"Das dünne Buch" und der elektronische Ozean
Handbuch deutschsprachiger Literaturzeitschriften
Von Klaus-Peter Möller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHandbuch deutschsprachiger Literaturzeitschriften
Es gibt Bibliographien, die sind vergnüglicher zu lesen als mancher Roman, etwa die Stinde-Bibliographie von Ulrich Goerdten, in der Titel aufgereiht sind wie "Zwei Veteranen des Bierstaates" oder "Aus dem naturphilosophischen Irrenhause". Auch das "Handbuch deutschsprachiger Literaturzeitschriften", von Dorothée Leidig und Jürgen Bacia herausgegeben, hat schon an sich einen hohen Unterhaltungswert. Zusammengetragen sind 450 Zeitschriftentitel aus dem deutschsprachigen Raum, darunter nicht wenige Kuriositäten - ich nenne hier nur D wie "Die Damenschießgruppe" und S wie "Der Salmoxisbote". Das "Handbuch" enthält Angaben über Erscheinungsweise und -zeitraum, Umfang, Auflage, aber auch über den Preis sowie Kontaktadressen. Es ist damit ein nützliches Nachschlagewerk für alle, die sich mit Literaturzeitschriften beschäftigen wollen, ob nun rezeptiv oder als hoffnungsvolle Autoren, die ein Podium für ihre Texte suchen. Erfasst wurden Zeitschriften, in denen regelmäßig neue literarische Texte publiziert werden, mithin ein Medium, das die Literaturwissenschaft nur ausnahmsweise überhaupt wahrnimmt.
Auf einer eigenen Internet-Seite http://www.autorenverlag-matern.de/ stellt sich der AutorenVerlag MATERN (Duisburg), in dem das Buch erschienen ist, vor als ein Kleinverlag mit dem Wahlspruch: "Der Verlag arbeitet ohne Kapital, aber manchmal mit Kapitälchen." Hier wurde offenbar aus einer Not eine Philosophie gemacht. Man kann sie sogar nachlesen in einem Buch, das sich dem Phänomen des Kleinverlags zuwendet: "Über die Kunst, klein zu verlegen", 2001 in erweiterter zweiter Auflage im AutorenVerlag Matern erschienen (1. Aufl. 1997). Die Verfasser sind, wie im Impressum dieses Kochbuchs für Kleinverlage ( Rezept: On demand!) nachzulesen, "Gründungsinitiatoren" des Verlags, der "einer Initiative von Autoren mit künstlerischen und analytischen Interessen" entsprang, "die ein geeignetes verlegerisches Umfeld suchten" (Internet-Seite). "Analytisch" ist offenbar eine Lieblingsvokabel der beteiligten Enthusiasten. Sie findet sich auch wieder im Namen einer dem Verlag assoziierten Institution, dem 1994 gegründeten Institut sprachanalytisches Forum. "Das Institut Sprachanalytisches Forum ist analytischer Philosophie verpflichtet. Die Betreiber und Mitglieder sind ein kleiner Kreis, noch relativ jung, und sie sehen mit der Initiative eine Chance, auch in Deutschland unabhängig von bürokratischen Hemmnissen wissenschaftlich philosophische Forschung vorantreiben zu können. [-] Analytische Philosophie ist keine Ausprägung einer Schule, ist keine Lehre, keine Methode, sondern primär ein Forum. Ein hervorstechendes allgemeines Merkmal ist die stets auch linguistisch geführte Differenzierung und Abwägung von Argumenten." (http://www.du.shuttle.de/autorenverlag/index.htm).
Ein Kapitälchen ist das "Handbuch deutschsprachiger Literaturzeitschriften" zweifellos. Ob auch ein Kapital daraus wird? So ein Handbuch entsteht nicht auf einen Wurf, und auch dieses Projekt hat eine Vorgeschichte. Es handelt sich um eine neue Ausgabe des 1997 vom "Sprachanalytischen Forum" herausgegebenen "Handbuchs deutschsprachiger Literaturzeitschriften", das gleichfalls im Verlag von Reinhard Matern erschien und in dem auf 227 Seiten 150 Zeitschriften erfasst sind. Als Redakteurin bzw. Autorin dieses Bandes wird Caroline Hartge genannt. Im Impressum der neuen Ausgabe heißt es: "Die Arbeit am Handbuch haben Dorothée Leidig und Jürgen Bacia vom Archiv für alternatives Schrifttum in NW e. V. (afas) übernommen, in der Nachfolge von Caroline Hartge [...] Da die Redaktion gewechselt und diese auch die Herausgabe des Buchs übernommen hat, war es notwendig, den Titel neu zu melden und unter einer anderen ISBN weiterzuführen."
Das 1985 in Duisburg gegründete "Archiv für Alternatives Schrifttum (afas)", das von einem gemeinnützigen Verein getragen wird, sammelt gedruckte Materialien von selbständigen Gruppen und Initiativen in Nordrhein-Westfalen, darüber hinaus aber auch von Bürgerinitiativen und Basisbewegungen in der DDR sowie Musikalia. Schwerpunkt der Tätigkeit ist die Neue Soziale Bewegung. "Viele Initiativen aus dem breiten Spektrum der linken und alternativen Bewegungen können aufgrund ihrer Struktur oder Kurzlebigkeit keine guten Hüter ihrer eigenen Geschichte sein. Spätestens wenn sie umziehen oder ihre Büros auflösen, geraten ihre Sammlungen in größte Gefahr, häufig landen sie in Altpapiercontainern. Das afas versucht, diesem Mißstand abzuhelfen. Mit dem Sammeln und Erschließen der [...] Materialien wird ein Stück dezentraler, lokaler und alternativer Geschichte bewahrt und öffentlich zugänglich gemacht." (Internet-Seite http://www.ub.uni-duisburg.de/afas/afas_hom.htm). Der Umfang des Archivs wird auf der Internet-Seite mit 500 Meter angegeben, dazu kommen noch 200 Meter unerschlossenes Material (Stand: 5. August 2002).
Für die neue Ausgabe des "Handbuchs deutschsprachiger Literaturzeitschriften" wurden die Daten durch eine Briefaktion und bibliographische Recherchen zusammengetragen. So mancher Titel wurde auch aus dem "elektronischen Ozean" gefischt. Erfasst wurden nur solche Zeitschriften, in denen regelmäßig literarische Texte veröffentlicht werden, literaturwissenschaftliche und rein essayistische Zeitschriften wurden ausgeschlossen. Die Zeitschriften sind alphabetisch geordnet. Zwei spezielle Register indizieren die aufgenommenen österreichischen und Schweizer Zeitschriften sowie die elektronischen Zeitschriften. In einer weiteren Liste sind die "Zeitschriften, über die wir gern mehr wüßten", zusammengestellt. Die Arbeit an dem Handbuch wird also fortgesetzt, eine aktualisierte Ausgabe ist in Aussicht gestellt.
Zumindest für die elektronischen Zeitschriften scheint zweifelhaft, ob diesem Medium mit einem gedruckten Verzeichnis überhaupt beizukommen ist. Vielleicht braucht man beides, eine Datenbank, etwa wie sie die Verlegerin Sandra Uschtrin betreibt (http://www.uschtrin.de/litzs.html), und ein regelmäßig neu erscheinendes Hand buch. Auch gedruckte Literaturzeitschriften sind mitunter sehr kurzlebig. "Das dünne Buch" beispielsweise, vor ein paar Jahren in Potsdam als Forum für moderne Literatur und Kunst etabliert, lebte nur drei Nummern lang, ist in keiner Bibliothek vorhanden, in keinem Verzeichnis zu finden, hat nirgends eine Spur hinterlassen. Dabei erschien es in einer Auflage von 10.000 Exemplaren. "Sehwind" hieß die letzte Nummer.
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