Es gibt auch einen Vater oder die Geschichte vom ungeliebten Ehemann
Urs Widmer hat nach dem "Geliebten der Mutter" jetzt "Das Buch des Vaters" entdeckt
Von Christian Schneider
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Auch ihr Mann war plötzlich tot, vor einem Alter eigentlich, in dem Männer sterben. Sie begrub ihn, nicht im Familiengrab. Ihr Vater hätte das nicht gewollt." Das war alles, was wir in Urs Widmers vor dreieinhalb Jahren erschienenem Buch "Der Geliebte der Mutter" über den Vater des Ich-Erzählers erfuhren. Dafür wurde wortreich die traurige Geschichte der unerwiderten Liebe seiner Mutter zum berühmten Dirigenten vor uns ausgebreitet.
Mit dem "Buch des Vaters" erzählt der Sohn die Geschichte nun aus einer anderen Perspektive. "Mein Vater war ein Kommunist. Er war nicht immer ein Kommunist gewesen, natürlich nicht, und er war, als er starb, keiner mehr." Schon mit diesen ersten Sätzen des Romans wird deutlich, wie sehr sich die Perspektive des Vaters von der der Mutter unterscheidet. War die Geschichte der Mutter durch und durch geprägt von der Intensität der persönlichen und privaten Beziehung zu ihrem in unerreichbare Ferne gerückten und verklärten Geliebten, so ist die Geschichte des Vaters sehr viel mehr mit der Zeit- und Kulturgeschichte verknüpft.
Der Vater wird Kommunist, nicht weil er ein besonders politischer Mensch ist, sondern weil er sich mit einer Gruppe von kommunistischen Malern anfreundet. Als kritischer Intellektueller in der Schweiz der zwanziger und dreißiger Jahre ist es nur natürlich, dass man sich in antifaschistischen und kommunistischen Kreisen bewegt. Die Liebe des Vaters gehört neben der Malerei und der Musik aber vor allem und zuallererst der Literatur. Er übersetzt neben seiner Lehrer-Tätigkeit mit Leidenschaft die geliebten Werke Diderots, Stendhals, de Costers und vieler anderer. Den größten Teil seiner Zeit verbringt er mit dem Studium seiner Bücher. Die Bedrohung durch das faschistische Deutschland und das Damoklesschwert einer Invasion Hitlers schweben dabei ständig über der Schweiz und dem Vater. Dem schweizerischen Gefühl des hilflosen Umzingeltseins von Hitler-Deutschland und Mussolinis Italien setzt er die Flucht in die literarische Arbeit entgegen.
An seinem zwölften Geburtstag durchläuft der Vater einen archaisch anmutenden dörflichen Initiationsritus, der ihn aus der Kindheit führen und nebenbei auch noch zu seinem ersten erotischen Erlebnis führen soll. Er muss sich ganz auf sich allein gestellt zu Fuß auf den Weg in das Heimatdorf seines Vaters aufmachen. Hier wird er in der Kirche von den Dorfbewohnern empfangen und in geheimnisvollen Riten in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen. Das Ganze endet in einem bacchantischen Gelage, an dessen Ende er seine Unschuld an die gleichaltrige Dorfschöne verliert, die ihm erst unmittelbar vor dem Tod als Mahnung an ein versäumtes Leben wieder begegnen wird. In diesem Dorf der Kindheit erhält er nicht nur einen Sarg, der ebenso wie die Särge aller anderen Dorfbewohner vor den Häusern aufbewahrt wird, bis er gebraucht wird. Er bekommt auch ein "weißes Buch", in das er jeden Tag sein Leben eintragen wird, und das erst nach seinem Tod von den Angehörigen gelesen werden darf, damit sie sich ein Bild davon machen können, wie der Verstorbene sein eigenes Leben erlebt hat.
Dieses Buch wird von seiner Frau nach seinem Tod mit allen anderen Papieren schnellstmöglich ungelesen entsorgt, so dass dem Sohn nichts bleibt, als das Buch des Vaters selbst zu schreiben. Das Leben der Eltern bleibt bis zum Schluss geprägt vom Unverständnis für die wahren Leidenschaften des anderen, so dass es nicht verwundert, dass die beiden Lebensgeschichten so unterschiedlich ausfallen. Die Rekonstruktion der Wirklichkeit bleibt somit aus der Perspektive des Sohns ein unverbindbares Nebeneinander zweier einander verbundener Leben.
Und welche Rolle spielt der Sohn, neben dieser Mutter, deren ganzes Sehnen bei ihrem Geliebten und diesem Vater, dessen uneingeschränkte Leidenschaft der Literatur gehört? Der Sohn bleibt in beiden Büchern erstaunlich still und unparteiisch. Er klagt nicht an. Vielmehr schlägt er einen versöhnlichen Ton an mit viel Verständnis für die Dramatik des versäumten Lebens seiner Eltern.
Urs Widmer hat keine Biografie über seinen Vater geschrieben, sondern bewusst biografische Elemente mit der Fiktion verwoben. Im Vergleich zur Intensität, die die Beschreibung der bedingungslosen, hilflosen und haltlosen Leidenschaft in "Der Geliebte der Mutter" entfaltet, wirkt der Roman über das Leben des Vaters vergleichsweise blass. Die wahre Dramatik des Geschehens erschließt sich beim "Buch des Vaters" nur vor dem Hintergrund des Mutter-Buches. Als "Eltern-Buch" gibt das Zusammenspiel der beiden Romane aber einen tiefen Einblick in die Seele aneinander vorbeiträumender Menschen.
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