Begegnung der 'jüdischen' mit der 'philosophischen' Lesart

Anmerkungen zur Neuausgabe der "Kleineren Schriften" Hermann Cohens

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Franz Rosenzweig bemerkte in seiner Besprechung von Hermann Cohens 1915 publizierter Schrift "Deutschtum und Judentum" treffend, diese Arbeit sei "von Anfang an in zwei Ursprüngen verankert" gewesen: "in einem wurzelhaften jüdischen Empfinden und breiten Wissen um jüdische Dinge einerseits, in einem starken Verhältnis zum deutschen Idealismus, das zu wirksamem Eingreifen in die philosophische Bewegung führte andrerseits". Darüber hinaus sei auch Cohen selbst, "obwohl sein Wirken zwei getrennte Schülerkreise erzeugt, einen 'jüdischen' und einen 'philosophischen' die voneinander nichts wissen" darum bemüht, "diese zwei Urkräfte seines Wesens als verbunden aufzuzeigen. Nicht zwar sie zu verbinden. Die Arbeit auf beiden Gebieten bleibt stets getrennt; zwischen 'unserer Kulturarbeit' und der 'Arbeit an unserem Judentum' besteht 'Arbeitsteilung'. Nur in der Persönlichkeit des Arbeiters wird diese Teilung überbrückt. Sachlich aber verbunden sind die beiden höchstens im Begriff, nicht in der Ausführung, die vielmehr selbst da wo eine Vereinheitlichung sich aufdrängen müßte - in der Religionsphilosophie - zwiegespalten bleibt: philosophische und jüdische 'Hälfte' des Gegenstandes, obwohl die wechselweise nur im Hinblick auf die andere bearbeitet, treten unter zwei getrennten Verlagsägiden an die Öffentlichkeit". Die entscheidende Aufgabe, so Rosenzweig weiter, bestehe nun darin, "zwei mindestens scheinbar getrennte historische Erscheinungen als 'im Grunde' zusammengehörig zu erweisen".

In der neuen Ausgabe der gemeinsam vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich mit dem Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam herausgegebenen neuen Ausgabe der "Kleineren Schriften" Hermann Cohens ist der Forderung Rosenzweigs dadurch Rechnung getragen worden, dass die über Jahrzehnte gepflegte künstliche Trennung zwischen den Texten des akademischen Kantianers, Begründers der "Marburger Schule" des Neukantianismus und philosophischen Systematikers Cohen einerseits und den Texten des jüdischen Religionsphilosophen und Publizisten Cohen andererseits rückgängig gemacht wurde. Die bisherige Aufteilung der Cohenschen Texte nach jüdischen und nichtjüdischen Themen widerspricht völlig, wie der Herausgeber der "Kleineren Schriften", Hartwig Wiedebach, mit Recht hervorhebt, dem Selbstverständnis und der faktischen Schreibarbeit des Philosophen Cohen, der gerade nicht in zwei Welten, der Welt der akademischen Philosophie des Idealismus und der Welt des deutschen Judentums, lebte, sondern im Bewusstsein seiner jüdischen Religiosität philosophierte und sich im Rahmen seines philosophischen Denkens zu jüdischen Zeitfragen äußerte. Diese den Texten Cohens eingeschriebene Einheit versucht die neue Gesamtausgabe mit ihrer chronologischen Anordnung umzusetzen. Darüber hinaus werden im Unterschied zu den drei Bänden "Jüdische Schriften", die Bruno Strauß 1924 veranstaltete, und den beiden, von Ernst Cassirer und Albert Görland 1928 herausgegebenen Bänden "Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte", die systematisch gegliedert und nicht vollständig sind, in der neuen Ausgabe alle kleineren Schriften chronologisch nach ihrem Erscheinungsdatum sortiert.

Der 1997 publizierte Band V enthält die von Cohen zwischen 1913 und 1915 verfassten und größtenteils auch publizierten Schriften und dokumentiert somit die erste Schaffensphase seiner Berliner Zeit, zu der er bereits emeritiert war. Seit Januar 1913 lehrte Cohen nach seinem Weggang aus Marburg an der Berliner Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums, in deren Kuratorium er 1904, nach dem Tod von Moritz Lazarus (1903), des wirkungsmächtigsten deutsch-jüdischen Popularphilosophen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eingetreten war. Seine Vorlesungen und Seminare widmeten sich griechischer Philosophie, Kant, Maimonides, den "Grundbegriffen der jüdischen Philosophie, den Psalmen usw. Franz Rosenzweig hat in dem Wechsel Cohens von Marburg nach Berlin eine "gewaltige Lebenswende" gesehen. Die Philipps-Universität habe Cohen trotz der ins Innerste seiner deutsch-jüdischen Persönlichkeit gehenden Kränkungen und Diffamierungen durch den grassierenden Antisemitismus im akademischen Feld jedoch nicht explizit aus solchen Gründen verlassen, sondern als der Professor, der in seinem Kampf um das systematische Eigenrecht der Philosophie schließlich den aktuellen Tendenzen unterlag. An der Berliner Lehranstalt habe Cohen aus seinem von "Hüllen und Hemmnissen" befreiten "Lebensmittelpunkt", seinem innersten Jude-Sein heraus, begonnen: ",Seinen Juden' wollte er dienen." Diese von Rosenzweig wahrgenommene intellektuelle Transformation vom Professor einer Philosophie des kritischen Idealismus zum Denker einer jüdischen Tradition, für den die über Jahre gepflegte jüdische Tradition nur noch "Hülle und Hemmnis" sei, geht jedoch entschieden zu weit. Die systematische Forschung hat, nach Wiedebach, "den Zweifel sehr verstärkt, ob Cohen mit seinem philosophischen System überhaupt jemals in jenem 'Zauberkreis' der Immanenz befangen war, den nach der Auffassung Rosenzweigs schließlich seine Altersphilosophie mit einem neuen Begriff der Korrelation überschritten habe". Stattdessen müsse die Frage, ob, und wenn ja, wie das Jüdische und das Philosophische an Cohen zu unterscheiden sind, von einem neuen Blick auf das Gesamtwerk ausgehen.

Gleichwohl kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass Cohens Publikationen in den Jahren ab 1913 vorwiegend jüdischen Themen galten, da er wie viele andere jüdische Intellektuelle spätestens seit der Jahrhundertwende von der Sorge getrieben wurde, den Juden könne es an Kraft und vor allem an ausreichend Wissen um ihre eigenen Quellen mangeln, um sich dem drohenden Verlust ihrer religiösen Tradition erfolgreich zu widersetzen. Damit rückt der Antisemitismus als latentes Problem in den Hintergrund, um zunehmend innerjüdischen Problemen Platz zu machen. Cohens wachsamem Blick entging nicht, dass vor allem zwei Gefahren zunahmen: ein allgemeiner Rückgang der jüdischen Gelehrsamkeit, wie er seit längerem in allen religiösen Richtungen des deutschen Judentums bemerkt wurde, sowie der zunehmende Einfluss des Zionismus, der zwar eine Antwort auf die Leiden der Juden unter den "Völkern der Welt" zu geben versuchte, aber eine solche, die Cohen prinzipiell ablehnte. Der Zerfaserung jüdischer Gelehrsamkeit suchte Cohen dadurch zu begegnen, indem er zwischen den traditionell-jüdischen Lehren, vor allem der Halacha, und den Lebensbedingungen der westeuropäischen Zivilisation eine Verbindung herstellte. Das "Heilverfahren, auf das ich dringe": "die Religionsphilosophie als unseren aktuellen Schwerpunkt" zu erklären, war Cohens mit Engagement Absicht und eine Aufgabe, der er seit seinen ersten Überlegungen zum Wesen des Judentums in der Jugend bis zu seinem Lebensende verbunden blieb.

Die ansichtig werdende negative Einstellung zum Zionismus steht in engem Zusammenhang mit Cohens Mystifikation des Deutschtums, die bereits Rosenzweig eingehender analysiert hat. Die Juden, die die "geistige Welt" ihres "nationale[n] Dasein[s]" ausschließlich in der Zerstreuung unter die "Völker der Welt" verwirklichen können, brauchen in den Augen Cohens ein Gegenüber, das der Idealität ihres Judentums adäquat ist und doch unmittelbar in der Sphäre politischer Macht wirkt: das Deutschtum des deutschen Volkes. Folgerichtig plante Cohen im Oktober 1914, wie er in einem Brief an Paul Natorp bemerkte, "eine Denkschrift [zu] schreiben: über die Bedeutung Deutschlands für die religiöse Entwicklung u. die Kulturarbeit der Juden des Abendlands. Sie soll Sympathie erwirken bei den Juden in Amerika, wenn sie hinkommt". Die Verknüpfung von "Deutschtum und Judentum" ermögliche die Verbindung des Wesens des kritisch idealistischen Philosophierens und der klassischen Kunstepoche der Goethezeit ("Deutschtum") mit dem tiefsten Quellen jüdischen Denkens in der Prophetie und in der Lyrik der Psalmen ("Judentum"). Nur im "unpolitischen" Zustand der Zerstreuung könne das jüdische Volk das Bewusstsein des Einzigen Gottes angemessen für die Menschheit bewahren. Von Seiten Deutschlands, einem der Staats-"Völker der Welt", sah Cohen in dem Kantisch-Goetheschen Deutschtum die idealtypische Antwort auf diese jüdische Mission. Obwohl die Schrift "Deutschtum und Judentum" durchaus zur "Professorenkriegsliteratur" gerechnet werden kann, war sie nach Rosenzweig "kein Erzeugnis der politischen Erregung des Augenblicks". Hartwig Wiedebach zufolge führten die innerjüdischen Konflikte und die Kriegsjahre in der Folge jedoch dazu, dass "eine geistige Disposition Cohens, die ihn als Juden und zugleich deutschen Professor der Philosophie von Anfang an geprägt hatte, unübersehbar und vielfach überzeichnet ans Licht gehoben wurde".

Der 2002 publizierte Band VI der "Kleineren Schriften" umfasst die Jahre 1916 bis zu Cohens Tod 1918 in Berlin und ist vor allem deshalb interessant, weil die in ihm versammelten Texte die bereits in den Schriften der Jahre 1913 bis 1915 zu beobachtende Tendenz, die Wissenschaft des Judentums im akademischen Diskurs zu stärken, aufgreifen und untermauern. Nachdem Cohen in früheren Jahren für einen von Rabbinat und Gemeinden unabhängigen Ausbau der jüdischen Lehranstalten eintrat, etwa in der 1904 veröffentlichten Schrift "Die Errichtung von Lehrstühlen für Ethik und Religionsphilosophie an den jüdisch-theologischen Lehranstalten", so unterstützte er in den letzten Lebensjahren noch die durch Rosenzweig propagierte Akademie für die Wissenschaft des Judentums (1918). Zahlreiche Artikel erschienen seit 1916 auch in den von Cohen mit herausgegebenen "Neuen Jüdischen Monatsheften". Durch die Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums war Cohen zudem seit 1904 mit der Abfassung einer Monographie zur "Ethik und Religionsphilosophie" betraut, die zwischen 1908 und 1910 erscheinen sollte. Cohens Buch entstand aber im Wesentlichen erst in den Jahren ab 1916, wovon auch die in Band VI der "Kleineren Schriften" publizierten Texte Zeugnis ablegen, und wurde erst 1919 posthum von einem kleineren Herausgeberkreis als achtes Werk des "Grundriss[es] der Gesamtwissenschaft des Judentums" unter dem Titel "Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums" veröffentlicht und gilt seither zu Recht als Hauptwerk der jüdischen Philosophie Cohens.

Mit der allen Ansprüchen mehr als genügenden Edition und großartigen Kommentierung der "Kleineren Schriften" Hermann Cohens wird dem in den letzten Jahrzehnten wiederholt formulierten lebhaften Interesse vieler Sozial- und Geisteswissenschaftler an den Aufsätzen, Nachrufen, Rezensionen und Zeitungsartikeln Cohens auf glänzende Weise entsprochen. Es bleibt zu hoffen, dass die fehlenden vier Bände auf einem ähnlich hohen Niveau gelingen und damit das grundlegende Fehl-Urteil über Hermann Cohens Philosophie endgültig beseitigt wird: die unsinnige Trennung in eine 'philosophische' und eine 'jüdische' Lektüre der Texte des ersten jüdischen Philosophieprofessors in Deutschland.

Titelbild

Hartwig Wiedebach (Hg.): Hermann Cohen´s Philosphy of Religion. International Conferene in Jerusalem 1996.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 1997.
294 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3487105098

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Hermann Cohen: Werke. Band 16: Kleinere Schriften V.
Herausgegeben im Auftrag des Hermann-Cohen-Archivs am Philosophischen Seminar der Universität Zürich und des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien von Helmut Holzhey, Julius H. Schoeps und Christoph Schulte.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 1997.
671 Seiten, 99,80 EUR.
ISBN-10: 3487105667

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Hermann Cohen: Werke. Band 17: Kleinere Schriften VI.
Herausgegeben im Auftrag des Hermann-Cohen-Archivs am Philosophischen Seminar der Universität Zürich und des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien von Helmut Holzhey, Julius H. Schoeps und Christoph Schulte.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2002.
766 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3487116863

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