bis zu exklusivem Lammsaté. Essen, das erfährt man in den flankierenden Geschichten, Szenen und Erinnerungen immer wieder, ist eine elementare Form des Widerstands gegen allerlei Unbill. Wer kennt nicht die Rückzugsgefechte in Richtung Dönerstand oder Currywurstbude während partnerschaftlicher Zwistigkeiten? Auch nach einer missglückten Theatervorstellung kann FDH angezeigt sein - Friss Dich Hoch! Und was könnte während eines quälend langweiligen Telefonats beglückender sein als eine "milchig säuerliche Joghurtbegegnung"?

Besonders der beleibte Tarrach ersteht aus diesem Buch mit Leib und Seele wieder auf. Wonach es so einem Pfundskerl doch alles verlangt! In schneller Folge verabreicht er sich Obst, Geleefrüchte, mit Kirschmarzipan gefüllte Rebertörtchen, Weißbrot, Kochschinken, Essiggürkchen. Dann sieht man ihn in eine Cremeschnitte beißen oder im Morgengrauen eine kräftige Hühnerbrühe einnehmen. In der Küche graben sich seine Zähne in eine Scheibe fette Wurst. Tarrach beherrscht die Klaviatur der Geschmäcker, der subtilen Übergänge von fettig zu würzig, bitter, trocken, süß, kakaoig, beinahe virtuos. Wer meint, dass sich angesichts dieser fast schon musikalischen Geschmacks-Variationen ein Völlegefühl einstellen würde, der irrt.

Im Gegenteil: Schon bei der Lektüre läuft einem das Wasser im Munde zusammen. Das Buch entfaltet seine Appetit anregende Wirkung auf jeder Seite und bleibt dabei immer angenehm unprätentiös: "Dazu trinken wir einen Chianti aus dem Aldi oder aus dem Tetrapack." In weiser Voraussicht gelten die Mengenangaben gleich für zwei Personen. Es lebe die Extra-Portion! Ein Hoch auf die drei warmen Mahlzeiten nach dem Zubettgehen! Wirklicher Lebenshunger ist eben nicht zu stillen, und jeder echte Fresser weiß: Nach der Mahlzeit ist vor der Mahlzeit.

Titelbild

Jürgen Tarrach: Richtig fressen. Rezepte zum Sattwerden.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.
224 Seiten, 9,80 EUR.
ISBN-10: 3462032542

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